Sind wir vielleicht nur eine Blase „in einem gewaltigen Stück kosmischen Käses“?

„Zwischen 0 und 0,0000000000000000000001 besteht, so könnte man meinen, kein großer Unterschied. (…) Und doch mehren sich die Anzeichen, dass dieser winzige Unterschied die Ursache für einen radikalen Wandel unserer Sichtweise auf die Realitäts-Landschaft sein könnte.“, meint Brian Greene. Immer mehr Indizien deuten darauf hin, dass es sich bei dieser winzig kleinen Zahl von 10-123 um Einsteins kosmologische Konstante handelt, die er bereits 1917 in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie postulierte, aber 1929 wieder revidierte und als seine größte Eselei bezeichnet haben soll. Genau dieser Wert ungleich Null scheint ein entscheidendes Indiz zu sein, dass wir mal wieder nicht allein sind. Will heißen: Wir leben in einem von vielen Universen. Aus der Traum von der Einzigartigkeit.
Genau um dieses Thema geht es in „Die verborgene Wirklichkeit“. Bereits Platon verglich unsere Sichtweise auf die Welt in seinem berühmten Höhlengleichnis als matten Abglanz einer viel reichhaltigeren Wirklichkeit, die sich außerhalb unserer Reichweite abspielt. „Zwei Jahrtausende später könnte Platons Höhle mehr als nur eine Metapher sein.“, stellt der amerikanische Professor für Mathematik und Physik und einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Superstrings fest. Vielleicht, so Greene, ist die Wirklichkeit gar nur etwas wie ein holographischer Film? Wie auch immer: Der „mit Abstand beste Erklärer komplexer Konzepte in unserer Welt“, wie die Washington Post den Astrophysiker titulierte, berichtet in seinem jüngsten Werk wieder einmal von den neuesten Umwälzungen unseres Wissensstandes.
Dass das Thema Paralleluniversum ein höchst spekulatives sei, verleugnet Brian Greene keineswegs. Trotzdem geht er auf alle möglichen Varianten ein. Sei es nun ein unendliches Patchworkuniversum, ein Inflations-Multiversum oder vielleicht gar eine Art Schweizer Käse, in dessen Löchern sich vielleicht unser eigenes Universum befindet, immer legt er die gedanklichen Schritte und die Kette theoretischer Erkenntnisse klar und prägnant dar. Drei Kapitel hat er seinem ganz persönlichen „Steckenpferd“ – der Stringtheorie – eingeräumt. Denn auch diese insistiert drei Multiversumsvarianten: das Branen-, das zyklische Universum und das Landschafts-Multiversum. Vier weitere lässt Greene noch folgen und stellt sich gar solch spekulative Frage wie: „Können wir Menschen die kosmischen Abläufe manipulieren und selbst willentlich Paralleluniversen schaffen?“ Man mag gar nicht näher darüber nachdenken… Mitunter stößt er damit an die Grenze der Aufnahmefähigkeit des Lesers. Aber vielleicht „muss der Optimist einfach nur mehr Fantasie aufbringen.“, kontert Greene. Denn die „Grenzen unseres Wissens über die Grundlagen der Welt immer weiter hinauszuschieben, (…) ist ein Respekt einflößendes Projekt, das wir nicht über Nacht vollenden werden.“
Brian Greenes sorgfältige und durchaus kritische Reise durch die wichtigsten Konzepte über Paralleluniversen richtet sich gleichermaßen an den Leser mit fortgeschrittenen Kenntnissen als auch an den weniger Sachkundigen. Aber selbst wenn er in diesem Buch keinerlei Fachkenntnisse in Physik und Mathematik voraussetzt und „mithilfe von Metaphern, Analogien und eingestreuten historischen Episoden einige der seltsamsten und – sollten sie sich als richtig erweisen – aufschlussreichsten Erkenntnisse der modernen Physik allgemein verständlich“ darstellt, so ist der Text alles andere als leichte Kost. Aber wenn man die eigene bequeme Denkweise ad acta legt und bereit ist, sich mit unerwarteten Bereichen der Realität auseinanderzusetzen, ist „Die verborgene Wirklichkeit“ ein Lesegenuss auf allerhöchstem Niveau und äußerst unterhaltsam dazu. Letztendlich ist es dem Autor einmal mehr gelungen, den eigenen Sinn für das, was sein könnte, zu schärfen und ein anschauliches Bild der reichhaltigen Möglichkeiten zu vermitteln. Denn, so Greene: „Aus meiner Sicht macht die Tiefgründigkeit unserer Erkenntnisse, die wir von unserem einsamen Standpunkt in der pechschwarzen Stille eines kalten, unwirtlichen Kosmos aus gewonnen haben, das aus, was über die Weiten der Wirklichkeit hinweg widerhallt und unser Dasein kennzeichnet.“
Fazit: Bereits Isaak Newton hielt das Universum für viel reichhaltiger und rätselhafter, als seine Gesetze nahelegten. 300 Jahre später wissen wir zwar schon deutlich mehr, aber seine berühmten Worte, die er in späteren Jahren äußerte, haben ihre Gültigkeit nicht verloren: „Ich weiß nicht, wie ich der Welt erscheinen mag, aber mir selbst komme ich nur wie ein Junge vor, der an der Meeresküste spielt und sich hier und da daran erfreut, einen glatteren Kiesel oder eine hübschere Muschelschale als gewöhnlich zu finden, während der große Ozean der Wahrheit noch unentdeckt vor ihm liegt.“ Das endgültige Urteil, ob Paralleluniversen „im nächsten Kapitel der physikalischen Erzählung vorkommen werden, werden erst zukünftige Generationen fällen können.“, stellt Brian Greene folgerichtig fest. Dies schmälert allerdings keineswegs die Lust und Wissbegier, sich an diese Themen heranzuwagen. Zumal, wenn sie so hervorragend aufbereitet wurden, wie in diesem Buch.

Brian Greene
Die verborgene Wirklichkeit
Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Titel der Originalausgabe: The Hidden Reality. Parallel Universes and the Deep Laws of the Cosmos
Siedler Verlag, München (März 2012)
448 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 382750001X
ISBN-13: 978-3827500014
Preis: 24,99 EURO

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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