Von der Einzigartigkeit des Individuums

Kolumba: Copyright: Constantin Graf Hoensbroech

“Herr gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr dürste“, heißt es auf einem Andachtsbild zur „Heiligen Osterkommunion“ im Jahr 1936. „In Jesu und Mariä Händ befehle ich mein letztes End“, steht auf dem Kuss- und Ablassbild von 1684. „Zur frommen Erinnerung an unsere allgeliebte Monarchin Kaiserin Elisabeth“ ist der Totenzettel aus dem Jahr 1898 bezeichnet. Beichtzettel, Heiligenbilder oder Gebetszettel oder andere Bildpredigten für die unterschiedlichsten Anlässe, dann auch mal ein Fleißkärtchen oder eine Karte mit der Ermahnung „Wohl meynend rath ich Dir kehr selbst vor Deiner Thür“. Jede einzelne der vielen Andachtsbilder und Karten in den reichhaltig bestückten Vitrinen erzählen individuelle Geschichten. Manch handschriftliche Notiz am Rand oder auf der Rückseite lässt auf eine besondere Beziehung zwischen den Menschen schließen, die die Karten einander zukommen ließen. Die Karten aus mehreren Jahrhunderten, die „Kolumba“, das Kunstmuseum des Erzbistums Köln, hier versammelt, spiegeln nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen und religiöses Leben wider, mehr noch: Sie lassen persönliche Bekenntnisse und Beziehungen erkennen von Menschen, die sich zu ihrem selbst gewählten Glauben bekennen.

„Nach christlichem Verständnis erfolgt die Anschauung Gottes letztlich durch das Individuum“, betont Museumsdirektor Stefan Kraus und fragt: „Was aber prägt das Individuum, was bestimmt sein Handeln?“ Dieser Rolle des Individuums spürt das Museum in seiner neuen Jahresausstellung nach, in dem es mit dem Medium der Kunst über den Begriff des Individuums reflektiert. „Me in a no-time state  – Über das Individuum“ heißt die seit Mitte September geöffnete neue Jahresausstellung des renommierten Hauses und befragt dabei die Einzigartigkeit der individuellen schöpferischen Leistung ebenso wie die individuelle Erkenntnis der Selbstverantwortung im Umgang mit anderen Individuen und dem Göttlichen.

Da treffen die Besucher gleich im ersten Raum des Museums auf die „Maschinenmenschen“ von Krimhild Becker. Oder ist es etwa eine drastische Konfrontation mit dem Ausstellungstitel? Die Sammlung von teilweise martialisch anmutenden Robotern aus den Jahren 1960 bis 1990 wirft unweigerlich die Frage nach der Individualität des Menschen einerseits, aber auch der Maschine auf. Künstliche Intelligenz statt humaner Individualität? Oder verschwimmt in den Spielzeugen doch beides miteinander? Was ist Außen-, was Innenwelt?

Es gibt so vieles zu entdecken, so vieles könnte ausführlich, individuell beschrieben werden – etwa die 56 Kupferstiche der „Lauretanischen Litanei“ von 1781 oder die virtuos gestaltete enge Wohnlandschaft „Cella mit Küchenbaum“ von Stefan Wewerka oder die Schmuck- und Kleidungsstücke aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Skulpturen, Gemälde, Installationen, Textilien und anderes mehr aus 1500 Jahren versammelt das Museum in seiner nunmehr zehnten Jahresausstellung mit Objekten, die sich am eigenen Bestand des Hauses orientieren. Allein dieser Umstand, die eigene Dauerausstellung regelmäßig neu gestalten und dabei einige wenige Objekte stets an ihrem festen Platz belassen zu können, ist ein individuelles Alleinstellungsmerkmal dieses herausragenden Museums.

Eine großartige Überraschung bietet der Raum mit Domblick. Dort, wo Stefan Lochners berühmte „Madonna mit dem Veilchen“ seit Bestehen des Hauses ihren festen Platz hat und sich durch das Panoramafenster ein grandioser Blick auf den Kölner Dom eröffnet, steht im Halbkreis eine kleine Figurengruppe. Was mögen die in ihren Gesichtern ungemein individuell und lebendig ausgeführten spätgotischen Sandsteinfiguren mit den prächtigen Gewändern gerade beratschlagen? „Die Vier Gekrönten“, so der Name der jeweils etwa 40 Zentimeter hohen Figuren, sind vermutlich ein Werk des Dombaumeisters Konrad Kuyn. Um 1445 schuf er – ganz nah am Porträt und damit sehr ungewöhnlich für das ausgehende Mittelalter – diese Gruppe als Patrone der Bildhauer, Steinmetze, Werkmeister und Poliere. Seit Bestehen des Kölner Diözesanmuseums (1853) zählt sie zu dessen Bestand. Nach sechs Jahren umfangreicher und teilweise sehr kleinteiliger Restaurierungsarbeiten konnte die kostbare Kleidung der Vier ebenso wieder zum Leuchten gebracht werden wie die frappierend wirklichkeitsgetreue Gestaltung ihrer Gesichter – der Polier hat ein Doppelkinn und der Steinmetz ist schlecht rasiert. Vier Individuen eben, denen ihr künstlerisches Selbstbewusstsein als ,artifex‘ deutlich anzusehen ist. Galten doch im Mittelalter diese Personen dank ihrer handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten als besonders herausgehobene Individuen. Dem kuratorischen Ansatz der Ausstellung, eben mit dem Medium Kunst über den Begriff des Individuums zu reflektieren, wird mit den mittelalterlichen Vertretern der Kölner Dombauhütte, sicher nicht nur zur Freude der einheimischen Besucher, in wunderbar berührender Weise entsprochen.

Einen Raum weiter ergreift die Besucher ebenfalls berührend, aber ganz anders geartet, die Individualität vom „Burgtreswitzmensch“. Anhand von Fotografien, einer Video-Projektion, Textblättern, Zeichnungen, zahlreicher Archivmaterialien und persönlicher Gegenstände – etwa eine Strohpuppe oder einer zerknitterten Postkarte – nähert sich Kurt Benning (geb. 1945) der Individualität eines einzelnen Lebensweges. Über die persönlichen „Hinterlassenschaften“ erzählt der Künstler von einem Mann und dessen Mutter, die auf einer einsamen Burg im oberpfälzischen Treswitz gestrandet waren und dort ein Leben in weitestgehender Abgeschiedenheit lebten. Benning hatte den „Burgtreswitzmensch“ auf dessen ,Zeitinsel‘, auf der dieser außerhalb der tatsächlichen Zeit und Umstände zu leben und seinen Träumen nachzuhängen schien, besucht. Viele Jahre später, nach beider Tod, besuchte Benning erneut die Burg und fand noch einige Hinterlassenschaften. Nun hat der Künstler in seinem „opus magnum“ seine Erinnerungen und die Objekte so zusammengestellt, dass auf  diese Weise der dennoch weitgehend unbekannte, einzelne  Lebensweg eines Individuums zwischen Vergangenheit und Verfall einige feste Konturen bekommt. Wer möchte da nicht mehr über diesen Einsiedler, den „Burgtreswitzmensch“, wissen?

Ein grandioses Panorama entfaltet der größte Ausstellungsraum des allein schon als Gebäude außergewöhnlichen Museums: Da sitzen 25 Propheten, Kirchenväter, Märtyrer, Erzväter und Engel im Raum verteilt auf ihren steinernen Sockeln – manche scheinen miteinander in kleinen Gruppen zu kommunizieren, andere sind eher in kontemplativer Anschauung versunken. Die Sandsteinfiguren sind die Originale vom Petersportal des Kölner Doms. Dort wurden die insgesamt 34 Figuren seit vielen Jahren wegen der zunehmenden Verwitterung durch Kopien ersetzt. Die Originale, die meist noch ihren Haken auf dem Rücken tragen, wurden weitestgehend von den berühmten mittelalterlichen Bildhauern Heinrich Parler und Michael von Savoyen geschaffen. Jede Darstellung höchst individuell in Form, Motiv, Gestus, Mimik. Wer sich zwischen ihnen durch den Raum bewegt, wird fulminante Blickachsen und Dialoge entdecken – etwa mit dem elfenbeinernen Kruzifix aus dem zwölften Jahrhundert oder auf die „94 Blätter aus der Serie St. Paul“. Über 700 Blätter hat Martin Assig (geb. 1959) mittlerweile zu einer Werkgruppe zusammengetragen. Die Ornamente, Körper- und Satzfragmente – beispielsweise das ungemein suggestive Bild „Ich sehe in Dich hinein“ – sind voller Anspielungen und Verweise auf Profanes und Persönliches, Alttägliches, Literarisches, Musikalisches und anderes mehr.

Die auf den ersten Blick einheitlich anmutende, aber eben aus vielen Einzelbildern zusammengesetzte Werkgruppe evoziert für die Betrachter eine doppelte Spannung. Zum einen ist es die dialogische, mitunter auch irritierende Anordnung der Bilder miteinander, zum anderen ist es ihre Einbettung und dialogische Beziehung innerhalb der Ausstellung – hier vor allem zu den Sandsteinfiguren des Petersportals. Wie verhält sich der Mensch im Alltag, wie verhält er sich als Künstler? Nicht zuletzt: Wie verhält er sich als Glaubender? In einer faszinierenden Darstellung aus dem 17. Jahrhundert bildet die ,Heilige Dreifaltigkeit‘ den Mittelpunkt eines Ausstellungsraumes, in dem sich außer der Lindenholzskulptur nur noch die fünf Bilder „Me in a no-time state“ von Chris Newman (geb. 1958) befinden. Newman zitiert in diesen fünf Bildern bedeutende Arbeiten der klassischen Moderne, hält sich gleichsam die Originale vor sein künstlerisches Auge und entfaltet daraus seine individuellen Kopien. Er fertigt gleichsam Bilder aus der Vergangenheit für die Betrachtung in der Gegenwart und Zukunft. Diese wiederum korrespondieren mit der Darstellung der Dreifaltigkeit, in welcher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitlos gültig aufeinandertreffen.

Es ist eine Vielzahl an Wegen und auch Einladungen, Gefühlen, Assoziationen und Gedanken, die Kolumba dem Individuum aufgibt – sei es durch die jeweiligen Künstler und ihre Objekte, sei es an die Besucher während ihres Rundgangs. Selbstbefragung, Erinnern, Verfall gehören dabei ebenso zu den großen Linien der Schau wie auch die Spurensuche auf die Antwort nach der eher politisch motivierten Frage, inwieweit aktuell die Freiheit der Entfaltung des Individuums bedroht ist oder eingeschränkt wird.

Bis 14. August 2017; täglich (außer dienstags) 12 bis 17 Uhr.

 

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Über Constantin Graf von Hoensbroech 74 Artikel
Constantin Graf von Hoensbroech absolvierte nach dem Studium ein Zeitungsvolontariat über das "Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses - ifp". Nach Stationen in kirchlichen Medien war er u. a. Chefredakteur von "20 Minuten Köln", Redaktionsleiter Rhein-Kreis-Neuss bei der "Westdeutschen Zeitung", Ressortleiter Online bei "Cicero" sowie stellvertretender Pressesprecher der Industrie- und Handelskammer zu Köln. Seit März 2011 ist er Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation der Rheinland Raffinerie der Shell Deutschland Oil GmbH.

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