Tick-Tack oder Zeit, die man selber ist

„Es geht um Zeit, und wenn's um Zeit geht, geht es um nichts Geringeres als ums Leben selbst und um das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Alle, ausnahmslos alle sind wir Zwangsabonnenten der Zeit – ein Leben lang.“, beginnt Professor Dr. Karlheinz Geißler, der die amüsanteste Erfindung der Menschheit zu seinem Lebensthema gemacht und bereits mehrfach darüber publiziert hat, sein Buch. Auf die Frage, wodurch sich der Mensch in allererster Linie von allen übrigen Lebewesen unterscheidet, hält er eine ganz klare Antwort parat: durch seine Leidenschaft zum Zeitsparen. Sogar in seinem Alltagssprachschatz nimmt das Wort „Zeit“ nach „Mama“ einen respektablen zweiten Platz bei den am häufigsten gebrauchten Substantiven ein. Was allerdings ist eigentlich Zeit? Auf diese Frage kann nicht einmal die Philosophie eine verallgemeinerbare, überall gültige Antwort geben. Karlheinz Geißler versucht es trotzdem oder besser: Er hält ein Plädoyer über selbige und unsere zunehmend gehetzte Gesellschaft.
„Die beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist.“, so teilte der Mathematiker Lambert am 13. Oktober 1770 in einem Brief an Immanuel Kant mit. Die Widersprüche und die Rätselhaftigkeit des Zeitphänomens ließen ihn resignieren. Geißler versucht sich dem „Problemfeld“ anders zu nähern und hinter das Geheimnis der Zeit zu kommen. Interessant, lehrreich und zuweilen auch amüsant stellt er sich den Unvereinbarkeiten, den Paradoxien und den geheimnisvollen Seiten der Zeit und damit den Bewegungen des Lebens selbst. Sein Buch handelt von der zunehmenden Veruhrzeitlichung des Alltagsgeschehens, von „Zeitverlusten“, „Zeitgewinnen“, „Zeitvertreib“ und „Fortschritt“. Alles Begriffe mit denen wir nur allzu gern großzügig um uns werfen. Der Autor spricht das allzeit gegenwärtige Zeitproblem der Menschen an, das dem Sachverhalt geschuldet ist, „dass die Uhrzeit nur in sehr ungenügendem Maße mit der jeweils konkreten Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung der Subjekte in Übereinstimmung gebracht werden kann“. Dies führt dann zwangsläufig zu „Zeitwidersprüchen“, „Zeitparadoxien“, „Zeitkonflikten“ und „Zeitkollisionen“. Vielleicht weil Zeit, „das am meisten Unsrige und doch am wenigsten Verfügbare“ ist, so der Philosoph Hans Blumenberg. In verschiedenen Kapiteln startet Geißler einen Angriff auf Raum und Zeit, untersucht den Drang zum schnellen Geld, plädiert für eine allgemeine Enthetzung und die Kunst des Abdankens, spricht eine Gewinnwarnung für ein Leben ohne Zeitsparen aus und offeriert letztendlich zehn Angebote zum Zeit-leben.
„Könnte es vielleicht sein, dass den Menschen das Messen der Zeit mehr Spaß macht, als sie zu leben?“, fragt sich Karlheinz Geißler. Wir sprechen davon, dass die Zeit „rast“, „geht“, „flieht“ oder zuweilen auch mal „stehen“ bleibt. „Mal ist sie eine Einbahnstraße, mal läuft sie im Kreis. Und haben wir überhaupt noch einen Blick für das, was links und rechts des Weges passiert und „was unseren Schnelllauf zu den selbst gesetzten Zielen gefährden könnte?“ Vielleicht sollte man einfach mal die Zeit in einer Schublade verschließen und sich der Welt, die voller Freuden und Genüsse ist, von denen ein gravierender Anteil die Abwesenheit der Uhr zur Voraussetzung hat, zuwenden. Denn Zeit zu leben ist stets sinnvoller und zufriedenstellender als alles Zeitsparen.
„Solange man für den Aufgang der Sonne nicht zahlen muss, glaub ich nicht, dass Zeit Geld ist.“ (Karlheinz Geißler)

Karlheinz A. Geißler
Enthetzt Euch!
Weniger Tempo – mehr Zeit
Hirzel Verlag (2012)
246 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3777622672
ISBN-13: 978-3777622675
Preis: 19,80 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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