Was hält die Gesellschaft zusammen?

Die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, hat eine hohe praktische Bedeutung. Sie stellt sich für uns in einer Zeit durchgreifender Veränderungen. Veränderungen gab es natürlich schon immer, aber wir leben heute in einer Zeit des permanenten, beschleunigten Wandels. Dahinter stehen globale technische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen. Die weltumspannende Kommunikation in „real time“, die mit Radio und Fernsehen begann, hat durch das Internet eine ganz neue Dimension erreicht. Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, offene Märkte, die zunehmende Mobilität von Menschen führen zu einer immer engeren weltweiten Vernetzung. Einzelne Arbeitsprozesse und ganze Unternehmen haben sich auf dieser Grundlage neu strukturiert, die Lebensläufe Einzelner sind verschlungener geworden.
Die Globalisierung wirkt sich auf alle Bereiche aus. Unsere Gesellschaft ist viel heterogener geworden, kulturell und religiös, auch durch die Zuwanderer, die in unser Land gekommen sind. Wir lernen, dass Vielfalt eine Bereicherung und keine Bedrohung ist. Aber es besteht auch die Gefahr eines beziehungslosen Nebeneinanders und dass man übergreifende Anliegen im Meer der Einzelinteressen aus den Augen verliert. Dazu trägt auch bei, dass sich die Lebenswelten von Jung und Alt zunehmend auseinander entwickeln.
Hinzu kommt, dass die moderne Berufswelt vielen Menschen ein hohes Maß an Flexibilität abfordert. Zunehmend befristete Arbeitsverhältnisse, häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes mit mehrfachen Umzügen lassen die Verwurzelung in einem vertrauten sozialen Umfeld schwächer werden. Die Anforderungen an die Flexibilität geraten immer wieder in einen Gegensatz zum Grundbedürfnis der Menschen nach Partnerschaft und Familie, dem Wunsch nach Bindung, Zugehörigkeit und Verantwortungsübernahme.
Diese Entwicklungen haben neue Freiheiten, aber auch neue Unsicherheiten geschaffen. Man mag die damit verbundenen Probleme beklagen. Aber wir werden das Rad nicht zurückdrehen. Wir können die Bedingungen nur begrenzt beeinflussen und ändern. Deswegen müssen wir uns so gut wie möglich darauf einstellen.
Der freiheitlich verfasste Staat ist ein Staat mit begrenzter Machtfülle. Das ist Voraussetzung für ein Leben in Freiheit. Staatliche Allzuständigkeit würde zu einer Überforderung des Staates und einer Unterforderung der Gesellschaft und ihrer Bürger führen. Unsere freiheitliche Ordnung lebt davon, dass die Bürger eigenverantwortlich mit Blick auf das allgemeine Wohl handeln. Freiheit und Verantwortung müssen Hand in Hand gehen. Dieser Gedanke liegt dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes zugrunde. Wachsende Vielfalt, Flexibilisierung, Virtualisierung und Mobilität dürfen nicht dazu führen, dass wir das Bewusstsein für das Ganze aufgeben. Wir müssen uns einen Vorrat an Gemeinsamkeit bewahren, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen und neue Herausforderungen nicht bewältigen kann. Gerade als Verfassungsminister ist es mir wichtig, diese freiheitliche Gesellschaft im Sinne unseres Grundgesetzes zu schützen, zu erhalten und zu fördern.
Jede freiheitliche Ordnung braucht ein möglichst hohes Maß an freiwilliger Übereinstimmung und gemeinsamen Vorstellungen, wie man lebt und wie man zusammenlebt. Am Ende kommt es darauf an, dass wir uns ein Gefühl der Zugehörigkeit bewahren. Ganz ohne Gefühle, zum Beispiel mit einem reinen Verfassungspatriotismus, wird es nicht gelingen, dass Menschen sich so eingebunden fühlen, dass sie bereit sind, Verantwortung für sich und ihre soziale Gemeinschaft zu übernehmen. Wer sich nirgendwo zugehörig und aufgehoben fühlt – sei es in der Familie, seiner Stadt, im Verein oder in seinem Glauben -, wird sich schwer tun, den Punkt zu erreichen, an dem er Verantwortung übernimmt und sich für ein Anliegen engagiert. Deswegen ist unsere und jede freiheitliche Gesellschaft auch auf Identifikation angewiesen, auf Vorbilder, Empathie, gemeinsame Wertschätzungen und Erinnerungen, überzeugtes Eintreten der Menschen für ein freiheitliches Miteinander.
An einzelnen Stellen müssen wir aufpassen und gemeinsam gegensteuern: Teile der Eliten haben soziale Verantwortung ersetzt durch einen Freiheitsbegriff, der nur noch sie selbst begünstigt. Man kann das auch Maßlosigkeit und Gier nennen. Damit einher geht ein Vertrauensverlust nicht nur in Personen, sondern auch in die Ordnung, die von diesen Teilen der Eliten maßgeblich mit gestaltet wird. Sorgen muss uns auch die abnehmende Bereitschaft machen, sich für gemeinsame Anliegen zu engagieren, sei es in Sportvereinen, im karitativen Bereich, im Bevölkerungsschutz, in NGOs, Bürgerinitiativen oder anderswo. Das geht einher mit einem teilweise nur gering ausgeprägten Interesse an demokratischen Entscheidungsprozessen – „Politikverdrossenheit“ und „Wahlmüdigkeit“ stehen dafür als Schlagworte.
Defizitäre Bildungsverläufe, ungezügelter Medienkonsum, gefühlte Ungerechtigkeit, die Erfahrung von Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit begünstigen einen Rückzug Einzelner aus der Gesellschaft. Das wiederum wirkt negativ auf den inneren Zusammenhalt zurück. In der öffentlichen Diskussion der letzten Monate zur Finanz- und Wirtschaftskrise wurde deutlich, dass sich viele Menschen fragen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Diese Unsicherheit müssen wir ernst nehmen. Und nicht nur Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft stellen sich diese Frage.
Enorm wichtig für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist, wie wir mit der Herausforderung Migration umgehen. Ralf Dahrendorf hat einmal davon gesprochen, dass wir heute in einer „entfesselten Welt“ leben. Globalisierung und Migration würden vielfältige neue Freiheiten eröffnen, sie würden aber auch Anlass zu neuen Formen sozialer Konflikte geben. Die heutigen Migrationsbewegungen schätzt er als eine der größten sozialen Herausforderungen überhaupt ein. Viele Zuwanderer sind zwischen Zugehörigkeitswunsch und Angst vor der Aufgabe ihrer Herkunftskultur hin- und hergerissen. Das müssen wir verstehen, und wir müssen deutlich machen, dass wir niemandem etwas wegnehmen wollen.
Zuwanderung eröffnet unserem Land neue Möglichkeiten und Chancen in einer global vernetzten Welt. In Deutschland leben rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Die meisten von ihnen haben ihren Platz in unserer Gesellschaft längst gefunden. Es gibt viele Migranten die außerordentlich erfolgreich in Schule, Studium und Beruf sind. Sie nehmen führende Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ein.
Ein Teil der Migranten hat aber auch Probleme, sich in Deutschland zurecht zu finden. In der Schule und auf dem Arbeitsmarkt wird das immer wieder deutlich. Mehr ausländische Schüler besuchen eine Hauptschule und weniger ein Gymnasium. Mehr ausländische Schüler brechen die Schule vorzeitig ab. Die Arbeitslosenquote ist bei Migranten doppelt so hoch wie bei Deutschen.
Das schlechte Abschneiden einzelner Migrantengruppen mit der ethnischen Herkunft zu begründen, wäre falsch. Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass bei vergleichbaren sozialen Voraussetzungen kaum Unterschiede zu anderen Bevölkerungsgruppen bestehen. Hier sehe ich einen klaren Auftrag auch an die Politik, durch frühzeitige und gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen, aber auch der Erziehungskompetenz ihrer Eltern, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sozialer Aufstieg und gesellschaftliche Teilhabe in allen Teilen unserer Bevölkerung möglich sind.
Wir haben hier schon einiges getan. Es liegt aber noch viel Arbeit vor uns. Integration ist ein langwieriger, generationenübergreifender Prozess, der aus vielen kleinen Schritten besteht. Sie verlangt von der Mehrheitsgesellschaft Offenheit und Respekt; sie verlangt aber auch von den Zuwanderern etwas sehr Grundlegendes: die Bereitschaft, in unserem Land heimisch zu werden und Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Die aufnehmende Gesellschaft darf und muss verlangen, dass Zuwanderer sich aktiv bemühen, bestimmte Regeln und Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, kennen zu lernen und zu akzeptieren. Voraussetzung dafür sind ausreichende Sprachkenntnisse.
Unser Ziel muss sein, eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens zu finden, auf der niemand seine eigene Identität, seine kulturellen Wurzeln aufgeben muss, wir andererseits aber offen genug sind, um uns aufeinander einzustellen und uns als Teil eines Gemeinwesens zu fühlen. Dazu brauchen wir auch institutionalisierte, dauerhafte Dialogforen wie die von mir gegründete Deutsche Islam Konferenz.
Was eine in sich vielgestaltige Gesellschaft zusammenhält und ein Gefühl des Miteinanders in der Vielfalt entstehen lässt, hat auch damit zu tun, Konflikte auszuhalten und darauf vorbereitet zu sein; es hat mit Bindekräften wie Toleranz, Respekt, Vertrauen und Empathie zu tun. Im Vordergrund steht, Fremdheit und Vorbehalte zu beseitigen. Staat und Gesellschaft sind gefordert, Polarisierungen abzubauen und integrierend zu wirken.
Es muss uns mit Sorge erfüllen, dass wir derzeit in unserer Gesellschaft Entwicklungen erleben, die zivilisierte Formen der Konfliktaustragung weit hinter sich lassen. Das gilt für die zu hohe Gewaltbereitschaft und Gewaltkriminalität gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden und das gilt auch für die Zunahme extremistischer Einstellungen und Straftaten.
Die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass in den letzten fünfzehn Jahren die registrierten Straftaten kontinuierlich abgenommen haben. Zugenommen haben aber die Zahlen der Tatverdächtigen für Gewaltdelikte, also für gefährliche schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Raub, Mord und Totschlag. Das gilt für alle Altersgruppen. Der Anstieg ist aber vor allem durch Zuwächse bei Jugendlichen und Heranwachsenden bedingt.
Die polizeiliche Kriminalstatistik gibt allerdings nur ein unvollständiges Bild wieder, da sie nur die angezeigten Straftaten erfasst. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Bereitschaft zur Anzeige zugenommen hat. Wir wissen aber nicht genau, in welchem Umfang das der Fall ist. Und wir wissen nicht, wie viele Taten gar nicht erst angezeigt werden. Deshalb brauchen wir verlässliche Dunkelfeld-Erhebungen. Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat im Auftrag meines Hauses eine solche Dunkelfeld-Studie durchgeführt. Befragt wurden rund 50.000 Schüler der 4. und 9. Klassen in zufällig ausgewählten Landkreisen. Hierbei haben wir einige überraschende und durchaus ermutigende Ergebnisse gefunden:
Die Dunkelfeldbefunde zeigen, dass seit 1998 insgesamt eine gleich bleibende bis rückläufige Tendenz für Jugendgewalt zu beobachten ist. Das steht entgegen den gelegentlich in den Medien berichteten dramatischen Anstiegen. Die überwiegend positiven Trends finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender Faktoren und im Sinken gewaltfördernder Lebensbedingungen.
Wir müssen das Thema Gewalt unter jungen Menschen also differenziert betrachten und dürfen Schreckensmeldungen nicht auf den Leim gehen. Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen könnten. Vielmehr müssen wir uns der Faktoren annehmen, die die Entwicklung zur Gewalttätigkeit begünstigen. Dazu gehören die Erfahrung von Gewalt in der eigenen Familie, Alkohol und Drogenkonsum, Gewaltakzeptanz oder eine so genannte „Machokultur“, die sich zum Teil mit ethnischen oder religiösen Überlegenheitsvorstellungen mischt. Auch die Wirkung gewaltverherrlichender Filme und Computerspiele dürfen wir nicht unterschätzen. Den stärksten Einfluss hat aber das Umfeld der Jugendlichen, ihr soziales Netzwerk. Wer gewaltbereite Freunde hat, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst zum Täter zu werden.
Gewalt hat viele Ursachen und eine eigene Dynamik. Die oft wenig zielgerichtete, die nächstliegenden Opfer treffende Gewaltausübung von Jugendlichen kann offensichtlich das Gefühl verleihen, „etwas geschehen lassen zu können“, etwa den Schulalltag nachhaltig zu beeinflussen und somit eine sonst für viele eher unbekannte Selbstwirksamkeit erleben zu lassen. Diese Erkenntnisse müssen noch stärker in die Praxis einfließen.
Auch die Entwicklungen im Links- und Rechtsextremismus geben uns weiterhin Anlass zur Besorgnis. Beide Phänomene richten sich gegen den freiheitlich-demokratischen Grundkonsens unserer Gesellschaft mit dem Ziel einer Spaltung und Destabilisierung unserer Ordnung. Beide Phänomene mahnen uns, unser Leben in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als bleibende Verantwortung und gemeinsame Aufgabe zu sehen.
Die linksextremistische Szene hat ihre Gewaltbereitschaft am 1. Mai dieses Jahres in Berlin und anderen Städten einmal mehr unter Beweis gestellt. Die Hemmungslosigkeit mit der angebliche Demonstranten in Berlin Polizeibeamte angegriffen und Hunderte verletzt haben, ist erschreckend.
Mit den „Autonomen Nationalisten“ hat sich im Rechtsextremismus eine Aktionsform etabliert, die bei Demonstrationen – zumal in Verbindung mit einem entsprechenden Auftreten gewaltbereiter linksextremistischer Gegendemonstranten – ein hohes Gewaltpotenzial darstellt. Auf beiden Seiten sind Jugendliche und Heranwachsende die Hauptakteure.
Bei extremistischer Gewalt haben wir das Problem, dass Täter sich radikalisieren, weil sie sich in unserer Gesellschaft entwurzelt, nicht gebraucht und nicht anerkannt fühlen. Im gesellschaftlichen Abseits stehend, haben sie den Einflüsterungen von Rattenfängern unterschiedlicher Art nur wenig entgegenzusetzen: „Diese jungen Leute suchen etwas, was ihnen Halt gibt. Es ist nur eine Frage, wer sie zuerst kriegt – die Scientologen, die Neonazis oder die Islamisten“, sagte mir ein Ermittler. Bei islamistisch motivierten Gewalttätern findet die Radikalisierung inzwischen auch in Deutschland statt – eine relativ neue Tendenz, die uns Kopfzerbrechen bereitet.
Weit im Vorfeld solcher Fehlentwicklungen besteht Handlungsbedarf. Wir – Staat und Gesellschaft – müssen nicht nur etwas gegen Gewalt und Extremismus unternehmen, sondern auch etwas dafür tun, um das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken, um gefährdeten jungen Menschen zu sagen: Ihr gehört zu uns, wir brauchen euch, ihr könnt etwas Sinnvolles tun für euch selbst und für die Gesellschaft. Viele würden lieber Teil der Gesellschaft sein. Das ist viel mehr verbreitet als das Bedürfnis nach Fundamentalopposition.
Um diesen Handlungsbedarf deutlich zu machen, haben die Familienministerin Frau von der Leyen und ich als Innenminister eine gemeinsame Initiative gestartet. Sie soll vorhandene Probleme benennen, das Bewusstsein für Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts schärfen und exemplarische Lösungen vorstellen. Wir haben uns gefragt: Was sind die Grundlagen unserer Gesellschaft, wie können wir sie festigen und verstetigen, um unser Zusammenleben zu fördern? Wer sind die dafür notwendigen Akteure? Diese Fragen müssen wir diskutieren. Dafür brauchen wir eine breit angelegte Debatte. Die Antworten könnten den Kern für eine nationale Strategie zur Förderung gesellschaftlichen Zusammenhalts bilden.
Zwar werden wir Gewalt und Extremismus nie gänzlich verhindern können, aber wir können Menschen durch Erziehung, Achtung und Anerkennung, durch politische Bildung, durch vorgelebte Toleranz und durch das Bemühen um gute Lebensgrundlagen zu einem verantwortlichen Handeln anregen.
Die entscheidenden Weichen werden schon bei Kindern und Jugendlichen gestellt. Ich habe vor einiger Zeit bei einem Vortrag eines Neurowissenschaftlers gelernt, dass Kinder, die in einer unsicheren Umwelt aufwachsen, mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit schwerer zu sozialisieren und zu orientieren sind, was vielfältige Folgen bis hin zur Steigerung der Gewaltbereitschaft hat. Hier müssen wir ansetzen und soziale wie emotionale Kompetenzen fördern, die es für ein gedeihliches Miteinander braucht. Dann wird es besser gelingen, Konflikte auszuhalten und sich auf die Vielfalt unserer Lebenswelt einzulassen.
Wir müssen diejenigen, die auf dem falschen Dampfer sind, in die Gesellschaft zurückholen. Es gibt wirksame Beispiele, wie man etwas erreichen kann. So hat die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen mit einem freien Träger, dem Violence Prevention Network, ein Konzept entwickelt, das junge Strafgefangene mit rechtsradikalen Einstellungen hilft, in die Gesellschaft zurückzukehren. Das Programm ist freiwillig und beginnt 6 Monate vor Haftentlassung. Anschließend werden die jungen Männer noch bis zu einem Jahr im Alltag begleitet. Die Ergebnisse des Programms sprechen für sich. Die Rückfallraten reduzieren sich auf rund 7 Prozent. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Ressourcen für solche Projekte bereitstellen und sich diese Projekte zu Regelangeboten im Vollzug entwickeln.
Die Erkenntnis, dass soziales Verhalten unerlässlich ist für ein gutes Miteinander, muss aber schon viel früher greifen, in den Familien, in den Kindergärten und Schulen. Wir müssen Eltern, wo es nötig ist, unterstützen. Denn in den Familien beginnt das soziale Leben, auch der konstruktive Umgang mit Gefühlen und Konflikten. Kinder und Jugendliche müssen die Chance haben, im Alltag zu lernen, dass Aggressionen und Konflikte zum Leben dazugehören. Sie müssen Wege kennen lernen, sie gewaltfrei zu lösen.
Wir sind gut beraten, dem Grundsatz „prävenieren statt reparieren“ zu folgen. Erfolgreiche Prävention ist nachhaltiger als wenn wir uns auf Maßnahmen der Reparatur beschränken. Das ist eine der Folgerungen auch des Kongressgutachtens von Frau Dr. Steffen. Ich stimme mit ihr auch darin überein, dass Kriminalprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die alle Politikbereiche sowie alle staatlichen und nichtstaatlichen Stellen zur Kooperation auffordert. Familien, Vereine, Religionsgemeinschaften, Kindergärten und Schulen sollten gemeinsam darauf hinarbeiten, Gewalt und Extremismus durch frühe, umfassende Förderung und durch aufeinander aufbauende nachhaltige Prävention zu reduzieren, bevor sie sich entwickeln und verfestigen. Dazu bedarf es auch eines intensiven Austauschs zwischen Forschung und Anwendung.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in unserer Präventionspolitik: weg von einer kurzfristigen, an einzelnen Anti-Gewalt-Projekten orientierten Politik, hin zu einer vorgelagerten ganzheitlichen Förderung. Internationale Studien legen nahe, damit so früh wie möglich zu beginnen, um Kinder auf eine komplexe und offene Gesellschaft vorzubereiten. Zu entwerfen wäre eine Gesamtstrategie, die geeignet ist, Polarisierungen und Ausgrenzungen abzubauen und die stattdessen Zugehörigkeit vermittelt und integriert.
Wie eine vorgelagerte ganzheitliche Förderung aussehen kann, zeigt das Augsburger Projekt Papilio. Es setzt auf frühe, universelle Förderung aller Kinder in Kindergärten, unabhängig von Auffälligkeiten und unabhängig von identifizierbaren Kriminalitäts- und Gewaltrisiken. Das Projekt fördert Lebenskompetenzen und sozial-emotionale Kompetenzen. Es stärkt genau die Fähigkeiten und Haltungen, die in der tertiären Prävention mit großem Aufwand nachgeholt werden müssen. Ich bin überzeugt, die Evaluation des Augsburger Projekts zeigt das, dass solche Initiativen die Konfliktfähigkeit und die soziale Verantwortung in unserer Gesellschaft stärken.
In einer offenen Gesellschaft müssen Menschen lernen, eigenverantwortlich zu handeln und Konflikte friedlich beizulegen. Und sie müssen Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern Bereicherung erleben können. Um Gewalt und Extremismus einzudämmen, müssen wir noch stärker vorbeugend arbeiten und uns auf Faktoren konzentrieren, die sich positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken. Das ist für eine vorsorgende Sicherheitspolitik von entscheidender Bedeutung.

Dies ist ein genehmigter Redebeitrag von Innenminister Dr. Wolfgang Schäuble. (C)-Vermerk: www.bmi.bund.de

Über Schäuble Wolfgang 7 Artikel
Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg, ist seit 2009 Bundesfinanzminister. Zuvor war er von Bundesminister des Innern. Schäuble, Dr. jur., ist das einzige amtierende Kabinettsmitglied, das bereits vor der Deutschen Wiedervereinigung als Minister einer deutschen Bundesregierung angehörte. Der Vater von vier Kindern war von 1984-1989 Bundesminister für besondere Aufgaben sowie Chef des Bundeskanzleramtes.

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