Schreiben, um zu überleben.- Patrick Modiano und seine Rettung durch Kreativität.

„Das Schreiben ist eine Droge, die ich brauche, um nicht unterzugehen.“

„Beim Schreiben finde ich meine wahre Stimme.“

Patrick Modiano im Jahre 2014 in einem Interview mit Iris Radisch (Die Zeit vom 10.12.2014)

Patrick Modiano, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2014, hatte eine lieblose und kalte Kindheit, aus der er als geschädigtes Wesen hervorging. In seinen autobiographischen Romanen „Ein Stammbaum“ und Familienstammbuch“ betont er mehrmals, dass seine Kindheit und Jugend „die leeren Jahre“ seines Lebens gewesen seien. Es waren Zeiten der Enttäuschung, der Trauer, der Lieblosigkeit, der Einsamkeit und der Entwurzelung. Er fühlte sich ungeliebt und unerwünscht. Seine Eltern versuchten immer wieder, ihn los zu werden. Zuerst kam er zu den Großeltern oder Pflegefamilien. Später folgte ein Internatsaufenthalt dem nächsten. Viele Orte, viele Enttäuschungen, keine Heimat, keine Liebe. Im Interview mit Iris Radisch bezeichnete er seine Zeit zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr als die Zeit des „ungelebten Lebens“.
Nach dieser überschatteten Kindheit und Jugend gab es einige Wendepunkte und positive Ereignisse, die zu einer Wandlung in seinem Leben führten. Mit seiner Volljährigkeit im 21. Lebensjahr kam es zum endgültigen Bruch mit seinem Vater, der wohl wie ein Befreiungsschlag wirkte. Durch wiederholte Begegnungen mit dem Schriftsteller Raymond Queneau fand er einen Mentor und Förderer. Später sollte er sogar sein Trauzeuge werden. Queneau war es auch, der ihn zum Schreiben ermunterte. Durch seine Tätigkeit beim renommierten Verlag Gallimard konnte er die Publikation des ersten Romans von Modiano wesentlich fördern. Das Roman-Debüt mit dem Titel „Place de l’Etoile“ wurde schnell zu einem Erfolgsroman. Damit war offensichtlich in der früher tristen Lebensentwicklung Modianos ein Bann gebrochen: nun kamen bessere Zeiten, es ging stetig aufwärts. Mit dem ersten schriftstellerischen Erfolg wuchs auch das Netz der sozialen Beziehungen, Modiano lebte auf. Im 25. Lebensjahr lernte er die Schriftstellerin Dominique Zehrfuss kennen und heiratete diese bald danach. Zwei Töchter gingen aus dieser Ehe hervor und auch heute noch lebt das Ehepaar zusammen.
Nach dem Erfolgsroman „Place de l‘ Etoile“ kam eine kreative Phase des Schriftstellers Modiano: Ein Roman folgte dem anderen – alle ein bis zwei Jahre gelang ihm ein neuer Roman. Sein kontinuierliches und zuverlässiges Schaffen führte mittlerweile zu einem Gesamtwerk von fast dreißig Romanen. Mit der Charakterisierung seiner Schreibaktivität als Droge unterstreicht Modiano selbst den stimulierenden Effekt, aber auch die Abhängigkeit von dieser Aktivität und dem damit verbundenen Erfolg. Im Jahr 1978 erhielt er für den Roman „Die Gasse der dunklen Läden“ den Prix Goncourt, den begehrtesten französischen Literaturpreis. Mit dem Literaturnobelpreis im Jahre 2014 vollzog sich die letzte Krönung. Nun gehört ihm auch der höchste Literaturpreis, der einem Schriftsteller verliehen werden kann.
In seinem autobiographischen Roman „Ein Stammbaum“ (frz. Un Pedigree 2005), der 2007 im Hanser-Verlag erschienen ist, beschreibt Modiano seine Biographie von der Geburt an bis zur Volljährigkeit. Der endgültige Bruch mit dem Vater im 21. Lebensjahr bildet den Schlussakkord dieses Romans.
Ins offene Meer ist er hinausgefahren, mit großer Sehnsucht und der Suche nach neuen Ufern. Die fortwährend brüchige Beziehung zum Vater („morscher Anlegesteg“) sollte ihn nicht mehr hindern. Den Ursprung seiner lieblosen und verlorenen Kindheit ohne Geborgenheit und Heimat beschreibt Modiano in „Ein Stammbaum“ wie folgt: Seine Eltern waren selbst haltlose, suchende und entwurzelte Menschen. Sie lernten sich in Paris in der Zeit der Nazi-Besatzung kennen. Modiano wurde kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, hat also den Holocaust selbst nicht erlebt. Seine frühe Kindheit jedoch war durch die Folgen der Nazi-Besatzung geprägt. Viele seiner Romane spielen in dieser Zeit. Die Judenfrage und der Holocaust sind häufige Romanthemen. Sein Vater war jüdischer Kaufmann italienischer Herkunft. Während der deutschen Okkupationszeit lebte er in Paris von Schwarzmarktgeschäften. Er hatte wechselnde Identitäten und hatte eine dubiose Kollaboration mit den Nazi-Besatzern. Er wurde mehrmals verhaftet und konnte fliehen. Die Mutter Modianos war eine flämische Schauspielerin. Sie tanzte vor deutschen Soldaten und Propaganda-Staffeln und wollte ebenfalls von den Nazis profitieren. Ihr Traum von einer Filmkarriere sollte sich jedoch nicht erfüllen. Sie tingelte dann jahrelang von einem Provinztheater zum anderen, um sich mit niedrigen Gagen über Wasser zu halten. Die Eltern trennten sich schon nach wenigen Jahren und hatten beide wechselnde Partner. Bemerkenswerterweise wohnten sie weiterhin im gleichen Haus in Paris, jedoch in verschiedenen Stockwerken. Die wichtigste Bezugsperson für Patrick Modiano war sein Bruder Rudy, der allerdings bereits mit zehn Jahren an Leukämie starb. Der Verlust seines geliebten Bruders hat ihn besonders schwer getroffen, mehr als die Enttäuschungen seiner Eltern, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Fast alle Romane seiner ersten Schaffensperiode hat er seinem Bruder Rudy gewidmet. Die Loslösung vom immer wieder enttäuschenden Vater kommentiert er mit den zwei letzten Sätzen seines Romans: „Ich war in See gestochen, bevor der morsche Anlegesteg zusammenbrach. Es war höchste Zeit.“
Im Blick auf die gesamte Lebensentwicklung Patrick Modianos drängt sich der Eindruck auf, dass nach einer unglücklichen Kindheit und Jugend schließlich mit Beginn der schriftstellerischen Aktivität eine positive Wende in sein Leben kam. Glücklicherweise war sein Erstlingswerk „Place de l’Etoile“ von Erfolg gekrönt. Von da an wurde das Schreiben zum wesentlichen Lebensinhalt. War es am Anfang ein existenzieller Rettungsanker, so wurde es zunehmend die Basis für Selbstwert und Selbstverwirklichung. Seine Entwicklung erinnert stark an die Biographie von Albert Camus, dem im Jahre 1957 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Auch Camus hatte eine ärmliche und lieblose Kindheit. Sein Vater ist in seinem ersten Lebensjahr im Krieg gefallen. Die Mutter war Analphabetin und weitgehend hilflos. Seine strenge und hartherzige Großmutter hat ihn mit Reitpeitsche und Ochsenziemer brutal gezüchtigt. Albert Camus war sich lange selbst überlassen. Eine Wende kam erst in der Jugendzeit, als sein Lehrer Louis Germain ihn förderte. Camus hatte also ebenfalls in jungen Jahren einen Förderer, einen Mentor und einen guten Ersatz-Vater. In seinem Lebenslauf ging es bergauf, als er Schriftsteller wurde. Bei ihm folgten nach den ersten Erfolgen ebenfalls zahlreiche Bestseller in kurzer Zeit. Die Biographien der beiden Literaturnobelpreisträger Albert Camus und Patrick Modiano legen nahe, dass selbst bei schwieriger, belasteter und unglücklicher Kindheit und Jugend der kreative Akt des Schreibens zur Selbststabilisierung und Selbstverwirklichung führen kann. Vielleicht ist „frühe Leid“ (Thomas Mann) ein zentraler Impuls für das dichterische Schaffen. Dass schöpferische Dichtung der permanenten Leiderfahrung entspringt, glaubte bereits ihr berühmter Landsmann Balzac: „Wer Dichtung sagt, sagt Leid.“ Und der englische Dichter Joseph Conrad fasste denselben Zusammenhang mit den Worten zusammen: „Dichten heißt, im Scheitern das Sein erfahren.“

Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. H. Csef
Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Zentrum für Innere Medizin
Medizinische Klinik und Poliklinik II
Oberdürrbacher Straße 6
97080 Würzburg
E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.

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