Schließt euchan, denn: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Anmerkungen zu Zitaten, Begrifflichkeiten, Rhetorik und Propaganda in den Tagen der Revolution von 1989

  „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ – so lautete die vom DDR-Verteidigungsminister am 5. Oktober 1989 für Leipzig ausgegebene Alarmstufe. An die Soldaten der Nationalen Volksarmee wurden Maschinenpistolen und scharfe Munition ausgegeben. In Dresden stürmen an diesem Tag Tausende von Menschen den Bahnhof. Mit Tränengas und Wasserwerfern geht die Polizei gegen die Menschen vor, die sich die Freiheit erkämpfen wollen – so wie es einige Tausend ihrer Mitbürger bereits getan hatten und die zum selben Zeitpunkt mit Zügen aus Prag und aus Warschau über Dresden auf dem Weg nach Westdeutschland unterwegs sind und dabei durch die DDR rollen. Wenige Tage vor den sich zu dieser Zeit täglich dramatisierenden Ereignissen hatte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in der überfüllten deutschen Botschaft in Prag zu den rund 4000 ostdeutschen Flüchtlingen seinen legendären unvollendeten Satz gesprochen: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Wer die Geschehnisse damals verfolgt hat, wird sich wohl zeitlebens mit einer Gänsehaut an diese so einzigartige Atmosphäre in den Tagen der deutschen Revolution von 1989 erinnern. Neben den Ereignissen selbst und den vielen Bildern sind es aber auch bestimmte Zitate, Äußerungen, Begrifflichkeiten und propagandistische Rhetorik, die in Erinnerung bleiben und so treffend die Dramatik sowie schließlich die überragende historische Bedeutung dieser Tage deutscher Zeitgeschichte illustrieren.
Gleichwohl wurde der erste berühmte Satz schon lange vor 1989 gesprochen, muss aber doch in diesen historischen Kontext eingeordnet werden. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, versicherte der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 bei einer internationalen Pressekonferenz auf die Frage nach der möglichen Errichtung einer baulich erkennbaren Staatsgrenze zwischen Ost- und West-Berlin. Ulbricht war damit der erste, der in diesem Zusammenhang den Begriff Mauer verwandte. Zwei Monate später, am 13. August, begann bekanntlich der Bau der propagandistisch auch als „befestigte Staatsgrenze“ – auch dies ein Beispiel für bemerkenswerte Vokabeln aus der deutsch-deutschen Geschichte – bezeichneten Mauer. Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker versicherte noch am 19. Januar 1989: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen.“
Nur wenige Monate später bekam die Mauer ihre ersten Risse. Schließlich rüttelten seit dem 4. September 1989 immer mehr Menschen – anfangs noch zaghaft in Plauen und Leipzig, dann immer lautstarker mit der Parole „Wir sind das Volk“ am „antifaschistischen Schutzwall“, wie das Monument der Teilung im offiziellen DDR-Jargon auch bezeichnet wurde. Eine kleine, aber in ihrer inhaltlichen Bedeutung fulminante verbale Veränderung wurde nach dem Jahreswechsel 1989/90 dann die Forderung der Bürger, als feststand, dass die Mauer mit friedlichen Mitteln zum Einsturz gebracht worden war: „Wir sind ein Volk!“
Dabei hatte doch der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow die DDR-Oberen so eindringlich mit dem Satz gewarnt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Der längst zum geflügelten Wort avancierte Ausspruch ist allerdings öffentlich wohl so nie gesagt worden. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, lautete der entscheidende Satz seiner in Russisch gehaltenen Rede vor einer Menschenmenge in Ost-Berlin: „Schwierigkeiten lauern auf den, der nicht auf das Leben reagiert.“ Zwar formulierte dies sein Sprecher Gennadi Gerassimow später gegenüber Journalisten in eigenwilligem Englisch mit den Worten um „Those who were late will be punished by life itself“. Letztlich war es aber wohl doch Gorbatschow, der, wie er in seinen Memoiren berichtet, in diesen Tagen in einem vertraulichen Gespräch mit Erich Honecker selbst seine Aussagen zu dem mittlerweile berühmten Bonmot zusammengefasst hat, um eine kleine Nuance bereichert: „Wer in der Politik zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Eine widersprüchliche, ja eigentlich pervers zu nennende Szenerie! Während die SED-Oberen mit viel Politprominenz aus den Staaten des Warschauer Pakts den Tag der DDR-Staatsgründung im „Palazzo prozzo“ oder „Erichs Lampenladen“ feierten, wie der Ost-Berliner „Palast der Republik“ im Volksmund auch spöttisch genannt wurde, gingen auf dem Alexanderplatz sowie in vielen Städten und Orten Ostdeutschlands die Menschen längst auf die Straße oder protestierten höchst hintergründig. So kamen etwa in Ost-Berlin am 7. Oktober illegal gedruckte Scheine eines „Geburtstagsgeldes“ mit der Aufschrift „Vierzig Quark der Deutschen Desinfizierten Republik“ in Umlauf – versehen mit dem Hinweis: „Hierfür bekommt man nichts. Für die anderen aber auch nichts.“
In Greifswald beispielsweise, eine der ersten Städte im Nordosten Deutschlands, in der Menschenihrem Wunsch nach Freiheits- und Bürgerrechten lautstark Ausdruck verliehen, mögen es anfangs nur einige Hundert Menschen auf den Straßen der ehrwürdigen Universitätsstadt gewesen sein. Nach dem Friedensgebet im Dom sammelten sie sich im trüben Licht der Straßenlaternen und zogen durch die grauen Straßen, während sich in den Fensterrahmen die Konturen von Personen abzeichneten, von denen man nicht wusste, ob sie Sympathisanten und Unterstützer oder Angehörige der staatstragenden Organe wie Nationaler Volksarmee, Volkspolizei und Staatssicherheit waren. „Schließt euch an“, skandierten damals die vorpommerschen Demonstranten und klatschten dazu rhythmisch in die Hände. Nein, „Vorwärts zum 40. Jahrestag der DDR“, wie es auf einem Propagandaplakat am Wegesrand hieß, zogen diese mutigen Menschen sicher nicht. Und auch der Botschaft eine Tafel weiter wird wohl keiner dieser Demonstranten sein Vertrauen geschenkt haben: „Was wir erreicht haben kann sich sehen lassen. Wir leben in einem Staat, in dem es kontinuierlich vorangeht, jeder eine Perspektive besitzt, in dem Bürgerwohl obenan steht.“
Es klingt sarkastisch, doch in einem hatte Erich Honecker wirklich recht, wenn sein aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entnommener Ausspruch vom 14. August 1989 im wortwörtlichen Sinne gelesen wird: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Denn natürlich waren es nicht Ochs und Esel, die in die bundesdeutschen Botschaften geflohen waren oder nun auf die Straßen gingen. Immer mehr Menschen waren es, die sich in diesen Oktobertagen den Demonstrationen anschlossen und politische Mitsprache und Bürgerrechte und Reisefreiheit forderten. Was sie am Ende erreicht haben, kann sich wirklich sehen lassen und fand Eingang in die Geschichtsbücher, war aber sicher nicht das, was die staatliche Propaganda damals flächendeckend mit ihrem Jubiläumslogo kommunizierte. Das zeigte eine ,40', von einem satten sozialistischem Rot unterlegten nach oben gerichteten Pfeil eingefasst. Das Wappen der DDR füllte dabei den Freiraum der ,0' aus, „Bilanz positiv“ lautete der dazugehörige Slogan.
Viele Kirchen wie der Greifswalder Dom oder die Nikolaikirche in Leipzig wurden mit ihren Friedensgebeten Ausgangspunkte oder Horte der revolutionären Bewegung. Zahlreiche Geistliche wie der als „Revolutionspfarrer“ titulierte und schon zu DDR-Zeiten als unbestechlicher Oppositioneller bekannte evangelische Theologe Joachim Gauck trugen dazu bei, dass sich das Wunder der Wende ohne Blutvergießen vollzog. „Meine Arbeit steht voll in der Kontinuität der revolutionären Bewegung“, lautet ein bemerkenswertes Zitat des späteren „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ und heutigen Vorsitzenden des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“.
Als SED-Politbüromitglied Günter Schabowski schließlich am 9. November bei seiner legendären Pressekonferenz auf die Frage nach dem Beginn der neuen Reisebestimmungen und der Erteilung von Visa zur sogenannten „Ständigen Ausreise“ stammelte „Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich“, gab es kein Halten mehr, die Mauer war durchbrochen. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, rief der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt am 10. November 1989 vom Balkon des Rathauses im Berliner Stadtteil Schöneberg den etwa 30 000 Menschen aus Ost und West zu. Einen Tag später klammerte sich der wankende Stasi-Minister Erich Mielke in der Volkskammer hilflos an die entschwindende Macht: „Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen. Ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein.“ Die Reaktion des Auditoriums in dieser denkwürdigen Sitzung, zu DDR-Zeiten schier undenkbar: Der einstmals so gefürchtete und verhasste Stasi-Minister wurde von vielen Abgeordneten ausgelacht.

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Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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