Wie steht es mit der Freiheit und Würde des Menschen am Lebensende?

Kerze, Foto: Stefan Groß

Im Jahre 2015 hat der Bundestag mit einer relativ großen überparteilichen Mehrheit eine Gesetzesänderung beschlossen, die in restriktiver (und sachlich unklarerer) Weise das Thema „Sterbehilfe“ neu regelte. Gegen dieses Gesetz haben verschiedene Organisationen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Das BVG wird demnächst darüber zu befinden haben. Immerhin hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Mitte dieses Jahres eine Entscheidung gefällt, die aufhorchen ließ und bei dem Gesundheitsminister der bis jüngst amtierenden Bundesregierung Empörung ausgelöst hat: in bestimmten schwerwiegenden Fällen müsse die Beschaffung von Chemikalien zum Zweck der Selbsttötung ermöglicht werden! – Der Prozess der Urteilsbildung zu diesem Thema ist noch längst nicht zu einem Ende
gelangt.

Einstieg: das Votum eines alten Politikers

Der frühere Erste Bürgermeister von Bremen, Henning Scherf, hat sich vielfach zu dem Thema „Altern und Tod“ (auch in Buchform, auch in Talkshows) geäußert. In einer SPD-Einladung zu einem Gespräch mit ihm Mai 2017 (Für eine Kultur der Menschlichkeit am Ende des Lebens) war zu lesen:

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der jeder eine Rolle zu erfüllen hat. Wir sterben, angeschlossen an Schläuche, auf der Intensivstation eines Krankenhauses, und wenn wir Glück haben, ist jemand da, der unsere Hand hält. Immer öfter nehmen sich Menschen im hohen Alter das Leben, weil sie einsam sind, weil sie ihren wenigen und weit weg wohnenden Kindern und Enkeln nicht zur Last fallen wollen. Wir diskutieren sogar in unserem Parlament die Möglichkeit der Sterbehilfe, weil viele von uns dies wollen – weil wir den Tod nicht in Demut erwarten können, sondern im Griff haben wollen. Wir lassen uns anonym bestatten, weil ohnehin niemand da wäre, der unser Grab pflegt. Wir verdrängen unsere Trauer und machen so weiter wie bisher, weil unsere Funktionsgesellschaft das so von uns erwartet.

Doch es gibt auch die Gegenbewegung: Es gibt ehrenamtliche Hospizhelferinnen, die Familien unterstützen, damit das Sterben zu Hause möglich ist. Mehr und mehr Hospize entstehen, die Sterbende liebevoll aufnehmen, die niemanden haben, der ihnen beistehen könnte. Ehrenamtliche Gruppen werden gegründet, die sich um Trauernde kümmern. Und es gibt neue Formen der Beerdigung, die aus einem verkrusteten und Angst einflößenden Ritual einen persönlichen Abschied zu machen versuchen. Wir erleben also gerade so etwas wie eine gesellschaftliche Kursänderung, noch nicht konsistent, noch nicht in allen Bereichen, noch nicht von allen vollzogen, aber ein Anfang ist gemacht.

Als ich diesen Text las (einzelne Formulierungen halte ich für durchaus problematisch), hatte ich den Eindruck, er treffe in etwa doch ganz gut die aktuelle Diskussionslage in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Das Leben – Krankheit zum Tode

Schwer ist es und hoch komplex, Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden. Ist das Leben nicht am besten beschrieben mit der Kierkegaardianischen Wendung, es sei eine einzige „Krankheit zum Tode“? Gehört nicht das Leiden – zunächst nur an diesem und jenem Gebrechen, schließlich an dem Ausfall von immer mehr lebenswichtigen Funktionen – zur angemessenen Beschreibung des Lebens selbst?

Nimmt man die WHO-Definition von Gesundheit hinzu, gibt es konkret betrachtet sowieso keine gesunden Menschen auf der Welt. Sie lautet: Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.

Sterben und Tod in der Perspektive der Philosophie

Philosophie, so vernehmen wir es bei Platon, ist Einübung ins Sterben. Eine Erkenntnis, die freilich das Streben nach dem Guten im Leben und die Bedeutung des Eros nicht in Frage stellte. Sokrates, der die körperliche Fitness nicht vernachlässigt hat, gab seinen Schülern im Phaidon zu verstehen, wie ein durch Philosophie gestärkter Geist das Sterben annimmt.

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich in ihrer prominenten Ausprägung bei Martin Heidegger ganz intensiv, daseinsanalytisch, auf die Fundamentalausrichtung des Lebens als Vorlaufen-zum-Tod eingelassen. Was dieses Denken umtrieb, war – unter anderem natürlich – die Frage, wie sich im Betrieb der verwalteten Welt und des Lebens aus zweiter Hand in der ausdifferenzierten, technologisch durchgeformten Gesellschaft so etwas wie Individualität denken und leben lasse – schließlich sei ein entscheidendes Merkmal der vom Tausch bestimmten, durch die Herrschaft der Technik geprägten Gesellschaft die Austauschbarkeit: Der Einzelne ist überall vertretbar und ersetzbar. Allein, so Heideggers Grundthese in „Sein und Zeit“ (1927), im Vorgang meines Sterbens, den mir niemand abnehmen kann, bin ich ganz bei mir selbst. Mithin muss mir daran liegen, schon jetzt, in der Mitte meines Lebens, in der das Sterben so fern zu liegen scheint, ‚vorzulaufen’ zu meinem Tod. Es kann gelingen, alle meine Lebensvollzüge mit dieser „Eigentlichkeit“ zu prägen und so mein an sich immer schon entfremdetes Leben in eine sinnhafte Ganzheit zu transformieren.

Sterben und Tod in medizinisch- technologischer Perspektive

Die moderne Antwort auf die abgründige Angst vor dem Tod findet ihren starken Ausdruck in einem technologischen Verständnis des Körpers.

Dazu gehört das stetige und angestrengte Bemühen um Prävention. Die Sorge des einzelnen um sich selbst wird allerdings systematisch bewirtschaftet in einer gigantischen, extrem profitablen und nicht ausschließlich am Kranken, sondern am Gewinn der Großkonzerne ausgerichteten medizinischen Industrie. Dazu passt eine Medizin, die sich, partikularisiert auf die technische Kompetenz für einzelne Organe, im Grunde als ungeheuer ausdifferenzierter Reparaturbetrieb versteht.

Zig-tausendfach werden bekanntlich in Deutschland überflüssige Operationen durchgeführt. Die Ärzte stehen unter dem Druck der Krankenhaus-Betreiber: Sie müssen liefern. Und wollen es auch: Denn sie profitieren mit. Und alles andere als unbegründet ist die Furcht vieler Menschen, über das medizinisch indizierte Maß hinaus therapiert und so am Sterben regelrecht gehindert zu werden. Treibt die Angst um das eigene gesunde, schmerzfreie, möglichst lange Leben die Vorsorge-Medizin an, so schiebt sich nunmehr bei vielen eine andere Angst in den Vordergrund: die berechtigte Angst, man könne in der Endphase seines Lebens nicht mehr Person, sondern nur noch Anhängsel therapeutischer Apparaturen sein.

Selbst für Theologen wie den früheren ev. Bischof Professor Wolfgang Huber wäre die eigentlich notwendige Debatte diejenige über Behandlungsverzicht und die Einstellung von Therapien in der Endphase von Erkrankungen. Und das alles heißt auch – und hier folge ich W. Huber – : Die Debatte über die fortschreitende Vermarktlichung unseres Gesundheitswesens darf nicht länger umgangen werden.[1]

Geben und Empfangen – Überlegung zur Autonomie des Menschen

Ich nehme Bezug auf das Alltagswissen, nämlich dass Passivität und Aktivität, Geben und Empfangen sich im Leben ständig verschränken – und dass, je älter wir werden desto mehr, wir auf Hilfen angewiesen sind. In der Lebensphase „Alter“ wird das Empfangen offenkundig dominanter, auch wenn in erbaulichen Reden oft betont wird, wie viel die alten Menschen der Gesellschaft noch geben können.

Natürlich heißt das auch: der an Krankheiten leidende Mensch ist der sozial immer abhängiger werdende. Er unterliegt entsprechend auch stärkeren Einflussnahmen. Manche Zeitgenossen folgern daraus, Äußerungen, in denen der geschwächte Mensch sich auf seine Selbstbestimmung beruft, seien abstrakt oder seien als gleichsam infiziert von seiner Schwäche aufzufassen und müssten deshalb tendenziell als pathologisch gelten. Die Gegenfrage enthüllt die Oberflächlichkeit jener Annahmen: Wo zeigt sich denn in der Blüte, in der Mitte des Lebens, die unhinterfragbare Autonomie? Berufswahl, Partnerwahl – da haben wir doch wirklich autonom entschieden! Im ehrlichen Rückblick haben wir freilich tausend Einflussnahmen zu registrieren und müssen erkennen, wie wir dem Wunschdenken und bestimmten starken Triebregungen oder gesellschaftlichen Trends erlegen sind. Unsere autonome Vernunft[2] ließ uns sagen: bis dass der Tod uns scheidet; und dies im WISSEN, dass 50 % der Ehen geschieden werden. Wir setzen so unser ganzes Leben auf ein ‚Spiel’ mit 50 % Risiko des Scheiterns.

Ich nehme diese trivialen Anspielungen zum Anlass, darauf zu dringen, man möge damit aufhören, angeblich determinierende Ursachen gegen das Normativ „Selbstbestimmung“ auszuspielen. Selbstbestimmung ist die leitende NORM, unter der wir unsere Verhältnisse zu regeln und zu beurteilen haben.

 

Selbstbestimmung und Suizid

Vorsorge ist auch elementar wichtig, wenn man einem Exzess des Leidens und des Kontrollverlustes durch eigenverantwortliche Beendigung des Lebens zuvorkommen will. Weil wir auch in der Berufung auf Selbstbestimmtheit soziale Wesen sind, geht es auch in diesem elementaren Prozess (‚schwerste Stunden des Lebens‘) um mitmenschliche Begleitung. Gesetze, die das behindern, sind zu bekämpfen.

Mit Blick auf die Begleitung eines zum Sterben Entschlossenen in seinen letzten Stunden ist zurzeit dieser Extremsituation darauf an zu begreifen, dass es in dieser Situation um das ganz und gar individuelle Verständnis von Würde des Lebens und alle      damit zusammenhängenden religiös-metaphysischen Vorstellungen geht.

Ärztliche Suizidhilfe ist ein heißes Thema in öffentlichen Debatten. In dieser Frage liegt zurzeit größere Aufgeschlossenheit und ethische Konsequenz auf Seiten der Rechtsprechung, weniger auf Seiten des Parlaments, welches 2015 einen Beschluss gefasst hat, der zur Verwirrung der Geister beigetragen hat. (Stichwort: Verbot der „organisierten Sterbehilfe“).

Das höchste Verwaltungsgericht in Deutschland hat 2017 geurteilt, dass in besonders extremen Dauerleidenssituationen einem Menschen die chemischen Substanzen, mit denen er sich das Leben nehmen kann, nicht vorenthalten werden dürfen. Es ist symptomatisch für die ideologische Durchdringung dieser Diskussionen, dass der amtierende Gesundheitsminister Gröhe wiederholt in Stellungnahmen zu erkennen gegeben hat, dass er nicht gewillt sei, dieses Urteil als verbindlich zu akzeptieren. Diese rechtsstaatlich gesehen skandalöse Haltung ist vermutlich Ausdruck der Überzeugung, auf diese Weise würden die Standards einer christlichen Lebens-und Schöpfungsethik aufrechterhalten.

Ärztliches Ethos

Ich halte fest, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis ein VERHÄLTNIS ist. Das bedeutet: Wenn es gilt, herauszufinden und größere Klarheit zu gewinnen, was ärztlich erlaubt, geboten oder verboten sein soll, haben wir als Patientinnen und Patienten ein Wort mitzureden, auch wenn das Arzt-Patientenverhältnis in sich asymmetrisch ist. Die Vorstellung, es sei Sache von Standesvertretungen der Ärzte (Ärztekammern), gleichsam separat in Eigenregie darüber zu befinden, was angemessen als ärztliches Ethos zu verstehen ist, bedarf der Korrektur. „Es gibt keinen Auslegungsprimat des ärztlichen Ethos durch Ärztefunktionäre.“ Und ich füge hinzu: auch nicht durch Parlamente.

Nachdem die moderne Medizin als Schattenseite ihrer großartigen Erfolge, die wir alle gern in Anspruch nehmen, auch die extreme Verlängerung von Siechtum und chronischen Leiden hervorgebracht hat, ist die Rede vom „natürlichen“ Sterben längst hochproblematisch geworden. Schließlich ist die Definition, wann ein Mensch „tot“ ist, heute eine Angelegenheit ‚wissenschaftlich vereinbarter’ Festlegungen, bei denen das Interesse an Organentnahme-Möglichkeiten eine Rolle spielt. Unter solchen Umständen sollten Ärzte beim Sterben „in der Mitverantwortung bleiben“ dürfen und auch bei der Frage nach der Beendigung eines sich steigernden Leidensprozesses sich nicht zurückziehen – „soweit sie es mit ihrem persönlichen Gewissen verantworten können“ (Schöne-Seifert).

Bei dem großen Arzt Viktor von Weizsäcker findet sich eine aufschlussreiche Formulierung: Es geht da um die Erfahrung, „daß die schmerzenden und quälenden Formen des Leidens über die Wahrheit weniger zu täuschen vermögen als die freundlicheren und friedlicheren Zustände“; deshalb „müssen sie als die belehrenden gelten.“[3]

Wie soll man das verstehen? Der Mensch in seiner unvertretbaren, letztlich mit keinem zu teilenden Leidenssituation ist womöglich authentischer in seinem Urteil als die (noch) unbetroffen Argumentierenden, die in ihrem Diskurs bemüht sind, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Normgeltungsansprüchen Rechnung zu tragen.

Um im Kontrast dazu der anthropologischen Akzentsetzung, dass der Mensch in seinem Wesen als ein leidender aufzufassen sei, weiter nachzugehen, bildete von Weizsäcker den eigentümlichen Begriff der „Pathosophie“. Weisheit aus der Erfahrung des Leidens.

Suizid und Wahrung menschlicher Würde

Sich in einer freien Entscheidung das Leben nehmen zu können, unterscheidet den Menschen von allen Wesen, die wir kennen Hier zeigt sich, dass wir nicht bloße Naturwesen sind.

Ein extremes Beispiel für die Wahrung der Würde am Lebensende:

Ich erinnere an die Entscheidung jener Menschen in totalitären Regimen, die, den Abtransport in das Todeslager vor Augen, ihren potentiellen Henkern diesen letzten Triumph über das Leben nicht gönnen wollten und sich rechtzeitig selbst das Leben nahmen. In diesem ultimativen Akt bezeugten sie ihre Würde und Freiheit.

In Erinnerung gerufen sei das Schicksal Jochen Kleppers, dem wir das wunderbare Weihnachtslied „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern …“ (aus dem Jahr 1938) verdanken. Im Dezember 1942 stand die Deportation seiner jüdischen Frau und ihrer Kinder unmittelbar bevor. Die entscheidende Eintragung:

„Nachmittags war die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet

unser Leben.“[4]

Ich halte fest: ob es sich um parlamentarische oder gerichtliche Entscheidungen handelt – Keine Akzeptanz für Regeln, die den kranken Menschen entmündigen.

Ich zitiere nur ein Beispiel-Argument, das deutlich macht, auf welche Suggestionen man gefasst zu sein hat. So heißt es in einer (schon erwähnten) Stellungnahme von Prof. W. Huber: die Endlichkeit des menschlichen Lebens markiere auch „die Grenzen menschlicher Selbstbestimmung“. Das ist analytisch ein unbestreitbarer Satz; schließlich habe ich mich nicht selbst hergestellt, mich nicht für dieses Leben vorprogrammiert. Aber so simpel ist jener Satz natürlich nicht gemeint. Vielmehr will der Verfasser dazu verleiten, den Sprung von ontologischer Faktizität in die Dimension normativer Aussagen zu vollziehen. Wer es wagt, angesichts der fatalen Aussichten seiner Erkrankung den Sterbezeitpunkt selbst aktiv zu bestimmen, der verstößt dieser Auffassung nach gegen die Seins- bzw. Schöpfungsordnung. So soll die Überzeugung untergraben werden, dass die Selbstbestimmung des Menschen auch seine Selbstbestimmung bezüglich des Sterbens einschließt, gegebenenfalls zu einem Tod, den andere – Nahestehende, Außenstehende – als ‚vorzeitig’ zu beurteilen wagen.

Suizid im kulturgeschichtlichen Rückblick

Ohne eine kulturgeschichtliche Reminiszenz wird man HYSTERISCHE Reaktionen (wie die des Gesundheitsministers Gröhe) sich nicht verständlich machen können. Wer sich in der Vergangenheit das Recht herausnahm, seinem Leben „eigenmächtig“ ein Ende zu setzen, der versündigte sich gegenüber Staat und Kirche, die gemeinsam über das Monopol verfügten, einen Menschen zum Tode zu verurteilen. Der so genannte „Selbstmord“ stellte spektakulär das Monopol der Autoritäten, den Tod zu verfügen, in Frage.

Man griff in vergangenen Zeiten zuweilen zu der Maßnahme, Selbstmörder nachträglich öffentlich zu hängen, um mittels dieser Demütigung und Leichenschändung symbolisch jenes Monopol zu bekräftigen. Allemal dürfte jedem/jeder bekannt sein, dass man die nachträgliche Disqualifizierung solcher Menschen dadurch öffentlich bekundete, dass man sie von den „guten“ Toten separierte, indem man ihnen ein Begräbnis „in geweihter Erde“, also auf dem Friedhof der normalen Toten, verweigerte. Selbstverständlich gehören solche denunziatorischen Akte der Vergangenheit an. Die Selbsttötung einer erkrankten Kanzler-Gattin löste so viel respektvolle Äußerungen des Mitleids in der Öffentlichkeit aus, dass man spätestens angesichts dieses Ereignisses hoffen durfte, die Zeiten jener gesellschaftlich-kulturellen Tabuisierung der Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, seien endgültig vorbei. – Die Entscheidung des Bundestages im Jahr 2015 und die Reaktionen von Politikern und so genannten Patientenschutz-Vereinigungen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2017 lassen starke Zweifel an der zuletzt genannten Annahme aufkommen.

Heiligkeit des Lebens

Die Konjunktur dieses Begriffs in ethischen Debatten verdankt sich jedenfalls nicht spezifisch christlich-religiösen Traditionen. Für die Gläubigen ist – wie gesagt – Gott, in souveräner Allmacht und Liebe, der Herr über Leben und Tod. Die Kirche nahm für sich die Autorität in Anspruch, „im Namen „dieses Gottes die Vernichtung derer zu verfügen, die mit Bezug auf ihr abweichendes Gottes-und Weltverhältnisses für „verworfen“ erachtet wurden (die Reformatoren unterschieden sich in diesem Punkt übrigens nicht von der Haltung der katholischen Kirche, die sie so scharf bekämpften.) Auch die Rede vom „Geschenk“ des Lebens scheint mir, theologisch betrachtet, ein kulturelles Spätprodukt der religiösen Sprache zu sein

Im Übrigen gilt auch für die Verwendung des Begriffs „Heiligkeit des Lebens“ in so vielen ethischen Debatten in Deutschland, da sich darin unwillkürlich oder absichtsvoll die barbarische Geschichtsphase des Nationalsozialismus abzeichnet die die massenhafte Entwürdigung des Menschen in seiner Vernichtungsmaschinerie betrieben hatte. Aber diese Debatten werden eben so geführt, als seien die restriktiven gesetzlichen deutschen Festlegungen zu Stammzellforschung, künstlicher Befruchtung oder eben: Euthanasie Ausdruck einer „an sich“ rechtsethisch sich artikulierenden Vernunft (und nicht vielmehr Ausdruck einer spezifischen Post-nationalsozialistischen politischen Kultur). Obwohl man ansonsten andauernd vom „westlichen Wertesystem“ spricht, vernachlässigt man in diesen speziellen genannten ethisch brisanten Kontexten zumeist die Frage, wie es denn sein kann, dass andere Länder der westlichen Welt zu ganz anderen, oftmals liberaleren (oder, wie im Falle der Abtreibung: engeren) gesetzlichen Festlegungen in ethischer Verantwortlichkeit gelangen können …

Ich nenne die drei Nachbarländer Deutschlands Belgien, Niederlande und die Schweiz, in denen auf je unterschiedliche Weise Sterbehilfe nach legalen Regeln praktiziert und kontrolliert wird. Alle drei sind demokratische Rechtsstaaten und alle drei weisen – regional und national unterschiedlich – starke katholische oder protestantische Imprägnierungen ihrer Kultur auf. Erst jüngst, im August 2017, hat sich ein katholischer Orden in Belgien dafür ausgesprochen, in den eigenen Krankenhäusern in bestimmten eingegrenzten fällen aktive Sterbehilfe zuzulassen als römische Autoritäten die belgische Kommunität aufforderten, ihre Entscheidung zu revidieren, wies der ehemalige EU-Ratspräsident van Rompoy diese autoritative Intervention mit den Worten zurück, die Zeit der Geltung des Satzes „Roma locuta – causa finita“(Rom hat gesprochen – somit Ende der Diskussion!) sei endgültig vorbei.

Der Hinweis auf diese drei mit uns kulturell und geschichtlich verbundenen Länder verfolgt nicht den Zweck, nahe zu legen, bestimmte gesetzliche Regelungen dieser Länder als normativ vorbildlich auszugeben. Vielmehr soll der Blick über den (nicht mehr vorhandenen) Zaun dazu bewegen in den Discours über das rechte Verständnis von Freiheit und Würde am Lebensende Töne der Rechthaberei zu unterlaufen – als sei eindeutig zu klären, was in christlichem Sinne richtig oder falsch ist. Keine Gemeinschaft darf sich anmaßen, bezüglich des Ethos am Lebensende unter Inanspruchnahme der Gesetzgebungskörperschaften anderen vorzuschreiben, worin der „Wert“ oder die „Würde“ des Lebens bestehe, und kein einzelner, der sich sein Urteil gebildet hat, darf sich anmaßen, diese seine Betrachtungsweise zu verallgemeinern. Dieser einfache Gedanke zeigt übrigens auch die prinzipiellen Grenzen des Gesetzgebers in dieser abgründigen Lebensthematik auf.

Selbstverständlich muss man darauf gefasst sein, dass reflexartig auf die besondere Geschichte Deutschlands – staatlich angeregte und organisierte Ermordung Behinderter während des nationalsozialistischen Regimes –hingewiesen wird. Aber da eine politisch-autoritativ verfügte Tötung einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung mit dem Respekt für die Selbstbestimmung des einzelnen im Verhältnis zu seinem eigenen Tod nichts zu tun hat, ist dieser historische Hinweis wohl eher als Ausdruck von Denkfaulheit zu charakterisieren, oder als Versuch, der Anstrengung, sich im Vor laufend zum eigenen Sterben ein ganz persönliches Urteil zu bilden, auszuweichen.

Auf lange Sicht dürfte eine Europäisierung der Betrachtungsweise nicht aufzuhalten sein, weil dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine höchstrichterliche Kompetenz auch in Deutschland eingeräumt wird. (Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 2017, dass in extremen Leidenssituationen es gerechtfertigt sein kann, einem Menschen die Mittel zur Selbsttötung zur Verfügung zu stellen, kam ja erst nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichts zu Stande, welches darauf bestanden hatte, dass über den Antrag einer Schwerstkranken Person – die sich inzwischen in der Schweiz getötet hatte – zu befinden sei; die deutschen Gerichte hatten nach dem Tod der Antragstellerin die Angelegenheit ad acta legen wollen.)

Erpresste Sterbe-Bereitschaft?

Eine große Sorge wird von nicht wenigen artikuliert, die extreme Überalterung der Gesellschaft und die hohen Kosten, die der medizinische Betrieb gerade am Lebensende eines Menschen aufwendet, könnten die Entstehung einer Art Druckkulisse befördern, der sich der einzelne hilflos ausgesetzt fühlt; er will nicht länger zur Last fallen. Diese Befürchtung ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Doch dieses Problem ist nicht dadurch zu lösen, dass man dem einzelnen das Recht beschneidet, den Zeitpunkt des Endes eines grauenhaften Leidens selbst bestimmen zu können. Keine Frage: jene Sorge zeugt von einem guten Willen. Aber der Wille zum Guten rechtfertigt nicht die Einschränkung des individuellen Freiheitsrechts am Lebensende. Bereits die Formulierung, ein solches Szenario werde sich zukünftig ergeben, überspringt das Elend der gegenwärtigen Situation:

dass nämlich diese Gesellschaft die Versorgung depersonalisierter Menschen, die auf ihre soziale Umgebung teilweise aggressiv reagieren, völlig überforderten Familienangehörigen überlässt, die ihre eigene seelische und körperliche Gesundheit im aufreibenden Vollzug der Pflege ruinieren. Die Gesellschaft nimmt das hin, weil eine professionelle angemessene Pflege alle vorstellbaren finanziellen Dimensionen sprengen würde. Umgekehrt schließt die Gesellschaft die Augen vor der ökonomischen Verwertung des Elends in bestimmten Teilbereichen: so ist die professionelle Versorgung von Menschen, die nach Operationen aus der Klinik entlassen werden und dauerhaft künstlich beatmet werden müssen, für die betreffenden Pflegeunternehmen, die sich teilweise auf diesen speziellen Sektor ausgerichtet haben, ein glänzendes Geschäft.

Nachbemerkung

Unterscheidungen, die in Fachdiskussionen ebenso wie in den Debatten der gesellschaftlichen Öffentlichkeit unentwegt zur Anwendung gelangen, wie

– aktive versus passive Sterbehilfe,

– direkte versus passive indirekte Sterbehilfe,

– Unterlassen/Zulassen versus aktives Eingreifen

bedürften ganz gründlicher philosophischer Erörterung. Die Menge sehr differenzierter Untersuchungen ist schier unübersehbar. Man könnte den Eindruck gewinnen, in philosophischer Grundlagenreflexion ist dazu eigentlich schon alles gesagt der Autor dieses Beitrags hat sich in zurückliegender Zeit mit folgender Publikation an dieser Debatte beteiligt (die freilich im Raum der Politik nicht angemessen gespiegelt wird):

K.-M. Kodalle: Selbstbestimmung. Suizid, „Tötung auf Verlangen“ und aktive Sterbehilfe, in: Medizinische Indikation und Patientenwille. Behandlungsentscheidungen in der Intensivmedizin und am Lebensende, hrsg. v. Ralph Charbonnier, Klaus Dörner, Steffen Simon, Stuttgart 2008, S. 95-119.

Eine kritische Befassung mit einer sozialethischen Stellungnahme der Evangelischen Kirche findet sich hier:

K.-M. Kodalle: Der Tod als „Geschick“? Die Stellungnahme der Evangelischen Kirche zum Stellenwert der Patientenverfügung. Kritische Anmerkungen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 49. Jg. (2005) Heft 3, S. 223-229.

[1] Ich beziehe mich in dieser kurzen Abhandlung wiederholt auf 2 jüngst in der F.A.Z. erschienene Artikel: 1.) Wolfgang Huber, „Hilfe im Sterben, Hilfe zum Sterben“, F.A.Z. vom 3.11.2014; 2.) Bettina Schöne-Seifert, „Wenn es ganz unerträglich wird“, F.A.Z. vom 6.11.2014.

[2] Dass „Selbstbestimmung“ und „Autonomie“ nicht deckungsgleiche Begriffe sind, kann hier nur angemerkt, nicht angemessen erläutert werden.

[3] Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen 1956, S. 11.

[4] Selbstmord unter dem Kreuz. Am 11. Dezember jährt sich der Freitod Jochen Kleppers zum 50. Mal. FAZ vom 13. Dezember 1992.

 

 

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