Die Einheit der Gegensätze in Hong Kong

Wolkenkratzer und Weissager

Hong Kong. Bildquelle: falco auf Pixabay.

Hong Kongs Kultur und die spirituelle Tradition der Stadt sind trotz der 150 Jahre des britischen Einflusses weitgehend chinesisch geblieben. Hier stößt man noch auf viele Traditionen, die dem von westlicher Marktwirtschaft beherrschten Geschäftsleben vollkommen zu widersprechen scheinen.

Jedoch waren die Chinesen von jeher ausgemachte Pragmatiker, die es ganz ausgezeichnet verstanden, aus jeder Religion, Philosophie und Lebensweisheit das ihnen besonders geeignet Erscheinend herauszufiltern. So entstand in dieser Stadt eine ganz besondere Mischung aus östlicher und westlicher Tradition.

Ein wichtiges Element chinesischer Kultur sind die dem Mondkalender folgenden Tierkreiszeichen. Anders als die im Westen gebräuchlichen Tierkreiszeichen steht im chinesischen Mondkalender ein Zeichen für je ein Jahr, sich in einem zwölfjährigen Zyklus wiederholend. Da das chinesische Neujahr nach dem Mondkalender jeweils auf die Zeit zwischen Mitte Januar und Mitte Februar fällt, zählen die ersten Wochen unseres Sonnenjahres immer noch zum alten Mondkalenderjahr.

Ebenso wie den Tierkreiszeichen im Westen werden auch den chinesischen verschiedene positive und negative Eigenschaften nachgesagt. Dies ist für Chinesen insbesondere im Hinblick auf den zu wählenden Ehepartner von großer Bedeutung. Stimmt die astrologische Konstellation zwischen den beiden nicht, so wird ein späteres Scheitern der Ehe für niemanden überraschend kommen. Da sich die jüngere Generation in Hong Kong ihren Partner für das Leben in aller Regel selbst wählt, bedarf es dann schon einer gehörigen Portion von Pragmatismus, um eventuell negativ beeinflusste Konstellationen doch noch in Einklang zu bringen.

Für diese Angelegenheiten sind die in allen größeren Tempeln anzutreffenden Weissager zuständig. Sie werden von den Chinesen in Hong Kong in solchen und anderen wichtigen Angelegenheiten gern konsultiert, sei es in privaten oder geschäftlichen Angelegenheiten. So holen sich viele ihren Tipp für das nächste Pferderennen oder auch für ihren Besuch in den Spielcasinos von Macau bei den berühmten Weissagern des Wong Tai Sin Tempels ab.

Zu Beginn einer solchen Orakelzeremonie schüttelt man den Chim, einen mit 100 nummerierten Bambusstäbchen gefüllten Köcher. Die Nummern der Stäbchen stehen an ihrem unteren Ende, was den Vorteil hat, dass das Orakel nicht manipuliert werden kann. Der Chim wird solange geschüttelt, bis ein Stäbchen herausfällt. Es dürfen nicht mehrere sein, sonst muß das Ritual wiederholt werden. Personen, die in dieser Art der Orakelbefragung geübt sind, brauchen nur wenige Sekunden, bis ein Stäbchen regelrecht aus dem Chim herauschießt.

Danach wird die Nummer dieses Stäbchens notiert und das Stäbchen dem Weissager übergeben. Er schlägt dann im Orakelbuch die der Nummer entsprechende Weissagung nach. Diese besteht in der Regel aus drei Teilen. Zunächst findet sich eine poetische Metapher, etwa: „Das Kerzenlicht vor dem Winde wirft schwankende Schatten. Sie gleichen den Blüten unter den Weiden.“

Dann folgt die eigentliche Auslegung der Prophezeiung. Es werden der Reihe nach dabei folgende Punkte angesprochen: häusliche und familiäre Situation, Beruf und Geschäft, Heiratsabsichten, Verlauf von Schwangerschaften, bei Streit ein Gericht anrufen oder sich doch lieber gütlich einigen, Ortsveränderungen und Reisen, Gesundheit und Verlauf möglicher Krankheiten.

Am Ende des Textes finden sich ein längerer Kommentar zur Prophezeiung und ein zusammenfassender Ratschlag. Ein solches Ritual lässt sich mehrmals wiederholen.

Zusätzlich kann man bei entscheidenden Fragen die Sin Pui werfen. Das sind zwei nierenförmige Holzstücke, die auf einer Seite flach, auf der anderen hingegen gewölbt sind. Fallen beide Hölzer beim Wurf auf die flache Seite, so bedeutet dies „nein“, fallen sie auf unterschiedliche Seiten, so heißt das „ja“. Kommen beide Holzstücke auf der gekrümmten Fläche zu liegen, so muß man sie noch einmal werfen.

Den Rat, den das Orakel erteilt, sollte man ernst nehmen. Als ich im vergangenen Juni das Orakel des Wong Tai Sin Tempels befragte, wurde mir geraten, auf mich zu achten, da ich sonst einen Verkehrsunfall erleiden könnte. Die Angestellten des Hotels, in dem ich wohnte, ließen mich den ganzen Tag nicht aus den Augen und schon gar nicht aus dem Hotel. Tatsächlich wurde der Wagen, den ich sonst zu benutzen pflegte, an diesem Tag in einen schweren Unfall verwickelt. Ein Lastwagen stürzte in einer engen Kurve um und begrub das Fahrzeug unter sich. Der Fahrer kam dabei ums Leben.

Eine wichtige Rolle im Alltag der Bewohner Hong Kongs spielt auch Feng Shui, die „Lehre von Wind und Wasser“. Diese auf geomantischen Prinzipien fußende Lehre scheint zunächst der im Geschäftsleben vorherrschenden westlich geprägten Business-Mentalität zu widersprechen. Doch niemand würde es in Hong Kong wagen, sich in entscheidenden Angelegenheiten über die von einem Feng Shui Meister getroffenen Anordnungen hinwegzusetzen. Feng Shui beruht auf den taoistischen Prinzipien von Yin und Yang, den sich ergänzenden Gegensatzpaaren, die alle Bereiche des Lebens und der Natur durchdringen, so etwa Dunkel und Hell, Feucht und Trocken, Warm und Kalt; sowie der Harmonisierung der fünf Elemente Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser.

Eine sehr entscheidende Rolle spielt Feng Shui im Geschäftsleben und in der Architektur. So wurde beispielsweise beim Bau des Regent-Hotels zur Hafenseite hin eine 13 Meter hohe Glasfassade errichtet, damit der hinter dem Hotel an Land hausende Drache auch weiterhin im Hafenbecken schwimmen gehen kann. Der Grundriß der Standard Chartered Bank wurde aus Oktagonen aufgebaut. Die Achtecke wehren nämlich böse Geister ab. Daher sieht man auch in vielen Wohnungen mindestens einen achteckigen Spiegel am Fenster. Bei dessen Anblick, so heißt es, erschrecken sich die Geister vor ihrem eigenen Anblick und fliehen. Aus diesem Grund werden Spiegel auch gern gegenüber von Türen angebracht.

Auch bei Terminen spielt Feng Shui eine wichtige Rolle. Einladungen zu wichtigen Vorstandssitzungen und Meetings oder ähnlich entscheidenden Terminen, so auch zu Hochzeiten, geben den Beginn der Veranstaltung auf die Minute genau an, also 14.22 Uhr, und nicht etwa 14.00 Uhr. Keiner der Teilnehmer wird es wagen, zu spät zu kommen, es sei denn, er beabsichtigt, die Firma in den Bankrott zu treiben oder die Ehe mit Unfrieden zu behaften.

Egal, ob ein Haus erbaut wird, eine Straße angelegt werden soll, ein Baum gefällt wird oder ein neuer Tunnel für die U-Bahn entsteht, der Rat eines Feng Shui Meisters ist in jedem Fall erforderlich, wenn man Ungemach vermeiden will. Noch wichtiger als in den geschilderten Fällen ist seine Konsultation aber bei der Auswahl der Grabstätte, von deren Lage – am besten nach Süden, auf einem dem Meer zugewandten Hang- und dem damit verbundenen Wohlergehen der Ahnen hängt es ganz entscheidend ab, ob die Nachfahren von Unbill verschont bleiben. Sollten die Ahnen nicht zufrieden sein, so können sie als böse Geister wiederkehren, solange, bis ihnen die entsprechende Ruhestätte ausgewählt worden ist, und sie auch sonst mit der notwendigen Ehrerbietung behandelt werden. Dazu gehört auch, dass ihnen an Totentagen genügend Opfer dargebracht werden, und dass die Nachfahren auch sonst ihrer regelmäßig gedenken. Sollten sie dennoch vom Unglück heimgesucht werden, so muß ein taoistischer Priester zu Rate gezogen werden, denn nur ihm ist es möglich, die verärgerten Vorfahren, die in der Geisterwelt fortleben, zu besänftigen.

Nur wer es versteht, die überall hausenden Drachen und Geister nicht zu verärgern, ist vor Unglücksfällen einigermaßen gefeit. Vielleicht gelingt es ihm ja sogar, sich dieser Wesen in einem positiven Sinn zu bedienen. Deshalb sind viele Tempel von kleinen Hainen umgeben, da Bäume als die Wohnstätten guter Geister angesehen werden.

Zum Schluß noch eine Frage:

Würden Sie HK$ 5,00 Mio – das sind etwa 800.000,00 Euro für ein Autonummernschild bezahlen? Doch wohl eher nicht – es sei denn, auch Sie sind eingeschworener Anhänger der „Lucky Numbers“ – Philosophie. Diese besondere Art der Numerologie durchzieht alle Bereiche des Lebens und wird von den meisten Hong Kong-Chinesen sehr ernst genommen. So steht die 1 für „immer“, die 2 für „einfach“ oder „leicht“, die 3 für „langes Leben“, die 4 für „Tod“, die 5 für „Glück“, die 6 für „doppelt“, die 7 für „stabil“, die 8 für „Reichtum“ und die 9 für „Gesundheit“.

Für die Wahl eines wichtigen Termins ist es also ratsam, die geeignete Zahlenkombination zu finden – kein Wunder, das die Standesämter in Hong Kong am 8.8.1988 bereits Monate im Voraus ausgebucht waren. Die Eröffnung eines Geschäftes oder die Übergabe eines neuerbauten Hauses finden nie willkürlich statt. Auch würde kein Chinese in einen Krankenwagen mit der Nummer 4 steigen, egal wie schlecht es ihm auch gehen mag. Bei Hong Kongs derzeit höchstem Gebäude, dem Central Plaza, wurde genau darauf geachtet, wie hoch es gebaut wurde, und zwar 1.228 englische Fuß. Dies bedeutet in der „Übersetzung“ soviel wie „immer leichter, leichter Reichtum“.

Aus diesen Überlegungen heraus werden von den Gläubigen in den Tempeln immer drei, sechs oder neun Räucherstäbchen abgebrannt als Ausdruck des Wunsches nach einem langen und gesunden Leben.

Und die Nummernschilder? Es gibt einige Zahlenkombinationen, die als „lucky“ gelten und die, sofern sie frei sind, jedes Jahr auf einer besonderen Auktion versteigert werden. Der Erlös fließt wohltätigen Zwecken zu. Am meisten Glück verheißen die Nummern ohne Kennbuchstaben, denn sie sind zugleich die ältesten. Und für welche Nummer würden Sie HK$ 5 Mio zahlen? Klar doch, für die 8888…

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Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.