Über das Verhältnis des Großen zum Kleinen im Alltag

„Ein Gefühl von Freude stieg in mir auf, aber nicht die Art von Freude, die mit Hellem, Leichtem und Unbekümmertem zu tun hat, nein, diese Freude hatte eine andere Qualität, und wenn sie auf die Melancholie und die Schönheit der Musik und der Welt traf, die um mich herum starb, glich sie dem Kummer, dem schönen Kummer, dem Liebekummer – Schönes und Schmerzvolles in einer unmöglichen Verbindung. Eine geradezu wilde Sehnsucht nach Leben entsprang diesem Gefühl: danach, diesem Dasein zu entkommen, danach, das Leben dort zu suchen, wo es wirklich gelebt wurde, in Großstadtstraßen, unter Wolkenkratzern, auf glitzernden Festen mit schönen Menschen in fremden Wohnungen. Danach der großen Liebe und all dem, was damit verbunden war, zu begegnen – und dann die Einwilligung, die Erlösung, die Ekstase.“

Wenn man diese Zeilen des Protagonisten mit Namen Karl Ove Knausgård nach ca. einem Drittel (S. 239) des über 600 Seiten eng bedruckten Buches liest, liegt darin der Grundtenor des gesamten Textes. Der vierte Band seines monumentalen Lebenswerkes mit dem bedeutungsschwangeren Originaltitel „Min Kamp“ steigt hinab in die Zeit des 16- bis 19-jährigen norwegischen Autors. Eine Zeit, die von Aufbrüchen geprägt ist, von Verlustängsten, vom Sich-Finden, Sich-Definieren, den ersten Kontakten zum anderen Geschlecht, von Sexualität. „Wer ist man, wenn man nicht weiß, wer man ist? Wer ist man, wenn man sich nicht daran erinnert, wer man gewesen ist?“, ruft er fast verzweifelt aus.

„Leben“ setzt ein mit der Ankunft des 18-jährigen Karl Ove, der sein Abitur in der Tasche hat und aus dem Süden, aus Kristiansand, an die Küste Nordnorwegens, in eine 250-Seelen-Gemeinde, nach Hålfjord, an den „Rand der Welt“, gekommen ist, um dort für ein Jahr als Aushilfslehrer sein erstes eigenes Geld zu verdienen und seinem Ziel – Schriftsteller zu werden – klare Wege zeichnen will. Ganz bewusst bricht er aus dem gewohnten Raster aus und entscheidet sich für eine „nicht ganz stromlinienförmige Art“ des Lebens. Ganz wie seine literarischen Vorbilder, sei es aus Ingvar Ambjørnsens „Weiße Nigger“, J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ oder Charles Bukowskis „Der Mann mit der Ledertasche“, verabscheut auch er Bürgerlichkeit, sucht die Freiheit, betrinkt sich, liest, hört gute Musik und träumt von der großen Liebe oder dem großen Roman. Karl Ove trägt diese große Sehnsucht von einer autonomen Selbstbestimmung tief in sich. Hier im hohen Norden, wo es im Sommer nicht dunkel wird, der Winter im Gegenzug alles unter dem fehlenden Sonnenlicht zu erdrücken scheint, erfährt er seinen entscheidenden Schritt zur Persönlichkeitsreife: indem er Verantwortung trägt für seine, wenn auch nur wenigen Schüler und für sein Tun und Lassen, das in einem so kleinen, nahezu isolierten Ort, mit Menschen, die ihre schrulligen Eigenarten zumeist mit Alkohol frönen und einen anderen Humor haben, wie die anonyme Masse seiner Heimatstadt.

Kar Ove eröffnet eine neue Unterabteilung in seinem Leben: „'Suff und Hoffnung auf Hurerei' hieß sie und lag direkt neben der Abteilung für 'Einsicht und Innerlichkeit', getrennt nur durch eine kleine, gartenzaunartige Persönlichkeitsänderung.“ Und daran lässt er den Leser mitunter minutiös teilhaben. Doch kein Feuerwerk an stilistisch ausgefeilten Sätzen, an tiefsinnigen Gedankenkaskaden und philosophischen Betrachtungsweisen springt aus den Zeilen des Romans, sondern es ist eher ein erzählendes Teilhaben. Das mag mitunter ermüden, aber dem Autor gelingt es trotzdem immer wieder, durch kleine Leuchtfeuer einen Ruck durch den Text zu schicken. Wirkungsvoll schafft er Verzweigungen und Verbindungen, holt aus dem Unterbewusstsein seiner Gedanken unterschiedlichste Erinnerungen hervor: die Scheidung seiner Eltern, der zunehmende Alkoholismus seines Vaters, die mit zunehmenden Ängsten verbundenen sexuellen Kontaktversuche zum anderen Geschlecht, die stets in einem Fiasko enden, da er unter vorzeitiger Ejakulation leidet.

„Wir leben unser Leben nicht allein, doch das bedeutet nicht, dass wir diejenigen sehen, mit denen wir zusammen leben.“, sinniert Karl Ove. In seinem Text scheint er dies „wiedergutzumachen“. Denn gerade die auf den ersten Blick nur skizzierten Porträts seiner Figuren zeichnen sich auf den zweiten durch eine pointierte Charakterisierung aus. Knausgård ist ein feiner Beobachter menschlicher Regungen. Seine Selbstreflektionen zeugen zudem von einer tiefen inneren Auseinandersetzung mit sich selbst und lassen die zuweilen wüsten Ausschweifungen in einem milden Licht und seinen Protagonisten als einen durch und durch sympathischen Typ erscheinen, dessen „Selbstfindungsjahr“ in der stillen Ungestümtheit ihn deutlich prägt. „Ich hatte mich verändert, es war mein Leben, das sich mit voller Kraft voraus bewegte.“ Die literarischen Erfolge scheinen dem Autor gleichfalls recht zu geben.

Fazit: „Es gab dieses Licht, geheimnisvoll unter den Menschen und den menschlichen Dingen, voll von einer fein geschliffenen Dunkelheit, die sich in diesem Licht ausbreitete, es aber nicht in Besitz nahm oder bezwang; die Dunkelheit ließ es lediglich gedämpfter oder matter erscheinen und schimmerte rein und klar weit oben am Himmel.“ Karl Ove Knausgård schweift in seinen autobiografischen Erinnerungen ab, weiß aber auch zu pointieren. Er erzeugt Stille und Brausen, manchmal feinsinnig und subtil, dann wieder ungestüm und sehr direkt, hier ausufernd und detailliert, da ernst und knapp. Melancholisch, schwermütig, gewaltig oder profan berichtet der norwegische Schriftsteller von den Rissen der Vergangenheit, „vom Leben mit seinen kleinen Ausschlägen in die eine oder andere Richtung“, alles eingefangen und verstärkt durch die Kraft der Literatur. Ob das nun wirklich auf über 600 Seiten sein muss… Da bin ich mir im Moment noch nicht ganz schlüssig.

Karl Ove Knausgård
Leben
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Titel der Originalausgabe: Min Kamp 4
Luchterhand Verlag (Juli 2014)
618 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630874134
ISBN-13: 3630874135
Preis: 22,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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