Und der Mensch erschuf Leben?

„And man made life“ titelt der ECONOMIST am 22. Mai 2010 (S. 81ff). Ähnliche Meldungen finden sich in einer Reihe anderer Blätter. Dem war eine Publikation von Craig Venter, Hamilton Smith und Mitarbeitern im Wissenschaftsmagazin SCIENCE am 20. Mai vorausgegangen. Laut ECONOMIST verkündeten die Autoren darin, ein lebendes Wesen geschaffen zu haben. Ebenfalls zu berichten weiß der ECONOMIST, wie es bei der Erschaffung künstlichen Lebens jedenfalls nicht zugegangen ist: Letztlich gab es da kein Schloss, keinen Gewitterblitz, keinen buckligen und keckernden Laborgehilfen. Nichtsdestoweniger sei es Venter und Kollegen gelungen, zu verwirklichen, was bei Mary Shelley – Autorin des Frankenstein – bloße Imagination und Fortsetzung eines alten Menschheitsmythos war: Die Schaffung eines Lebewesens aus den Bestandteilen toter Körper.
Im Leitartikel des englischen Wissenschaftsmagazins NEW SCIENTIST vom 29. Mai 2010 (S. 3) findet sich nun eine Richtigstellung, von keinem geringeren als Craig Venter selbst verfasst, die beinahe ebenso sensationell ist, wie die von diversen Blättern verbreitete Sensationsmeldung. Freilich ist diese Meldung weder geeignet, die Verkaufszahlen gewisser Blätter, noch den Kurs bestimmter Aktien steigen zu lassen. Venter:
„Wir haben kein Leben aus dem Nichts heraus geschaffen: Wir haben gegebenes Leben in neuartiges Leben umgeformt. Ebenso wenig haben wir ein neues Chromosom von Anfang an entworfen und zusammengebaut. Vielmehr haben wir unter Rückgriff auf digitalisierte Information eine modifizierte Version, eine Kopie, des Genoms von M. mycoides hergestellt, von dem 14 Gene entfernt wurden und in das ein „Wasserzeichen“ in gut 5000 Basenpaare eingebracht wurde. Das Ergebnis ist keine ‚künstliche’ Lebensform; es ist eine lebende, selbstreplizierende Zelle, die die meisten Mikrobiologen schwerlich von der Vorgänger-Zelle unterscheiden könnten, es sei denn sie würden ihre DNS sequenzieren.“
Demnach wurde also keine einzige Zelle im eigentlichen Wortsinne „gemacht“. Sondern man baute und modifizierte ein Makromolekül – DNS – und schleuste es in eine gegebene Zelle ein, die auch mit dieser künstlichen DNS normal zu funktionieren scheint.
Wie weit Wissenschaftler tatsächlich davon entfernt sein mögen, „Leben“ zu schaffen, leuchtet ein, sobald wir fragen, wie und ob Begriffe wie „Leben“ oder „Lebewesen“ überhaupt zu definieren sind. Dann zeigt sich rasch, dass wir geblendet sind vom biochemischen, organismischen Funktionieren und den Lebensbegriff zu eilfertig an Naturwissenschaft und Schlagzeilen verschenken. Kaum noch wird die Frage aufgeworfen, ob nicht ein Moment von Subjektivität (Innerlichkeit) Bestandteil einer überzeugenden Definition des Begriffs Lebewesen zu sein hätte. An ganz unvermuteter Stelle freilich hat diese Einsicht in unsere Gesellschaft bereits Einzug gehalten: Sogenannte „Hirntote“, künstlich beatmete Patienten mit irreversiblem Hirnversagen, sind – abgesehen vom Gehirn – funktionierende Organismen und biochemisch betrachtet lebendig. Da es sich aber nur mehr um bewusstseinslose, empfindungslose, leerlaufende Organismen oder Hüllen ohne ein ansprechbares „Du“ handelt, wäre es pietätslos, sie nach wie vor als lebende Menschen anzusehen und zu behandeln. Ausgehend von uns selbst als empfindenden, bewussten oder selbstbewussten Menschen, die wir unzweifelhaft leben, wäre festzulegen, was eigentlich als Lebewesen anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund wird man feststellen, dass „Leben“ überhaupt nicht geschaffen werden kann. Allenfalls wird es möglich sein, Lebewesen hervorgehen zu lassen.

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Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).

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