Nur Narr! Nur Dichter!

Der Name Friedrich Nietzsches steht in erster Linie für den Philosophen. Als großer Zweifler, Provozierer, Prophet und radikaler Kritiker des Christentums wird er assoziiert. Aber Nietzsche war auch Philologe und Schriftsteller. Mag der Denker Nietzsche auch noch so umstritten sein, wenn man seine Werke liest, kommt man nicht umhin, den Stilisten zu bewundern. Der jüdische Journalist und Kritiker Leo Berg schrieb bereits 1889 über ihn: „Man mag einst über Nietzsche denken, was man will, über den Schriftsteller wird es bald keinen Zweifel geben. Er ist der größte Virtuose der deutschen Sprache.“ Auch Thomas Mann rühmte seinen Stil mit geradezu hymnischen Worten. Und Gottfried Benn hat in erster Linie den Sprachschöpfer Nietzsche bewundert und wiederholt betont, dass dieser in seinen Augen nach Luther das größte deutsche Sprachgenie sei. „Vor dem Werk Nietzsches“, schrieb Hans-Albrecht Koch in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 2. Oktober 1999, „erweist sich jeder Versuch, Philosophie und Dichtung zu unterscheiden, als unsinnig.“
Mit vierzehn Jahren schrieb er seine ersten Gedichte und verfasste kleine Kompositionen. Kurz vor seinem Zusammenbruch vollendete er 1888 einen Gedichtzyklus, die Dionysos-Dithyramben, in denen sich Bearbeitungen von Gedichten fanden, die schon 1885 zusammen mit seinem wohl bekanntesten Werk, dem „Zarathustra“, einer philosophischen Dichtung, veröffentlicht wurden. Sie offenbaren schonungslos das erschütternde Ausmaß des Leidens, dem Nietzsche am Ende seines Schaffens ausgesetzt war.
Unübersehbar ist gleichfalls die religiöse und religionsbezogene Herkunft der Sprache von Nietzsche, auch und gerade beim Zarathustra – eine Sprache der Mystik. So ist bis heute ungeklärt, ob die große Wirkung des Zarathustra auf die philosophische Lehre oder die sprachgewaltige Darstellung zurückgeht.
Des Weiteren liebte Nietzsche Zeit seines Lebens die Musik – erklärte gar ein Leben ohne Musik zu einem Irrtum. Schon in der frühen Jugend hatte er das Klavierspiel erlernt und sich darin recht gute Fertigkeiten angeeignet.
Der kleine Sinus-Verlag aus der Schweiz, der sich vor allem mit der Präsentation von historischen Orgeln einen Namen gemacht hat, lässt allerdings auch in Sachen „Weltliteratur in Buch und Hörbuch“ aufhorchen. Nun hat er ein weiteres Kleinod hinzugefügt. Auf zwei CD sind Werke der dichterischen Kunst Nietzsches zu finden. CD 1 enthält diverse Gedichte sowie Auszüge u. a. aus „Die fröhliche Wissenschaft“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Nietzsche contra Wagner“ oder „Lieder des Prinzen Vogelfrei“. Als Intermezzi zwischen den Texten fungieren Klavierstücke aus der Feder des Meisters. CD 2 wartet sodann mit Teilen des „Zarathustras“ und den Dionysos-Dithyramben auf.
Als Sprecher wurden Peter Matić und Chris Pichler verpflichtet, die einen wesentlichen Anteil zum literarisch-akustischen Gewinn dieser Produktion beitragen. Vor allem der Wiener Schauspieler Matić, der Ben Kingsley die deutsche Stimme verleiht und es als einer der wenigen schaffte, Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ komplett gelesen zu haben, wertet Nietzsches Texte noch um ein Weiteres auf. Seine ruhige, sonore Stimme mit dem charismatischen Timbre schafft Raum und Atmosphäre zugleich. Nietzsches Sprachzauberkunst und Matićs Interpretation bilden eine perfekte Symbiose, die den Zuhörer einfängt, fesselt und nicht mehr loslässt. Aber auch die eigenwillige, leicht verzögerte Artikulation der deutschen Schauspielerin Chris Pichler setzt wohltuende Nuancen. Vor allem die spürbare Fragilität ihrer Modulation lädt Nietzsches Sätze auf. Dadurch vermag sie, mehr als den bloßen Inhalt zu transportieren. Beiden Interpreten gelingt es wunderbar, das Gelesene in einen Genuss für Ohr und Gehirn zu verzaubern.
Komplettiert wird das großartige „Gesamtergebnis“ noch durch ein 154 Seiten starkes Booklet, das neben allen gesprochenen Texten, zusätzlich 52 Seiten Hintergrundwissen über den Dichter Friedrich Nietzsche und einen Text über dessen Stellung zur Musik offeriert.
In Nietzsches Werk dokumentiert sich die lebenslange Anstrengung, aus sich selber ein großes Individuum zu machen. Aber wie sagte er doch: „Es ist durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei… für mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugier wie von einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerspruch, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir…“. Das Wunderbare an ihm ist, „… dass man ihm beim Denken zusehen kann… Nietzsche bleibt lebendig, weil man ihm folgen kann auf einem Weg, der an kein Ende führt“, wie Rüdiger Safranski in einem Interview bekennt. Und: „Mit Nietzsche geht man auf Entdeckungsfahrt und blickt aus neuen Augen auf die Welt.“
Daher fällt es nicht schwer, eine „Menü-Empfehlung“ für diese Produktion zu geben, ganz mit den Worten des großen Denkers:

Einladung
Wagt’s mit meiner Kost, ihr Esser!
Morgen schmeckt sie euch schon besser
Und schon übermorgen gut!
Wollt ihr dann noch mehr, – so machen
Meine alten sieben Sachen
Mir zu sieben neuen Muth.

Friedrich Nietzsche. Gedichte – Dithyramben
Sprecher: Peter Matić und Chris Pichler
Sinus Verlag AG, Kilchberg (2011)
2 CD, ca. 157 Minuten
ISBN-10: 3905721902
ISBN-13: 978-3905721904

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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