Vergessenes aus der Jenaer Musikgeschichte: Das Wirken von Heinrich Möller

Immerhin war es der Thomaskantor Kurt Thomas, der 1976 anläßlich des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Heinrich Möller die Gedenkrede im Naumburger Rathaus hielt, und das sollte aufhorchen lassen. Thomas hatte 1954 als Assistent bei Prof. Günther Kraft am Institut für europäische Volksliedkunde in Weimar Heinrich Möller noch persönlich kennen gelernt und war von dessen zurückhaltendem und freundlichem Wesen, dem reichen Wissen und den menschlichen Erfahrungen beeindruckt. Leider war es für den altgedienten Heinrich Möller ein kurzes Intermezzo: das Institut wurde 1955 aufgelöst.

1. Die Herkunft und die Schulzeit

Geboren wurde Heinrich Möller 1876 in Breslau in einer bürgerlichen, wohlhabenden Kaufmannsfamilie mit liberaler Gesinnung. In der jüngeren Vergangenheit tauchen in der Ahnengalerie Fabrik- und Rittergutsbesitzer auf, Konsistorialräte und ein evangelischer Theologieprofessor. Eine Linie war bis ins 14. Jahrhundert zurück zu verfolgen. Das wurde später wichtig. Als sich Heinrich Möller in Jena an der Universität bewarb, musste er nachweisen, dass er arischer Abstammung war. Das gelang. Zumindest musste Möller aber einem Verwandten zustimmen, der froh darüber war, dass wenigstens die Großeltern „arisch“ waren. Denn – bei genauerem Hinsehen war in noch weiter zurückliegenden Generationen ein Übergang von jüdischer zu christlicher Religionszugehörigkeit zu beobachten, was damals gar nicht selten war. Übrigens war auch die Mutter „voll arisch“ und dasselbe galt später auch für die Ehefrau Agnes, geb. Krantzleben. Ob wirtschaftliche Verhältnisse zu der späten Heirat mit 48 Jahren beigetragen haben, bleibe dahingestellt.
Kunstsinnig war man zuhause auch, der Vater war Musikliebhaber und Laiensänger und im Vorstand der Breslauer Singakademie, außerdem übersetzte er aus dem Englischen. Und so kam der Junge frühzeitig mit dem Konzertleben in Berührung, zumal der Bruder Geige lernte und die Schwestern Klavier.
Aus diesem behüteten Dasein ging der Junge 1889 vom Gymnasium „Maria Magdalena“ in Breslau nach Schulpforta in die dortige strenge Zucht und Ordnung. Der Geldbetrag von daheim war zwar nicht knauserig. Die Hefte mit den Eintragungen aller Ausgaben sind erhalten, für Pension, die Schulklasse, für Privatunterricht. Flickschneider, Schuhmacher, Uhrmacher, Friseur, Photograph, die Krankenwärter, der Apotheker und der Arzt, alles musste bezahlt werden, das Ballgeld. Personalgeschenke, das in ganz Deutschland übliche Sedanfest. Nach Abgabe der Gelder für die Ausbildung blieb für private Zwecke nicht viel übrig, allenfalls für Malutensilien und für einen Schlitten. Der Vater hatte etwa 1600 Mark pro Jahr zu überweisen.
Fast noch sorgfältiger wurden die Zensuren quartalsweise vermerkt, auch für das Singen. In Mathematik, Latein, Griechisch, Französisch war Möller keine Leuchte; einmal blieb er sogar sitzen. Zudem wurden Ranglisten nach den Zensuren ermittelt, vorne war er nicht oft zu finden. Zu seiner Zeit war auch der später berühmte Regisseur Ernst Legal in Schulpforta, und wie lange solche Schulfreundschaften halten können, geht aus der Tatsache hervor, dass viel, viel später die Aufführung der Oper „Sadko“ von Nikolai Rimski-Korsakow unter Legals Regie an der Deutschen Staatsoper in der Übersetzung von Heinrich Möller gegeben wurde.
Schon hier in Schulpforta hatte sich Heinrich Möller mit Schopenhauer, Nietzsche und Richard Wagner beschäftigt.

2. Die Studienzeit

Ab 1897 wählte der junge Mann in Leipzig Germanistik und Philosophie als Studienfach, nachdem er die Medizin bald aufgegeben hatte. Die Bierphilisterei vieler Studenten war nicht seine Sache, doch machte er manche Bekanntschaft wie etwa Frank Wedekind. Nach drei Semestern wechselte Möller nach Berlin zu Erich Schmidt und promovierte bei ihm dann über „Die Bauern in der Literatur des 16. Jahrhunderts“. Als freiwilliges Nebenfach hatte er, obwohl ohne eigene musikalische Praxis, Musikwissenschaft gewählt. Erst jetzt war der Knoten für den späteren Beruf geplatzt. Es ging zurück nach Leipzig zu den bekannten Professoren Hugo Riemann und Hermann Kretzschmar zu einem Studium der Musikwissenschaft und bald wieder zurück nach Berlin, als der letztgenannte dahin berufen wurde. Seine Liebe zum Volkslied wurde dort durch Max Friedländer geweckt.
Bei einer Mittelmeerreise traf er im Rom den Komponisten von „Hänse' und Gretel“, Engelbert Humperdinck. In Berlin besuchte er die Schauspielschule von Max Reinhard. Schließlich landete Möller als Musikschriftsteller und Korrespondent in Paris und lernte dort den Gewandhausdirigenten Arthur Nikisch und die Chansonette Yvette Guilbert kennen. Sein Steckenpferd wurde damals die Sammlung von Volksliedern in der Bretagne.
Mit Beginn des 1. Weltkrieges ging Möller nach New York, schlug sich durch und sammelte amerikanische Volkslieder. Sein Brot verdiente er vor allem als Kritiker. Es hieß von ihm: Erinnern Sie sich noch des kleinen Dr. Möller? Ein ganz famoser Herr, der sich durch sein liebenswürdiges Wesen ebenso viele Freunde wie durch seine spitze Feder … eine beträchtliche Anzahl Feinde geschaffen ha […]“.
Nur wussten die „Feinde“ nur zu gut, dass die Urteile eben sehr fundiert waren, ohne Voreingenommenheit und Böswilligkeit. Nach Ende des ersten Weltkrieges ging es über Norwegen und Dänemark zurück nach Deutschland. Durch die Inflation war das väterliche Erbe fast nichts mehr wert.

3. Die Lebensleistung

In dem namhaften Verlag Schott & Söhne in Mainz hat Möller gegen manchen Widerstand und oft schwieriger Quellenbeschaffung in den zwanziger Jahren seine große Lebensleistung herausgebracht: 13 Bände von europäischen Volksliedern, deren Texte er aus über zwanzig Sprache rhythmisch genau ins Deutsche übersetzte.
Bd. 1 Russische; Bd. 2 Schwedische, norwegische, dänische und isländische; Bd. 3 Englische und nordamerikanische; Bd. 4. Bretonische, kymrische, schottische und irische; Bd. 5. Französische; Bd. 6 Spanische, katalanische, portugiesische und baskische; Bd. 7 Italienische; Bd. 8 Slowenische, kroatische, serbische und bulgarische; Bd. 9 Griechische, albanische und rumänische ; Bd. 10 Tschechische, und slowakische; Bd. 11 Polnische und wendische; Bd. 12 Ungarische; Bd. 13 Litauische, lettische, estnische und finnische Volkslieder.
Immerhin Thomas Mann beglückwünschte den Verlag, „Das Lied der Völker“ mit herzlichem Vergnügen und Beifall“ durchgesehen zu haben. Und Romain Rolland meinte: „Eine derartige Ausgabe verdient in der ganzen Welt klassisch zu werden.“
Wer „Unordnung und frühes Leid“ von Thomas Mann in die Hand nimmt, findet dort einen Möller, noch nicht einmal den Namen hat er ausgetauscht.
Auf einer Abendgesellschaft findet der Hausherr dort seine Frau im Gespräch mit Bert und zwei anderen jungen Herren. Der eine ist Herzl, Cornelius kennt und begrüßt ihn. Der andere heißt Möller – ein Wandervogel-Typ, der bürgerliche Festkleider offenbar weder besitzt noch besitzen will (im Grunde gibt es das gar nicht mehr), ein junger Mensch, der fern davon ist, den „ Herren zu spielen (das gibt es im Grunde auch nicht mehr), – in gegürteter Bluse und kurzer Hose , mit einer dicken Haartolle, langem Hals und einer Hornbrille. Er ist im Bankfach tätig, wie der Professor erfährt, aber ist außerdem etwas wie ein künstlerischer Folklorist, ein Sammler und Sänger von Volksliedern aus allen Zonen und Zungen. Auch heute hat er auf Wunsch seine Gitarre mitgebracht. Sie hängst noch im Wachstuchsack in der Garderobe […]“.
Und von dort wird sie dann bald geholt:
Man unterhält sich, während man Tee trinkt, von Möllers Volksliedern, von spanischen, baskischen Volksliedern, und von da kommt man auf die Neu-Einstudierung von Schillers „Don Carlos“ im Staatstheater, eine Aufführung, in der Herzl die Titelrolle spielt.“
Nun, Thomas Mann lässt seinen Möller auch noch französische und schwedische Lieder singen und den Hausherrn darüber nachsinnen.
Bela Bartök, selbst einer der großen Volksliedforscher, bemängelte allerdings, dass Möller außer den Bauernliedern auch andere aufgenommen hatte. Aber Möller weiß sich zu wehren.
Fritz Jöde bezeichnete die Sammlung als das erste große Werk nach Herders „Stimmen der Völker in Liedern“, und Lob kam selbst von dem Lehrer der Zwölftonmusik Josef Rufer.
Für Möller schloss sich eine umfangreiche Vortrags- und Konzerttätigkeit an, er trug die Lieder selbst vor. So kam er durch Vermittlung von Frau Auerbach, die mit ihrem Mann, dem Experimentalphysiker Felix Auerbach, in Jena in der von Gropius erbauten Villa in der Schäfferstraße wohnte, im „Schwarzen Bären“ zu einer Veranstaltung der von ihr dahier
geleiteten „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“. Bekanntlich haben beide Auerbachsl933 bei Einbruch des Nationalsozialismus den Freitod gewählt.
Möller nutzte zudem sehr früh den Rundfunk für die Verbreitung seiner Lieder. Von 1935 bis Kriegsende vertrat Möller in der Musikwissenschaft in Jena den Bereich Volkslied, mit 50 Mark Honorar im Monat, selbst seine Lieder vortragend, und ohne sich zu verbiegen. Berufen hatte ihn der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Während der Musikwissenschaftler Otto zur Nedden stramm zur Fahne stand, Werner Danckert bald nach Berlin ging und dort mittels der NSDAP Karriere machte, bezog sich Rudolf Volkmann auf musikalische Phänomene und Heinrich Möller auf das Volkslied, auch z. B. auf das russische und das amerikanische.
Bald nach Dienstantritt genehmigt der Rektor Prof. Meyer-Erlach die Teilnahme an einem Kongress in Paris, den Möller auch zu Volksliedforschungen in einer Bibliothek nutzen will. Das Reichsministerium wurde informiert, das Auswärtige Amt, die Auslandsorganisation der NSDAP und die Zweigstelle des deutschen Austauschdienstes; er hatte sich bei der örtlichen Auslandsorganisation der NSDAP zu melden.
1940 schreibt Möller an den Rektor, anfangs sei auch an eine Titular- oder Honorarprofessur gedacht worden, denn die Fahrtkosten überschritten bald die Honorarkosten. Inzwischen war Prof. Astel Rektor geworden, und er schlägt vor, Möller für die Vorlesungszeit die bereits genannten 50 RM zu gewähren, was vorn Ministerialrat Dr. Fridrich Stier auch erlaubt wird. Damit nicht genug Bürokratie um die bescheidene Summe herrscht, verlangt Dr. Schlegelmilch vom Finanzministerium eine Aufschlüsselung der tatsächlichen Ausgaben. Eine Hin- und Rückfahrt von Naumburg nach Jena kostete damals 4, 75 RM; der Klavierbegleiter pro Vorlesung 3 RM. Möller wagt sogar anzufragen, ob ihm denn ein Mittagessen von 8-10 RM gewährt würde für die ja sonst unbesoldete Arbeit. Und plötzlich wendet sich das Geschick, wenigstens etwas : das Finanzministerium vergibt jährlich 240 RM und Dr. Stier weist das Universitätsrentamt an, zusätzlich noch 360 RM zu zahlen, womit für das ganze Jahr schließlich doch noch 50 RM/Monat zusammen kommen.
Nach dem Krieg ist aus dem Briefwechsel zu entnehmen, dass durch Bombenschäden sowohl der Hörsaal als auch das Klavier unbrauchbar geworden waren. Aber wichtiger für den inzwischen Siebzigjährigen ist wohl die Befürwortung, dass ihm trotz des Dienstausfalls die Lebensmittelkarte III für Hochschullehrer zustünde. Von weiteren Vorlesungen ist seitdem aber nichts mehr zu finden.
Wie viele andere Vorlesungen auch, wurden die über Volkslieder von Heinrich Möller außer für die Studierenden des Musikwissenschaftlichen Seminars auch für Hörer aller Fakultäten angeboten.

4. Der Lebensabend

Nach dem Krieg gab Möller, wie stets noch in Naumburg wohnend, eine russische Sprachlehre heraus und übersetzte russische Opern ins Deutsche, z. B. „Fürst Igor“ von Alexander Borodin, Boris Godunow“ und „Der Jahrmarkt von Sorotschintsi“, neben „Sadko“ auch „Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsakow, „Eugen Onegin“ von Tschaikowsky. Sammlungen russischer Lieder oder Negro Spirituals wurden von ihm herausgegeben.
Die Stadt Naumburg ernannte Möller zum 80. Geburtstag zum Ehrenbürger, das Staatssekretariat für Hochschulwesen zum Professor. Eine Bibliographie des europäischen Volksliedes blieb unvollendet.
Wie schätzte er sich selbst ein? „Ich muß zufrieden sein, dass ich bei mittelmäßiger Begabung doch etwas an geistigen Werken hinterließ, was mich überleben wird.“
Bei aller Forschung über das Volkslied in den letzten Jahrzehnten von vielen Musikwissenschaftlern ist Möllers Ausgabe sozusagen immer noch die Grundlage geblieben, und zwar eine, aus der man sich doch manchmal einiges zu hören wünschte!
Der Nachlaß dieses Musikers wird im Archiv der Franz-Liszt-Musikhochschule in Weimar bewahrt, in einer Zeit, in der manches Wertvolle erst gar nicht den Weg in die Archive findet, ein gutes Zeichen, lohnt es sich doch, dieses Leben der Nachwelt zu überliefern.

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