Sanderling oder: Vor und zurück

Wer schon einmal als Strandspaziergänger im Wattenmeer Deutschland oder der Niederlande den an ein aufgezogenes Spielzeug erinnernden kleinen weiß-grau-braunen Watvogel beobachten konnte, bleibt fasziniert stehen und schaut dem kleinen Gesellen ausdauern zu. Wie auf Rädern läuft der etwa 18 cm große Sanderling auf der Suche nach Nahrung (Kleintiere, die von den auflaufenden Wasser mitgebracht werden) vor den zurücklaufenden Wellen her, immer bestrebt, dem Nass auszuweichen.

Sanderling, so nennt auch Anne Weber in ihrem Zeitreisetagebuch ihren Urgroßvater Florens Christian Rang, der exakt 100 Jahre vor ihr, im Jahre 1863 geboren wurde und dessen unveröffentlichtes, nie vollendetes und nur in Fragmenten überliefertes Hauptwerk den Ausschlag gab, sich näher mit ihrem Urahn zu beschäftigen. „Abrechnung mit Gott“ sollte dessen Titel sein und hauptsächlich eine umfassende Geschichte und Kritik des Christentums und den Entwurf einer zukünftigen Religion enthalten. Ein Buch, das dessen „eigenen Glaubensweg oder vielmehr dessen Glaubensirrwege illustriert oder untermauert“.

Wo lag die Ursache, dass dieser Mann, der mit Walter Benjamin, Martin Buber oder Hugo von Hofmannsthal verkehrte und „unter Griechen und Römern, zwischen Shakespeare, Goethe und Dante zu Hause war“, innerlich so zerrissen war? Allein dieser nahezu größenwahnsinnige Titel zieht die Autorin, die seit ihrem achtzehnten Lebensjahr in Frankreich lebt, mehr und mehr in einen Strudel vielfältigster geschichtlicher Ereignisse hinein. Der imaginäre, weite und mit Worten gepflasterte Weg zu ihrem Urgroßvater hin, selbst wenn er nur gedanklich ist, gestaltet sich für Anne Weber, analog dem kleinen Strandvogel, als ein ständiges Vor- und Rückwärtsbewegen, mit vielen Umwegen und Abzweigungen.

„Will ich nun, ausgerüstet mit allerlei Kenntnissen über die Umstände dieses besonderen Lebens, über seine Zeit insgesamt und einige der geistigen Strömungen und Haltungen, di in ihr anzutreffen waren, mich aufmachen, um wenigstens in Gedanken jene weite Wegstrecke zu durchlaufen, so kann ich, scheint mir, das Binde- und Trennungsglied nicht einfach überspringen, indem ich so tue, als gäbe es kein Dazwischen; als wäre ich etwa nicht die Urenkelin, sondern die Tochter jenes Mannes.“

Dieses Binde- und Trennungsglied sind zwei Weltkriege, in denen z. B. Anne Webers Großvater eine mehr als unrühmliche Rolle spielte. Das „Riesengebirge“, das sich vor der Autorin immer wieder auftürmt, hält sie dennoch nicht ab, sich der Fülle von Papieren, Plätzen und Begegnungen zu stellen und sich einen Weg durch das „Dickicht der Zeit“ zu schlagen, um dem Geheimnis „Sanderlings“ auf die Spur zu kommen. Dabei stellt sich ihr nicht nur einmal die Frage, was es eigentlich heißt, Deutsche zu sein. Auf ihrem „Vorwärtstasten, das seinen Intuitionen folgt“, auf ihrem Hin- und Herbewegen auf ihrem Zeitweg, „eingehüllt in ein Gewirr feiner Fäden, über die alles miteinander verbunden scheint, ohne dass eines unmittelbar des anderen Ursache wäre“, wird sie mehr als einmal mit der unrühmlichen deutschen Vergangenheit konfrontiert.

Erfrischend intelligent, immer die damaligen Umstände, Strömungen und Gegebenheiten betrachtend, nicht einseitig, sondern allumfassend, ist Anne Weber ein großartiges „Gedankenreisetagebuch“ gelungen. Folgende Worte der Autorin, zwar auf ein anderes Buch gemünzt, treffen den Duktus ihrer Zeilen perfekt: „Es ist etwas Merkwürdiges mit dem Bücherlesen. Meist gleitet der Lesende auf der Oberfläche der Worte dahin und kann oder will nur vorwärts, nicht in die Tiefe gelangen. Es gibt jedoch Bücher oder bestimmte Passagen, die dem Lesenden das Davoneilen erschweren, die ihn festhalten. Ein solches Buch ist dieses.“

Fazit: Auch wenn es auf die heutigen Fragen keine damaligen Antworten gibt, so entpuppt sich Anne Webers Zeitreisetagebuch als ein hochintelligentes, aber dennoch gut zu lesendes Gedankenbuch zur deutschen und auch europäischen Geschichte der letzten 100 Jahre im Allgemeinen und der ihrer ganz ureigenen Familie im Besonderen. Ein Buch, in welchem sich die Autorin immer wieder die durchdringenden Fragen stellt, was Herkunft, Heimat und „Deutschsein“ eigentlich bedeuten. Ein unbedingt lesenswerter Text!

Anne Weber
Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch
S. Fischer Verlag (2015)
272 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100022475
ISBN-13: 978-3100022479
Preis: 19,99 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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