CORONA – Filmbrancheninfos #7

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Seit gestern fordert der Produzentenverband NRW einen bundesweiten Drehstopp für Fiction-Produktionen. Produzentenallianz und Verdi einigten sich auf einen Tarifvertrag für die Kurzarbeit. Und die Kulturstaatsministerin glaubt, dass durch die Corona-Krise der Stellenwert von Kultur allmählich besser begriffen werde. Solche Hoffnungen hegt auch unser Kolumnist zum Abschluss der heutigen Nachrichten.

Auf einer interaktiven Deutschlandkarte können alle ablesen, wie sich das Corona-Virus in ihrer Region ausbreitet. „Zeit Online“ sammelt die Daten direkt bei den 401 Stadt- und Landkreisen ein und aktualisiert sie laufend.

Mitten in der Katastrophe glaubt man ja gerne, dass die Welt danach nie mehr dieselbe sein wird. Das hofft auch Claus Otto Scharmer, Wirtschaftswissenschaftler und Organisationsforscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Und erklärt in „Acht aktuellen Lektionen: Vom Corona-Virus zum Klimaschutz“, was wir aus der Krise jetzt schon lernen können.

Ganz so weit wird die Kulturstaatsministerin wohl nicht gehen wollen, wenn sie heute die schöpferische Kraft der Kulturarbeiter lobt. „Diese vielen neuen Ideen im Netz hätten wir mit noch so schlauen Programmen gar nicht stimulieren können.“ Hinter aller Sorge um deren Zukunft sieht Monika Grütters auch einen Hoffnungsschimmer: Sie habe „den Eindruck, dass jetzt sehr viele den Stellenwert von Kultur unmittelbar begriffen haben. Sie ist eben kein Standortfaktor und kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leistet.“

Alles auf Pause: Die Filmproduktion in der Corona-Krise beschrieb gestern die „Süddeutsche Zeitung“: Die Corona-Pandemie stoppt zahlreiche Fernsehproduktionen. Was das für die Sender, Produktionsfirmen und Schauspieler*innen bedeutet – und für das Publikum.

Interessant dazu ist vielleicht auch die Set-Meldung zu X-Filme in der CORONA Brancheninfo #5 vom Freitag.

Ein bundesweit einheitliches Drehverbot für fiktionale Kino- und Fernsehproduktionen forderte heute der Produzentenverband und Film- und Medienverband NRW: „Ansammlungen von mehr als zwei Menschen sind verboten worden, einzelne Bundesländer haben Ausgangsbeschränkungen erlassen. Die Regelungen hinsichtlich der Durchführung, Verschiebung und des Abbruchs von Dreharbeiten für fiktionale Kino- und Fernsehproduktionen sind jedoch bundesweit lückenhaft und bieten für die Betroffenen und Beteiligten keinen verbindlichen rechtlichen Rahmen“, schreibt der Verband und erklärt: „Bei Dreharbeiten sind in den meisten Fällen mehrere Dutzend Menschen über lange Zeiträume auf engem Raum beisammen, körperliche Nähe und Berührungen können dabei nicht vermieden, die gebotenen Abstände untereinander nicht eingehalten werden. Die Corona-Pandemie macht die Fortführung von Dreharbeiten aus Gründen des Schutzes der Gesundheit, nicht nur der unmittelbar Beteiligten, unmöglich. Dass bundesweit alle Kultureinrichtungen, einschließlich der Kinos, geschlossen wurden, Dreharbeiten aber fortgeführt werden können, ist fahrlässig und unterwandert die allseitigen Anstrengungen zur Eindämmung der explosionsartigen Ausbreitung des Corona-Virus.“
Der Verband fordert eine „sofortige, bundesweit gültige Regelung, die den Abbruch aller laufenden und die Verschiebung aller bevorstehenden Dreharbeiten ermöglicht, ohne die Verantwortung für diesen Schritt allein auf die einzelnen Produktionsunternehmen abzuwälzen.“ Das müsse auch für jene Produktionen gelten, die bereits die Verantwortung für die Gesundheit der Teammitglieder, Schauspieler*innen und Dienstleister übernommen und Dreharbeiten auf eigenes Risiko unterbrochen oder verschoben haben. „Dabei sollte auch Rechtssicherheit geschaffen werden hinsichtlich der umfassenden Anwendung von Entschädigungsansprüchen unter anderem aufgrund des Infektionsschutzgesetzes.“ Produktionsunternehmen müssten zurzeit auf eigenes Risiko entscheiden, erklärt der Produzentenverband: „Da jegliche Durchführung von Dreharbeiten unverantwortlich wäre, müssen mehr und mehr Produktionen auf eigene Faust handeln und tun es auch – ohne eine zuverlässige rechtliche Grundlage bezüglich des Zugangs zu Rettungs- und Entschädigungsmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen und Entschädigung beziehungsweise Übernahme von Mehrkosten seitens der beauftragenden Sender und finanzierenden Filmförderungen.“

In Hamburg sah die Senatskanzlei die Drehfrage in einer E-Mail-Antwort noch ganz anders: „Grundsätzlich kann eine Ansteckung mit dem Corona-Virus nie ganz ausgeschlossen werden, sobald Menschen zusammenkommen. Allerdings befinden sich bei Drehaufnahmen wesentlich weniger Menschen an einem Ort als zum Beispiel bei einer Kinovorführung, wo oft Hunderte nebeneinander in einem Saal sitzen. Deshalb hat die Hansestadt Hamburg beschlossen, beispielsweise Veranstaltungen mit Publikum wie Kino, Theater oder Konzerte zu untersagen, das Proben und Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler in ihren Räumen aber weiter zu gestatten. Wenn ein Filmdreh draußen in der Stadt stattfindet, liegt es bei den Bezirksämtern, die Allgemeinverfügung der Stadt auszulegen und für den Einzelfall eine Entscheidung zu treffen.“

„Das Sozialschutz-Paket der Bundesregierung verfehlt das Ziel“, hatte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi schon am Sonntag bemängelt. Die Regierung versäume, gesetzlich ein existenzsicherndes Niveau festzulegen, wie das beispielsweise in Österreich geschehe. „Der in Deutschland vorgesehene Wert für das Kurzarbeitergeld von nur 60 Prozent reicht insbesondere für die vielen Beschäftigten mit mittleren und niedrigeren Einkommen nicht aus. Besonders übel dran sind Teilzeitbeschäftigte“, sagte der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke.„Im Kern bedeuten die Pläne: Hartz IV für sehr viele Menschen, mit besserer Regelung zum Wohngeld und ohne Vermögensprüfung.“ Zudem werde die Bundesagentur für Arbeit damit komplett überlastet.

Heute kommt die Meldung: Produzentenallianz und Verdi sowie Bundesverband Schauspiel (BFFS) haben sich angesichts der Corona-Krise erstmalig auf einen Kurzarbeits-Tarifvertrag geeinigt. Blitzschnell sei das am virtuellen Verhandlungstisch passiert, heißt es in der Pressemitteilung. Der Vertrag sieht eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes für Schauspieler*innen und Filmschaffende vor, wenn Filmdrehs wegen der Corona-Krise unterbrochen oder abgesagt werden. Und er soll Planungssicherheit geben. „In den vergangenen Tagen hat die Bedrohung durch Covid 19 zu Drehabbrüchen geführt, aber auch zur Fortführung von Dreharbeiten unter extrem belastenden Umständen. Der Gesundheitsschutz müsse Vorrang haben vor wirtschaftlichen Überlegungen“, sagte Christoph Schmitz von Verdi. Mit dem Kurzarbeitstarifvertrag sei dies nun auch wirtschaftlich für alle Beteiligten abgesichert. Im Detail: Die tarifgebundenen Produktionsfirmen verpflichten sich, Schauspieler*innen das Kurzarbeitergeld auf die individuell vereinbarten Drehtagsgagen, höchstens jedoch auf 90 Prozent der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze aufzustocken. Abweichend davon sind für die auf Produktionsdauer beschäftigten Filmschaffenden die Tarifgagen entscheidend, höchstens jedoch die einschlägige Beitragsbemessungsgrenze.
Die Tarifregelungen gelten zwingend für alle Kurzarbeits-Maßnahmen an Filmsets bei tarifgebundenen Produktionen direkt nach Unterzeichnung des Tarifvertrags ab dem 25. März 2020. Sie sind frühestens kündbar zum 30. Juni 2020. Vorher vereinbarte Kurzarbeit ab dem 1. März 2020 kann nur mit Einverständnis der Produktionsunternehmen unter die Regeln des Tarifvertrags fallen und damit verbessert werden.
In einer Rundmail rät Verdi Filmschaffenden noch bis morgen warten, bis sie Kurzarbeit zustimmen, und bei der Unterschrift aufs Datum zu achten: Erst ab 25. März gilt der Kurzarbeits-Tarifvertrag und auch nur in tarifgebundenen Produktionen. Wie viele das sind, ist ein Branchengeheimnis.
Weitere Tipps in der Krise gibt Verdi hier.

Was tun bei Kurzarbeit oder Kündigung? Solche Fragen erreichen uns täglich, doch jeder Fall ist anders, eine belastbare Antwort können wir darum nicht geben und verweisen darum an Berufsverbände, Gewerkschaften und Rechtsberatung. 
Einen detaillierten Überblick mit Handlungsempfehlungen hat gestern der Verband der Musikinstrumenten- und Musikequipmentbranche (SOMM) herausgegeben. Die Informationen zu Personal, Finanzen und mehr sind auch für Arbeit- und Auftragnehmer nützlich. Sie wurden mit Hilfe von Steuerberatern und Rechtsanwälten zusammengestellt und sollen laufend aktualisiert werden.

Die Sonderregelungen für das Kurzarbeitergeld erklärt die Arbeitsagentur hier im Video.

Der Landtag von Baden-Württemberg hat ein Soforthilfeprogramm Coronabeschlossen, das sich an Soloselbständige sowie Klein- und Kleinstunternehmen „auch der Kultur- und Kreativwirtschaft“ sowie an Angehörige der Freien Berufe („auch künstlerisch-publizistischen“) im Bundesland richtet. Um deren wirtschaftliche Existenz zu sichern und Liquiditätsengpässe zu kompensieren, kann ein einmaliger Zuschuss für drei Monate gewährt werden. Er muss nicht zurückgezahlt werden: Bis zu 9.000 Euro für drei Monate für antragsberechtigte Soloselbstständige und Antragsberechtigte mit bis zu 5 Beschäftigten,15.000 Euro für Antragsberechtigte mit bis zu 10 Beschäftigten, 30.000 Euro bei bis zu 50 Beschäftigten. Genauer noch erklärt’s das Wirtschaftsministerium.

Ein Notfall-Grundeinkommen für die EU fordert eine Petition an die Europäische Kommission, die Europäische und die Finanzminister der Mitgliedstaaten. Und zwar schnell und bedingungslos. Zahllose Menschen seien in ihrer Existenz bedroht: „Ihr Einkommen ist weg, wenn die Rücklagen aufgebraucht sind, wissen sie nicht, wie sie ihre laufenden Kosten bezahlen sollen“, heißt es in der Petition. „In der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 bis 2012 hat die EU mehrere Billionen Euro für angeschlagene Banken zur Verfügung gestellt. Damals standen die Banken an erster Stelle. Jetzt ist es notwendig, die betroffenen Menschen direkt zu unterstützen.“
In Deutschland haben schon mehr als 387.000 Menschen eine Petitionen an die Bundesregierung unterschrieben, die ein Bedingungsloses Grundeinkommen für die nächsten sechs Monate fordert. Die neue Petition will dies „auf die europäische Ebene“ heben.

Initiativen in der Krise: Auch uns hat es erwischt, schreibt Emanuel Less, Actioncar Coordinator in Kammlach, „nur etwa 45 Minuten von München“:
„Die Aufträge sind fast komplett weggebrochen, da die meisten Produktionen ja Gottseidank zum Wohle aller gecancelled/eingefroren wurden! Da wir als KFZ-Meisterbetrieb eines der wenigen strukturell wichtigen Gewerbe sind, können wir weiterhin offiziell geöffnet bleiben auch wenn nunmehr als One-Man-Show.
Auch ich muss jetzt ums blanke Überleben kämpfen und weiss nicht, ob ich es bis ins nächste Jahr schaffen werde … dennoch oder vielmehr gerade deshalb ist es an der Zeit, zusammenzuhalten und Solidarität vor Profit zu stellen! So biete ich allen, die im selben Boot sitzen wie ich und als kleine Selbstständige durch das soziale Netz zu fallen drohen, Hilfe an bei allen akuten Problemen mit Euren Fahrzeugen, um mobil zu bleiben! 
Wer sich also gerade keine Werkstatt leisten kann und auf sein Fahrzeug angewiesen ist (egal welches, vom Roller bis zum Wohnmobil, auch alle Allradfahrzeuge etc.), soll sich bei mir melden – bitte nur telefonisch: +49-171-4505457.
Ihr zahlt nur das Material – die Arbeit geht auf mich. Bitte habt Verständnis, dass das nicht auf große, längerwierige Reparaturen zutreffen kann. Aber die Basics wie Bremsen, Ölwechsel, Auspuff oder ähnliches sollten kein Problem sein.
Ich hoffe, damit einen kleinen Beitrag leisten zu können und vielleicht auch einen gedanklichen Anstoss zu geben an Produktionen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen…
Mit besten Grüssen aus dem Allgäu.“

Was tun mit der vielen Freien Zeit? Weil die Schüler alle zu Hause hocken und eh streamen, startet Vision Kino mit anderen europäischen Institutionen einekostenlose Online-Fortbildung: „Film Education: A User’s Guide“.

Die Kinos hatte es als erste erwischt und mit ihnen auch die Verleiher – die Kinostarts der kommenden Wochen sind abgesagt beziehungsweise verschoben. Auf der Suche nach Lösungen haben die Verleiher unter dem Hashtag #stayhomewatchmovies den Stream entdeckt. Das Kino haben sie trotzdem nicht vergessen: #supportyourlocalcinema. „Das Kino hat für uns eine Bedeutung, die über das kollektive Filmschauen hinausgeht. Kino verstehen wir als einen sozialen Raum, der öffentliche Diskussionen möglich macht und nicht zuletzt den Unterhaltungswert eines jeden Films erhöht“, erklärt zum Beispiel der Dokumentarfilmverleih Mindjazz Pictures in seinem neuen Rundbrief und hat auch einen Tipp, wie man helfen kann: „Unterstützt eure Arthouse- und Programmkinos vor Ort, indem ihr jetzt Kinogutscheine kauft.“

Das war’s für heute, es folgt unser Blog:

Die gute Matrix

Loggt Euch alle ein! Filmfestivals als Lebensmittel: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 02. Von Rüdiger Suchsland

„Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung“ „Mir nicht.“
Theodor W. Adorno im Gespräch mit dem „Spiegel“ vom 5. Mai 1969.

„Wir möchten uns gegen eine Kunst und Kulturszene verwehren, die bloß anlassspezifisch, tagesaktuell und themenorientiert politisch agiert. Die Zusammenhänge sind komplexer. Und bedürfen des Zweifels. Wo er fehlt, regiert die Unsicherheit, von der uns gegenwärtig viel zu viel umgibt.“
Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber 2016 in ihrer ersten Diagonale-Eröffnungsrede

Am Dienstag-Abend wurde die „Diagonale“ in Graz eröffnet, das wichtigste „Festival des österreichischen Films“ und eine der Veranstaltungen, auf die ich mich in den letzten Jahren immer gefreut habe. Graz ist so etwas wie der Frühlingsanfang des Filmjahres. Hier in der zweitgrößten Stadt Österreichs in der südlichen Steiermark ist es schon wärmer, man kann außer im Kino auch draußen in der Sonne sitzen, und die Filme sind sehr gut. Auch 2020 werde ich die Diagonale besuchen. 
Aber wie bitte? Was heißt das: „besuchen“, „eröffnet„? Schließlich gelten in Österreich noch strengere Ausgangsregeln und Pandemie-Einschränkungen. Was soll es also, was ist gemeint?

Zunächst mal: Die Diagonale’ 20 nennt sich „Die Unvollendete“. Wie die Symphonie von Franz Schubert. Und das im Beethoven-Jahr. Aber Beethoven war ja auch kein Österreicher 😉 
Die beiden Co-Direktoren Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, zwei vorbildliche, extrem charmante, engagierte und kluge Festival-Leiter, wurden wie so viele von den Ereignissen total überrumpelt. Ziemlich schnell antworteten sie auf die behördlichen Maßnahmen nicht mit Frust, Resignation und Depression, sondern optimistisch: Seit knapp drei Wochen arbeiteten sie daran, dass die diesjährige Diagonale zumindest virtuell, also online stattfinden kann. Das bedeutet: Ausgewählte Filme des Programms stehen während des Zeitraums der geplanten Diagonale (24. bis 29. März) und zum Teil darüber hinaus online für das Publikum bereit. Teilweise auch für das Publikum in Deutschland und anderen Ländern; im Einzelnen ist das wie immer eine Frage der Rechte und des Premierenstatus. Darüber hinaus gibt es Sondersendungen im ORF. „Begleitende Publikationen zum Festival gewähren zudem weitere Blicke hinter die Kulissen einer herbeiimaginierten Diagonale’20“, heißt es weiter auf der Festivalseite.
Ein fast schon perverser Effekt: Bisher musste man immer nach Graz fahren, um etwas vom Programm zu haben, jetzt können Interessierte von zu Hause aus eine ganze Menge mitbekommen.

Und doch ist dies, was da stattfindet, so schön es ist, dass es stattfindet und so toll (hoffentlich, vermutlich) die Filme sein werden, kein Ersatz für ein Filmfestival. Natürlich nicht. Denn Filmfestivals, darin liegt ihr Faszinosum, leben vom Jetzt und Hier, der Einmaligkeit, die weit mehr ist, als der oft beschworene „Eventcharakter“. Es sind vor allem die ganz konkreten Begegnungen. Mit Filmemachern, aber auch mit anderen Zuschauern, mit Wildfremden, mit den normalen Leuten vor Ort. Es sind Filme und Veranstaltungen, über die man zufällig stolpert, die man nicht geplant hat. Im Zufall, im Ergebnis des folgenlosen Flanierens liegen die schönsten Folgen eines Filmfestivals.
Das wird jetzt alles anders. 

Die Grazer sind nicht einzigen. Schon seit letztem Mittwoch findet das „CPH:DOX“, das nach der Amsterdamer IDFA weltweit wohl wichtigste Dokumentarfilmfestival in Kopenhagen, komplett online statt. Über 200 Filme sind per Stream zu sehen, es gibt öffentliche Veranstaltungen wie jene, bei der am Montag kein Geringerer als Edward Snowden auftrat. Und zu diesen Veranstaltungen kann jeder kommen – wenn auch im Kopenhagener Fall etwas eingeschränkter: Außer den Akkreditierten Professionellen (die auch in diesem Fall hohe Akkreditierungs-Gebühren zahlen) nur Dänen beziehugsweise Menschen, die sich in Dänemark aufhalten, oder die wissen, wie man die Online-Ländersperren umgehen kann. Und nur gegen eine moderate Eintrittgebühr. Aber das ist kein Grund zum Meckern, das wäre ja genauso, wenn das Festival analog in gewohnter Weise stattfände. Auch das Serienfestival „Series Mania“ in Lille wird zumindest seine professionellen Veranstaltungen zum Teil am kommenden Wochenende online veranstalten. Hier sind die Informationen allerdings derart dürftig und veraltet, dass ich mich auf persönliches Hörensagen verlassen muss.
Weitere Filmfestivals werden ähnlich agieren: Vermutlich „Lichter“ in Frankfurt, die Kurzfilmtage in Oberhausen haben es schon angekündigt, das Münchner Dokfest ebenfalls.

Was bedeutet das? Wer jetzt glaubt, es ginge hier um Geld und Eitelkeit, wie vielleicht bei den Olympischen Spielen und dem IOC (obwohl auch das nur eine halbe Wahrheit im komplexen Gelände ist), hat nichts verstanden. Denn bei Filmfestival arbeiten fast alle, auch in gehobenen Funktionen, unter Bedingungen der Selbstausbeutung. Allenfalls Direktor*innen und Geschäftsführer*innen, vielleicht auch Organisation*innen und Prokurist*innen werden angemessen bezahlt, aber auch nicht überall. Andere Festangestellte würden fast überall mehr verdienen, die meisten bekommen definitiv viel zu wenig. Festivalarbeit ist Herzensblut-Arbeit und prekär, der Lohn ist nicht materiell. 
Auch denen, die fragen, ob es jetzt moralisch angemessen sei, Filmfestivals online zu besuchen? Ob es nichts Wichtigeres gibt? Denen kann man nur antworten: Wann denn sonst? Wann, wenn nicht jetzt? Abgesehen davon, dass Mitarbeiter*innen und Filmemacher*innen darauf psychisch und materiell angewiesen sind, dass wir nicht zuhause mit uns selbst herumhocken, sondern uns mit ihnen, mit dem, was sie geschaffen und gedacht und gefühlt haben, auseinandersetzen. Darum: Loggt Euch alle ein!

Wenn Filmfestival jetzt (ja: gerade jetzt!) trotzdem stattfinden, stattfinden sollen, und sei es nur mehr schlecht als recht, dann hat das einen anderen Grund: Kunst und Kultur sind Lebensmittel. Das hat man offenbar zumindest in Berlin verstanden, wo nicht nur Supermärkte, sondern auch Buchhandlungen offen haben (jedenfalls bis Sonntag hatten). 
Allen, die sich jetzt Sorgen machen um ihre Zukunft als Künstler, Kreative, Kulturschaffende, denen sei gesagt: Ihr werdet richtig wichtig. Haltet durch! Vielleicht hat man unter Bedingungen des postmodernen Hedonismus Kunst wirklich nicht so wichtig gebraucht, wie das Fitness-Studio und den Bio-Markt. Das wird sich jetzt ändern. 
Diese ganze Corona-Pandemie-Panik-Chose könnte zumindest ein Gutes haben: Dass sie Kultur wieder auf die Agenda setzt.

Eine andere Frage bleibt allerdings: Führt das alles nicht dazu, alle normalen, analogen Festivals abzuschaffen? Langfristig alles zu virtualisieren? 
Das ist die Frage, was es überhaupt bewirkt, dass wir jetzt auf einmal durch Pandemie, Quarantäne, Ausnahmezustand, alles Mögliche online machen, was wir noch vor zwei Wochen im Traum nicht im Internet erledigt hätten.
Was das bewirkt, liegt an uns allen – soviel lässt sich schnell sagen. Weitere Gedanken zu diesem Thema muss ich heute vertagen. Es wird uns noch lange beschäftigen.

„Schon 2010, als der Begriff ,Wutbürger’ noch durchwegs positiv besetzt war, vermuteten kritische Stimmen hinter all der ,Empörung’ nicht bloß die Sehnsucht nach einer besseren Welt und Solidarität, sondern auch die Sehnsucht nach einem neuen Wir, einem gefährlichen Wir. Denn immer dort, wo sich Gesellschaft als Volk gebärt, sind Zweifel und Skepsis angebracht.“
Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber 2016 in ihrer ersten Diagonale-Eröffnungsrede.

Bleibt gesund und bis morgen 
Euer Crew United Team

Brancheninfo von crew-united und cinearte, erschienen auf out-takes

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