Von Oberschlesien nach WeimarHarry Thürk zum zehnten Todestag

Der aus Zülz in Oberschlesien stammende DDR-Schriftsteller Harry Thürk (1927-2005) ist am 24. November vor zehn Jahren in Weimar gestorben. Sein vorletzter Roman „Sommer der toten Träume“ (1993) handelt von seiner Kindheit und Jugend in Oberschlesien. Seine beiden Vornamen „Lothar Rudolf“, auf die er getauft wurde, hat er schon als Kind gegen „Harry“ eingetauscht: Er wurde von seinen Spielgefährten so genannt, weil er für den NS-Schauspieler Harry Piel (1892-1963) schwärmte.
Geboren am 8. März 1927 als Sohn eines Ziegelmeisters, wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf, nachdem sein Vater durch die 1929 einsetzende Wirtschaftskrise arbeitslos geworden war und mit der Familie 1934 nach Neustadt in Oberschlesien umzog. Hier besuchte Harry Thürk 1934/40 die Volksschule und 1940/42 die Handelsschule und arbeitete dann bei der Deutschen Reichsbahn. Noch im Sommer 1944 wurde er eingezogen, in Utrecht/Niederlande ausgebildet und dem Fallschirm-Panzer-Korps „Hermann Göring“ zugeteilt, für seinen Einsatz an der Front in Ostpreußen (Insterburg und Pillkallen) wurdeihm 1945 das „Eiserne Kreuz“ verliehen. Seine Kriegserlebnisse hat er in den Erzählungen des Bandes „Nacht und Morgen“ (1950) undin seinem Roman „Die Stunde der toten Augen“(1957) verarbeitet. Das Kriegsende erlebte er bei Melnik in Böhmen und schlug sich von dort mit zwei Kriegskameraden über das Altvatergebirge nach Oberschlesien durch, wo er in Neustadt mehrere Wochen Zwangsarbeit leisten musste. Im Oktober 1945 floh er und erreichte Weimar in Thüringen, wo er bis zum Lebensende wohnen blieb.
Sein Aufstieg zum anerkannten DDR-Schriftsteller, der zweimal mit dem „Nationalpreis“ (1964/1977) ausgezeichnet wurde, vollzog sich in mehreren Phasen. So wurde er 1946 FDJ-Mitglied und bis 1948 hauptberuflicher Funktionär der DDR-Jugendorganisation, 1948 auch SED-Mitglied. Nebenbei aber schrieb er kleine Geschichten, die auch gedruckt wurden. Sein erster Roman „Die Herren des Salzes“ (1956) war ein enthusiastischer Hymnus auf den Aufbau des DDR-Sozialismus, wie er auch von anderen Autoren wie dem Schlesier Hans-Jürgen Steinmann (1929-2008) mit dem wirklichkeitsfernen Betriebsroman „Die größere Liebe“ (1957) geliefert wurde.
Mit seinem Kriegsroman „Die Stunde der toten Augen“ aber wurde Harry Thürk über Nacht republikweit bekannt: Es geht um eine deutsche Fallschirmjägereinheit in Masuren, die noch im Oktober 1944, als die Niederlage Deutschlands schon absehbar ist, hinter der russischen Front in nächtlichen Einsätzen abspringt und Sabotageakte verübt. Die erste Auflage dieses 446 Seiten starken Romans, der von atemloser Spannung erfüllt ist, wurde wenige Wochen nach Erscheinen, soweit sie im Verlag „Das Neue Berlin“ noch verfügbar war, eingestampft. Alle von den DDR-Bibliotheken angekauften und zur Ausleihe vorgesehenen Exemplare wurden in den Jahren 1958/60 vernichtet, weil die Tendenz des Romans der herrschenden Ideologie widersprach. So wurde dem Autor die von „imperialistischen“ Schriftstellern der Vereinigten Staaten übernommene „harte Schreibweise“ vorgeworfen. Wegen dieses Stils mussten sich 1958 neben Harry Thürk auch Karl Mundstock (1915-2009) und der Oberschlesier Rudolf Bartsch (1929-1981) vor dem Schriftstellerverband in Berlin verantworten. Erst zwei Jahre später, als der Roman „Die Stunde der toten Augen“ in tschechischer Sprache erschien und bis 1982 eine Auflage von 800 000 Exemplaren erreichte, wurde er auch in der DDR wieder zugelassen.
Danach wich er mit seinen Romanen auf ostasiatische Themen aus und erfuhr nur noch einmal internationale Resonanz, als er 1978 ein dickleibiges Verleumdungsbuch unter dem Titel „Der Gaukler“ gegen den russischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1918-2008) veröffentlichte.

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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