Shanghai – mehr als ein Konzert vom Orchester Jakobsplatz München in der Reithalle

Als letzte Veranstaltung der Jüdischen Kulturtage 2015 präsentierte die Gesellschaft zur Förderung Jüdischer Kultur und Tradition ein ambitioniertes Projekt, mit dem das Orchester Jakobsplatz München (OJM) ein bisher wenig bekanntes Kapitel des jüdischen Exils während der NS-Zeit beleuchtet. Die Idee von Shanghai – Mehr als ein Konzert – entspringt der Philosophie des vor zehn Jahren gegründeten Orchesters mit Musikern aus 20 Ländern, „Räume und Gelegenheiten zu schaffen, um die deutsch-jüdische Kultur lebendig zu halten“ und gleichzeitig die Gegenwart nicht aus den Augen zu verlieren. Die 6.5 Millionen-Metropole Shanghai wurde in den 30er – 40er Jahren Fluchtpunkt für etwa 20.000 Juden aus Deutschland, Österreich und Polen, die selbst nach 1939 noch ohne Visum in den Freihafen einreisen durften. In dem 1937 von den Japanern zerstörten Stadtteil Hongkew entstand ein Flüchtlingslager, in dem Juden inmitten von hunderttausenden verarmten Chinesen unter widrigsten Umständen bis zum Kriegsende überlebten. Trotz der äußerst bedrängten Wohnverhältnisse und der Repressalien durch die von den Nationalsozialisten unter Druck gesetzten japanischen Besatzern kam das im vormaligen „Paris des Ostens“ florierende Kulturleben nicht ganz zum Erliegen. Dies vor allem auf dem Gebiet der Musik, wo jüdische Musiker einen wichtigen Beitrag leisteten, der der traditionellen chinesischen Musik neue Impulse gab. An diesen fruchtbaren Austausch, der sich noch heute positiv auswirkt, erinnerte das Orchester Jakobsplatz München mit einer zweistündigen Darbietung, die vom Publikum mit großem Beifall begrüßt wurde. Auf dem Programm stand die Vertonung der 82. Sure des Korans (Al Infitar – Das Zerbrechen), die bei der Gründung des Staates Israel eine besondere Bedeutung erlangte. Verfasser war der 1897 in Berlin geborene Komponist Wolfgang Fraenkel, der als erster Schönbergs Zwölftontechnik nach Asien einführte. Dem ursprünglichen Richter am Berliner Berufungsgericht mit jüdischem Vater war es 1939 gelungen, nach Shanghai zu entfliehen, wo er eine zweite, erfolgreiche Laufbahn als Dozent am dortigen Konservatorium begann. Wenigstens 23 unter seinen Studenten zählen zu den führenden Vertretern der zeitgenössischen asiatischen Musik, darunter Sang Tong, der das erste dodekaphone Werk (Yejing, 1947) im Fernen Osten komponierte. Fraenkels „Geisterbeschwörung“ für Alt und Streichorchester sensibel interpretiert vom Mezzosopran Qiulin Zhang folgten zwei Kompositionen des 1976 geborenen Huang Ruo, der zu den am meisten profilierten Komponisten der jungen Generation gehört. Seine innovativen Werke sind das Resultat einer wirkungsvollen Mischung zwischen chinesischer Volksmusik und westlichen Strömungen durch die eigene Technik des „Dimensionalism“.
Dazu gehören das Stück „Leaving Sao“ (2001/05) für hohe Kopfstimme und Kammerorchester, das er selbst bravourös als Solist aufführte und sich dabei mit einem „Heulrohr“ genannten roten Instrument begleitete, das ihn an ein altes Spielzeug erinnerte. Das 2007 entstandene „The Color Yellow“, das „die Vergangenheit widerhallen lässt, die Gegenwart bedeutet und die Zukunft vorsieht“ hatte Huang für den „avantgardistischen Sheng-Virtuose“ Wu Wei verfaßt, der den „Sheng, ein 4.000 Jahre alte, der Mundorgel gleichzusetzende Instrument, in die zeitgenössische chinesische Musik hinüberführte und die Münchner Zuhörer begeisterte. Eine ideelle Brücke zwischen China und Europa schlug schließlich Gustav Mahlers „Lied der Erde“ in einer von Daniel Ng neuen Version des Werkes mit dem Original-Text in chinesischer Sprache unter der Leitung von Daniel Grossmann, der durch den ganzen Abend führte.
Vor Konzertbeginn wurden Filmaufnahmen vom damaligen Shanghai an die Leinwand hinter dem Orchester projiziert. Begleitet wurde das Konzert von Interviewauschnitten mit drei Zeitzeugen, Michael W. Blumenthal, Gründungsdirektor vom Jüdischen Museum in Berlin, Sonja Mühlberger und Harry Jorysz, die von ihren Erlebnissen in dem so genannten letzten „Ghetto“ der Geschichte erzählten.

Zeitzeugen von links Harry Jorysz, Michael W.Blumenthal, Sonja Mühlberger, die Krieg und Verfolgung in Shanghai überlebten. Michael W. Blumenthal wurde später Politiker in den USA und war Gründungsdirektor vom Jüdischen Museum Berlin.

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Dr. Anna Zanco-Prestel, hat Literaturwissenschaften (Deutsch, Französisch und Italienisch) und Kunstgeschichte in Venedig, Heidelberg und München studiert. Publizistin und Herausgeberin mit Schwerpunkt Exilforschung. U.d. Publikationen: Erika Mann, Briefe und Antworten 1922 – 69 (Ellermann/DTV/Mondadori). Seit 1990 auch als Kulturkoordinatorin tätig und ab 2000 Vorsitzende des von ihr in München gegründeten Kulturvereins Pro Arte e.V.

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