Politik der Generation Ich

Düsseldorf, im Mai 2001. An einem lauen Frühsommerabend versammelt sich in einer Altbierkneipe in der Düsseldorfer Altstadt politische Prominenz. Die Leute scheinen guter Dinge, tragen sommerliche Hemden ohne Krawatte, den Pullover lässig über die Schulter gelegt, oder blumige Kleider. Die Kneipe ist rappelvoll, viele stehen draußen in der Fußgängerzone. Es ist der Abend vor dem FDP-Bundesparteitag, auf dem die Partei einen Generationswechsel vollziehen und den 39 Jahre alten Guido Westerwelle zu ihrem Vorsitzenden wählen wird. Beim Presseabend zeigen sich die Funktionäre gerne smart-casual. Es sind ebenso viele Journalisten wie FDP-Mitglieder gekommen; leitende Re­dakteure überregionaler Zeitungen, die sonst die Parteitage der kleinen FDP gerne aus der Ferne kommentieren, reisen an den Rhein, wollen Zeitzeuge sein. Es bewegt sich etwas in Deutschland, der Generationswechsel der Partei scheint auch der einer Republik zu werden. Der „Spiegel“ hat pünktlich zum Parteitag einen Titel über „Die Mächtigen von morgen“ auf den Markt gebracht. Vorgestellt wird die „Generation Guido“. Rot-Grün, so scheint es, wird nur Episode, nicht Epoche. Die Achtundsechziger, die 1998 nach dem langen Marsch endgültig in den Institutionen angekommen waren, kamen offenbar zu spät; die nächste Wachablösung steht scheinbar bevor. Einen Monat zuvor, im April 2001, hatte der Börsenboom seinen Höhepunkt erreicht. Dass die vergleichsweise leichten Verluste am neuen Markt einen Wendepunkt darstellten, war im Mai noch nicht zu erken­nen: eine kleine Delle, mehr nicht. Noch befand sich die Republik im Rausch, mittlere Angestellte eröffneten Depots, Schüler nahmen Kredite auf, um Aktien zu kaufen, und Analysten verkündeten das Ende des Gegensatzes von Kapital und Arbeit in der New Economy. Die Grenze zwischen selbstständiger und unselbstständiger Arbeit wurde für aufgelöst erklärt. Jeder Beschäftigte sei über Wertpapier- oder Optionenbesitz nun auch Unternehmer. Nicht die nächste Tarifrunde, sondern die Dividendenausschüttung war das entscheidende Datum des Jahres. Und die FDP erschien nicht nur als Partei des Shareholder-Value und der Internet-Generation, sondern verbreitete zudem noch gute Laune.

Wer Guido Westerwelle an diesem Abend in der Düsseldorfer Kneipe sucht, muss innerhalb der Menge nur Ausschau halten nach einer ständig umherwandernden Menschentraube: Er zieht stets umringt von vier, fünf Journalisten durch die Kneipe, begrüßt Freunde, wird von aufgedonnerten Damen mit Schmatzern bedacht, lacht viel, gibt sich ausgelassen. Seine Wahl zum Parteivorsitzenden ist nach dem Sturz Wolfgang Gerhardts ausgemachte Sache. Tatsächlich aber fühlt er sich auch an diesem Abend getrieben von Jürgen Möllemann. Er steht unter Strom; es ist die übliche Dosis. Später am Abend setzt er sich endlich, trinkt nun auch mal ein Bier und führt, immer noch umgeben von Journalisten, die Guido-Show auf. Was solle denn das Gerede von der Spaßpartei, das komme doch von Achtundsechzigern, die ihr eigenes Dasein immer schon moralisch überhöht hätten. Dann legt er los: Worum es denn in Woodstock gegangen sei? Saufen, kiffen, vögeln – das sei auch Spaßgesellschaft gewesen. Ein Journalist wirft ein: Die Musik damals sei besser gewesen. Stimmt, konzediert Westerwelle. Am nächsten Tag spricht er zu den Delegierten. Aus dem hessischen Limburg melden Agenturen, Außenminister Joschka Fischer habe auf einem Landesparteitag der Grünen vor der „FDP der Generation Guido“ gewarnt, die die Probleme des Landes bestimmt nicht lösen werde. Westerwelle ist es ein besonderes Anliegen, die Provokation zu erwidern. Die Generation Joschka habe doch stets die falschen Entscheidungen getroffen – ob sie nun gerade Polizisten verprügelte oder den Standort Deutschland ruinierte. Und so verkündet er in Düsseldorf das Ende der Vorherrschaft der Achtundsechziger. Westerwelle ist die Verkörperung des neoliberalen Zeitgeistes. Guido ist der Anti-Joschka.

In Düsseldorf berauscht sich die Partei an sich selbst: Unabhängigkeitsstrategie, Partei für das ganze Volk, „Projekt 18“ – nichts scheint unmöglich. Mit Möllemann liefert Westerwelle sich die Redeschlacht seines Lebens. Im richtigen Moment die richtigen Worte – dafür ist er bekannt. Alte Weggefährten, die zwanzig Jahre vor Düsseldorf mit ihm die Julis gegründet haben, erinnern sich an eine ähnliche Rede und an eine Kampfabstimmung, an deren Ende Westerwelle Vorsitzender der Jungen Liberalen wird. Nun ist er Bundesvorsitzender der Freien Demokratischen Partei. Noch wichtiger: Er ist nicht Vorsitzender neben oder unter einem Kanzlerkandidaten Möllemann: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt – und das bin ich“ – mit diesem Satz setzt er den Schlusspunkt in der Machtfrage. Es ist, wie sich bald zeigt, ein vorläufiger Schlusspunkt. Ein Jahr später stellt Möllemann mit dem, was als Antisemitismus-Streit in die Geschichte eingehen wird, abermals die Machtfrage. Westerwelle laviert zwischen Mitmachen und Ausbooten – und bei der Bundestagswahl im September 2002 wird er 100 Meter vor dem Ziel von Möllemann zum Stolpern gebracht. Wiederum ein Jahr später springt Möllemann in den Tod. In dieser Zeit steckt die Partei in ihrer schwersten Krise.

Guido Westerwelle übersteht diese und zieht sich nach einer Zeit des Rückzugs am eigenen Schopf aus dem Schlamassel. Heute ist er Oppositionsführer und sieht sich als Vizekanzler im Wartestand. Seine Partei, die er an einem streng marktwirtschaftlichen Kurs ausgerichtet hat, prä­sentiert sich als liberales Korrektiv zu den etatistischen Parteien linker und rechter Ausprägung. Seine reaktivierte Unabhängigkeitsstrategie liefert ihm mehrere Koalitionsoptionen. Er selbst hat die vergangenen Jahre für einen Crashkurs in Außenpolitik genutzt, hat die Hauptstädte der Welt bereist, hat sich in Debatten der internationalen Politik eingemischt und eine zuweilen sehr taktisch motivierte Abgrenzung zum außenpolitischen Kurs der großen Koalition gesucht. Er hat auf diese Weise kein Geheimnis daraus gemacht, dass es ihn ins Auswärtige Amt zieht, in den alten Erbhof der FDP, der eine Dekade lang okkupiert war von keinem anderen als seinem Antipoden Joschka Fischer – und von Frank-Walter Steinmeier, dem Zufallsprodukt einer Wahl, die doch eigentlich ganz anders verlaufen sollte. Da es 2002 und 2005 für Westerwelle nicht gereicht hat mit dem Ziel aller Politik – dem Regieren –, muss es 2009 reichen, sonst wird er sich wohl nach einem neuen Tätigkeitsfeld um­schauen müssen.

Die vorgezogene Bundestagswahl hatte zur Folge, dass die „Generation Guido“ längst mit an der Macht ist in Berlin, ob die Guidos nun Ronald Pofalla oder Sigmar Gabriel heißen. Die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren geborenen Kinder des bundesrepublikanischen Wohlstands regieren mit. Sie stellen den Typus des Modernisierers dar, der scheinbar ideologiefrei und pragmatisch das Land reformiert und alle Politik über ihre Außenwirkung definiert. Westerwelle musste mit ansehen, wie andere aus seiner Alterskohorte an ihm vorbeizogen – an ihm, der diese Generation prototypisch verkörpert. Nun bekommt er eine letzte Chance.

Hat ein Mann, der noch nicht das fünfzigste Lebensjahr erreicht hat, der noch nie ein Staatsamt innehatte, ein Mann, der Politik scheinbar nur als Spiel betrachtet, eine politische Biografie verdient? Westerwelle macht seit mehr als 25 Jahren Politik. Und obwohl er sich noch in keinem öffentlichen Amt bewähren musste, hat er doch oft Einfluss auf den Lauf der Dinge genommen – angefangen im Wendeherbst 1982 als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, als er Hans-Dietrich Genscher beim Koalitionswechsel zur Union unterstützte, indem er einen Teil der FDP-Jugend mobilisierte, bis hin zur im Jahr 2004 stattfindenden Nominierung Horst Köhlers als Kandidat für das Präsidialamt, die gemeinsam mit Angela Merkel erfolgte. Eine andere Frage mag lauten: Hat ein Mann eine Biografie verdient, der bislang das scheinbar langweilige Leben eines aalglatten Karrieristen geführt hat? Was ließe sich über einen solchen Mann sagen, außer, dass er immer schon nach oben wollte, dass der Zweck stets die Mittel heiligte, dass er stets die Nase nach dem Wind drehte? An diesem Zerrbild seiner selbst trägt Westerwelle gewiss eine Mitschuld. Doch wird ihm auch häufig schlicht der Spiegel seiner Generation vorgehalten. Sein Image-Problem ist das einer ganzen Alterskohorte: Der Politikergeneration, die Guido Westerwelle verkörpert, fehlt jede historische Aufladung ihrer Politik. Sie sind nicht geplagt oder gesegnet mit biografischen Brüchen. In dieser Generation gibt es keine Kriegs- oder Wiederaufbau-Erlebnisse, keine Heldengeschichten von 1968. Politik dient der Selbstverwirklichung. Das allein freilich unterscheidet sie nicht von ihren Antipoden, die ihre wahre Antriebskraft stets hinter der großen Sache, der Gesellschaftsveränderung, versteckt haben. Ihre scheinbar brave Angepasstheit, ihre oftmals zur Schau gestellte Bürgerlichkeit, ihren geradezu lustvollen Materialismus haben sie in den siebziger und achtziger Jahren in Abwehr des linken, zukunftsskeptischen, postmaterialistischen Zeitgeistes entwickelt. Den Mangel an einem Lebensthema kompensieren sie mit allerlei öffentlich zur Schau gestellter Selbstbeobachtung. Damit unterstreichen sie noch ihr Bild von der Selbstbezogenheit. Keiner ist darin so gut wie Westerwelle. Er ist die Ikone der Generation Ich.

Wie zur ständigen Selbstrechtfertigung arbeitet Westerwelle sich an den Achtundsechzigern ab. Als er 1996 in den Bundestag nachrückt, kommt es zum Aufeinandertreffen mit seinem Antagonisten: Joschka Fischer, der seinerzeit heimliche Oppositionsführer führt im Plenum die ermüdete christlich-liberale Koalition ein ums andere Mal vor – in der ihm eigenen Selbstgerechtigkeit. Im gleichen Jahr lädt der „Spiegel“ beide zu einem Streitgespräch. Der Moderator sucht die Provokation, karikiert Westerwelle als wohlfrisierten Aktenkofferträger, der über APO-Opas lästere. Westerwelle erwidert ganz liberal: „Andere haben Lust auf zerfetzte Jeans und Jesuslatschen, ich nicht. Erlaubt ist, was gefällt und keinem Dritten schadet.“ Fischer provoziert Westerwelle mit einer eindeutigen Anspielung: „Es ist sicher gut, dass es keinen rigiden Moralkodex mehr gibt – eine große Leistung der achtundsechziger Generation. Seither ist eine Vielfalt der Lebensstile möglich. Erfreulicherweise wissen das mittlerweile auch Konservative zu schätzen.“ Westerwelle übergeht die Anspielung und erwidert nur den zweiten Teil der Provokation, den Alleinvertretungsanspruch der Linken auf gesellschaftspolitischen Fortschritt: „Inzwischen aber wächst eine postgrüne Generation an den Schulen und an den Universitäten heran, für die Leistungsbereitschaft nichts Negatives ist. Sie, Herr Fischer, stehen für einen bestimmten Zeitabschnitt der deutschen Politik. Der ist inzwischen Vergangenheit.“

Fischer ist erst zehn Jahre später Vergangenheit. Und zu Westerwelles Vergangenheit gehören durchaus auch zerfetzte Jeans. Bevor er der pfiffige Jungliberale wird, ist Westerwelle ein mitunter aufsässiger Schüler, der grüne Parkas und lange Haare trägt und sich seine Zigaretten selbst dreht. Ein Teil seiner späteren Aggression gegen die Achtundsechziger stammt daher, dass deren kulturelle Dominanz eine Zeit lang, sicher noch auf sehr unpolitische Weise, auch auf den Heranwachsenden gewirkt hat. Dass er später Exponent einer Bewegung gegen die „No future“-Mentalität wird, ist auch eine Folge der Ablehnung, die er im Umgang mit arroganten, linken Bürgerkindern im Bonn der späten siebziger Jahre erfährt. Zu der Zeit, da sich die Julis formieren und als Polit-Popper durchs Land ziehen, ist Westerwelle noch nicht der gescheitelte Yuppie, sondern ein zuweilen schriller Einzelkämpfer, der hungrig ist und auf der Suche. Trotzig wird er Wortführer des Gegendiskurses zum linken Mainstream und setzt auf Optimismus, der dieser Strömung freilich als Kapitulation vor den gegenwärtigen Verhältnissen gilt. Und trotzig erträgt er das Image, das jenen zuteil wird, die sich der alternativen Konformität widersetzen.

Bis ins Jahr 2004 macht er seine Homosexualität nicht zu einem öffent­lichen Thema. Da Medien und Politik davon wissen, aber allenfalls kodiert darüber sprechen und schreiben, dient seine sexuelle Neigung vielen als Steinbruch für trivialpsychologische Deutungsversuche des Menschen Westerwelle. In kaum einem Porträt wird nicht ein mangelndes seelisches Gleichgewicht, eine ständige Suche nach einer Rolle, eine künstlich wirkende Persönlichkeit diagnostiziert. Das besondere Merkmal wird dabei zur Projektionsfläche für alles und jedes – mitunter auch für die Kleingeistigkeit des Betrachters. Das öffentliche Bild Westerwelles kennzeichnet etwas, das in dem Streitgespräch mit Fischer deutlich wird: Ein Teil der linksliberalen Öffentlichkeit kann diesem „oberflächlichen Yuppie“ nicht verzeihen, dass er ihre Denkmäler einzureißen versucht, dass er, der lange Zeit heimliche Homosexuelle, mit Toleranz und Minderheitenschutz Rechte einfordere, die er doch eben jener politi­schen Kraft zu verdanken habe, die er nun so erbarmungslos bekämpft. Die Geschichte Guido Westerwelles und der Öffentlichkeit ist auch eine Geschichte enttäuschter Erwartungen. Immer wieder werden schulterklopfende Aufmunterungen an ihn gerichtet, er möge doch endlich die Maske des kühlen Technikers der Macht ablegen und „er selbst sein“ und „einfach leben“. Bisweilen kommt er diesen Aufforderungen nach, lädt zu Homestorys ein und macht die Sache so nur noch schlimmer. Es treibt ihn, geliebt zu werden.

Sein stilles Coming-out verändert ihn. Auf viele wirkt er seither ausgeglichener, ruhiger. Doch es ist keine völlige Befreiung. Westerwelle ist weiterhin auf der Hut. Dieses Grundmisstrauen wurde oft mit seiner lange nicht offen gelebten Homosexualität erklärt. Es basiert aber mindestens so sehr auf der Erfahrung früher Niederlagen und auf Selbstzweifeln eines Menschen, der stets der Jüngste in seinem Wirkungsfeld war. Westerwelle sagt sich ständig, er dürfe keine Fehler machen. Das macht ihn bisweilen zu einem ängstlichen Menschen, aber auch zu einem vollendeten Taktiker. Eine Zeit lang – im Jahr 2002 – verliert er bei diesem Taktieren derart an Schärfe, dass er wie seine eigene Karikatur erscheint. Majid Sattar will mit seinem Buch aus der Karikatur wieder ein scharfes Bild machen.

Majid Sattar, „…und das bin ich“, Guido Westerwelle, Eine politische Biografie, München 2009, ISBN: 978-3-7892-8303-1.

Majid Sattars Buch ist im Olzog-Verlag GmbH, München 2009 erschienen. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages, dessen Angebote Sie im Internet unter: http://www.olzog.de finden.

Über Sattar Majid 1 Artikel
Dr. Majid Sattar studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Saarbrücken. Mitte 2004 Eintritt in die politische Redaktion der F.A.Z., wo er sich um die Bundespolitik kümmert.

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