
„Das Tragische an jeder Erfahrung ist,
dass man sie erst macht, nachdem man
sie gebraucht hätte.“
Nietzsche
Es war schon immer so: am Ende fallen alle, einer Meute gleich, über den gefallenen Helden her. Er trägt seit Sonntag letzter Woche den vornehmen Namen Gareth Southgate. Mit ihm leidet fortan auch wieder die ganze Nation, und ganz zuoberst tun es jene drei Pechvögel, die der Unglückselige dazu aus erkor, das Vaterland mit Ruhm und Ehr zu schmücken. Sein Fall beweist zunächst, das auch in Zeiten von Comedy und Klamauk das Moment des Tragischen bestimmend bleibt. Man wird die Tragik niemals ganz aus der Welt schaffen können, auch wenn sie, vordergründig, wenig zeitgemäß erscheint. Gerade im Profi-Fußball, vielleicht nirgends deutlicher als da, wo doch alles ´nur´ ein Spiel sei: werden Helden geboren und Helden gestürzt. Bei diesen modernen ´Gladiatorenkämpfen´ ist immer mehr, viel mehr im Spiel.
Tragikomisch mutet die Schmach insofern an, als dass es ausgerechnet drei Farbige gewesen sind, die im strahlend weißen Trikot der Three Lions so kläglich an der Bürde scheiterten, die ihnen das Schicksal in Gestalt ihres bis dahin durchweg gefeierten Trainers auferlegte. Zwecks Tilgung nationaler Demütigung wurden diese schon nicht mehr im nationalen Geist aufgewachsenen Talente förmlich verbrannt. Das hat sie nicht vernichtet: das hat ihnen einen Fluch vermacht, den sie ein Leben lang nicht mehr los werden können. Der wird sie und ihren Temachef bis an ihr seliges Ende begleiten.
Die Experten, wie immer, wissen nachher alles besser. Sie schwiegen aber besser, möchte ich meinen. Dieses eine Mal hätte es, der Tragödie gemäß, ganz gut getan. Auch jede Beileidsbekundung wäre verfehlt, weil viel zu klein geraten. Im Triumph meist servil und anbiedernd, parlieren die Hofschranzen öffentlicher Meinung in Anbetracht der Tragödie immer häufiger als gnadenlos richtende oder altklug fachsimpelnde Möchtergerns.
Stellen sie sich folgende Schlagzeilen vor, inklusive Brückentext:
Gareth Southgate beendet das Drama einer ganzen Nation – England triumphiert! Mit den richtigen Schützen zum befreienden Sieg. Was den bio-englischen Spielern immer wieder misslang, haben die Söhne von Zuwanderern nun triumphal zurechtgerückt und damit die Wunden einer ganzen Nation geheilt…
Fußballwunder in Wembley: England jubelt, Italien weint! Angelsächsische Tugenden und frischer Wind vom Nachwuchs mit Migrationshintergrund – so befreite sich ein Land vom Trauma der Jahrzehnte…
Harter Abwehrkampf im Spiel – nationale Wiedergeburt im Elferschießen: mit drei Zuwanderern zum heißersehnten, lang verdienten Erfolg! Es gibt sie noch, die Fußballwunder dieser Welt…
Ende der Schmach – dank cleverer Taktik, passender Schützen und einem goldenem Trainerhändchen. Drei Elfer-Spezialisten, ganz auf den einen, passenden Moment fixiert – so geht Sieg!
Hoch gepokert, alles gewonnen: England schafft es – mit viel Mut zum Risiko. Gareth Southgate erlöst sich und sein Land von den Bürden der Vergangenheit
´Football´s coming Home´: vom Elfmeter-Trauma zum Elfmeter-Glück. Ein neunzehnjähriger Fußballneuling mit akfrikanischen Wurzeln stellt die Ehre eines ganzen Landes wieder her…
…und so weiter und so fort. Banal gesprochen: was wäre denn gewesen, wenn die Newcomer getroffen, also: eiskalt ihre Tore verwandelt, genauer: einfach nur für ein paar lausige Sekunden die Nerven behalten hätten? Elfmeterdramen sind seit ein paar Jahren bei großen Turnieren gar keine Seltenheit mehr. Unter Hochdruck haben Kicker unterschiedlichen Alters und Erfahrung den Schuss ins Eck verwandelt oder vergeigt, je nachdem. Jetzt wird so getan, als hätte schief gehen müssen, was im Zweifel immer klappen kann. Ein Beispiel: Als der Breitner Paul noch ein Jungspund war, zeichnete sich gerade der dadurch immer wieder aus: es allen mal so richtig zu zeigen. Im passenden Moment. Er mochte gerade erst eingewechselt worden sein oder schon lange im Spiel oder im Turnier geackert haben: im entscheidenden Augenblick lieferte er. Denn: Der war so, und ist es heute noch – kaltschnäuzig und eigensinnig, konsequent und rücksichtslos. Man kann und darf es Saya, Sancho und Rashford nicht zum Vorwurf machen, das ihnen dass Sonntagabend nicht glückte – cool und taff zu bleiben. Erinnern sie sich kurz an die 1:7 Niederlage Brasiliens anno 2014 gegen Deutschland. Das geschah vor heimischer Kulisse, wohlgemerkt. Wer von den Experten hätte das Fiasko auch nur im Entferntesten voraus gesehen? Dabei hatte es menschlich, allzu menschliche Hintergründe, wie es denn immer Menschen sind und bleiben, die von einem Zufall zum nächsten schlingern. Southgate ist auch nur einer; eben: ein Mensch. Und als solcher war er schon traumatisiert, bevor ihn nun endgültig die Fittiche des Versagens einholten. Und eben dieses Trauma, das sich der Elfmeterschütze damals, vor gut einem Vierteljahrhundert, einfing: holte ihn jetzt wieder ein. Man darf sagen: die Tragödie vom Sonntag hing weniger mit möglichen Fehlentscheidungen zusammen, mehr war sie zurück zu führen auf jene Anfangstragödie, die sich anno 96 abspielte, als der Spieler Southgate am deutschen Keeper scheiterte. Wahrlich: ein Tragödie, wie sie kein antiker Dramendichter verrückter hätte in Stein meißeln können. Boshaft können sie sein: die Geister der Vorsehung und die der blinden Gewalt.
Wie billig und einfach ist es, dem englischen Nationaltrainer nachträglich vorzurechnen, das er unerfahrene Spieler ohne ausreichende Turnierpraxis ´geopfert´ habe. Sie hätten auch als Halbgötter in die Fußballgeschichte eingehen können. Das liegt doch, seien wir ehrlich, im Lotteriespiel eines Elfmeterschießens so gut wie bei den Chancen knapp vor´m Tor, in der regulären Spielzeit: alles ganz eng beieinander. Hätte es geklappt, wär´s ein Clou gewesen; ein unerhört frecher, folgenreicher und genialer welcher. Dann hätte es geheißen: man muss eben auch mal etwas und mehr in die Waagschale legen, das Glück gehört den Wagemutigen usw. So aber habe sich Southgate, lese ich in der SZ, an der Psychologie des Spiels versündigt. Himmel – es war doch von Anfang an ein Psycho-Krimi gewesen! Die Erwartungshaltung der Fans, ja der ganzen Nation, ach was sage ich: des Rests der Welt war Turmbabelhoch. Man erwartete das EINZIGE von ihm, dem armen Hund: nichts als den Sieg, daheim, in Wembley – im Mutterland des Fußballs. Waren die Italiener am Ball, pfiff sie der Britenblock gnadenlos aus. Befand er sich im Besitz der Engländer, toste und brauste das Stadion wie ein Orkan. Druck ohne Ende. Die heimische Mannschaft bekam ihn nonstop ums Trikot geblasen. Nicht erst beim Elfer-Drama.
Jahrzehntelang hatte man den Briten die unglückseligen Elfmeterschießen um die Ohren gebügelt, kleinlich vorgerechnet, mit viel Häme nachgebleckt. Dann machte einer, der ein entscheidendes selbst erlitten hatte, als Trainer wirklich ernst damit. Keiner hat das Schießen vom weißen Punkt aus so intensiv studiert und ins Kalkül mit einbezogen wie Southgate, der als Spieler ein einzige Mal damit scheiterte. Jetzt erwartete man von ihm, diese ´Baustelle´ in Angriff zu nehmen. Immer wieder hieß es: die Engländer verkacken bei den Elfern. Southgate fixierte sich also ganz darauf. Hat sich eigentlich mal jemand die Frage gestellt, was das für einen Trainer, der früh beim Schießen auf Startschuss scheiterte, nachträglich bedeutet haben muss? Er übertrieb es dann, es wurde zur fixen Idee, aber die teilte er mit allen seinen Landsleuten.
Wie auch immer: scheiterte der Mann erneut. Hätte er am Sonntag auf die alten Hasen gesetzt und trotzdem verloren, so hätte es geheißen: die haben es doch schon immer vermurkst. Wo waren die Jungen, die ´Trainingsbesten´? Er schonte sie also, passend für den Einsatz nach Verlängerung: und das war sein nächster Fehler. Hätte er die nämlich, wie jetzt gefordert, während des Turniers länger und öfter eingesetzt, so hätte es im Falle des Scheiterns folgerichtig geheißen: Trainer verheizt seine hoffnungsvollsten Talente. Hätte er sie aber, weil unerfahren, vom Überdruck befreit und auch noch aus dem Lotteriespiel herausgehalten, wäre er wohl übler Voreingenommenheit bezichtigt worden. So nach dem Motto: die hätten es gebracht, sie haben es schon im Training bewiesen, nun hält sie der Trainer zurück. Wie er es auch gedreht hätte: es wäre, im Falle eines Scheiterns, grundfalsch gewesen. Seien wir ehrlich: dem Herrn Southgate fehlte einfach das Glück. So vieles im Spiel ist Zufall, spontane Eingebung – Verrücktheit. Man vergisst das leicht. Aber darum lieben wir das Spiel. Es bleibt unberechenbar. Es lässt sich nur zu einem gewissen Grad ´machen´ – der Zauber entfaltet seine größte Wirkung genau da, wo er so unvorhergesehen wie unerhört daher kommt.
Im Übrigen: hat England nie schönen, eleganten, technisch ´hinguckerischen´ Fußball gespielt. Er hatte immer seine Grenzen, seine Stärken auch, und wenn man der Mannschaft nun nachträglich vorwarf, sie hätte hinten zu früh alles dicht gemacht und nur auf Konter gewartet, dann übersieht man, das englische Fußballcracks sehr viel mehr gegen wirklich herausragende Gegner kaum je aufzubieten hatten. Wenn´s geklappt hätte, wäre aber genau das die richtige Taktik gewesen. So hat der große ´Rehakles´ ja auch die mit allen Finessen gesegneten Portugiesen bei denen zuhause um den EM-Titel gebracht. Hat geklappt – war sowas von genial. Klappt sowas dann nicht, dann wussten es besagte Experten vorher schon. Im Übrigen haben die Briten gegen Italien gar nicht die ganze Zeit gebunkert und abgewartet. Sie wuchsen zeitweilig sogar über sich hinaus, griffen an, spielten ruppig nach vorn (auch das können sie) und waren, wollte man eine Rechnung aufmachen, im mindesten chancengleich mit den Abwehrspezialisten aus Italien, deren hintere Ränge gleich zu Beginn und dann eine ganze Weile lang alles andere als souverän agierten. Hätten die Engländer gewonnen: hätte auch das am nächsten Tag in den Gazetten gestanden. Jetzt spielte es keine Rolle mehr. Es sah auch nicht so aus, das England sich bis ins gefürchtete Elfmeterschießen durch hangeln wollte. Seinen Helden fehlte die Genialität, und mit der geizten auch die glücklichen Italiener die meiste Zeit. Es war alles drin, von Anfang an und bis zum Ende dann.
Die Nation ist jetzt einmal mehr am Boden zerstört. Häme und Spott sind kaum angebracht. Wer sich nun über die Briten lustig macht, der ahnt nicht, wie tief die Demütigung sitzt – wie schwer dieses Land daran nagt und noch nagen wird. Man kann nicht in Unschuld regieren, und auch nicht trainieren, handelt es sich um einen in Marmor gemeißelten Fußballthron. Seit Wembley 66 lastet ein Fluch auf dieser Fußballnation. Eine Art Heldengesang ist so, zwangsweise und unter tausend Tränen, entstanden: er kündet vom Empire als dem ewig unterlegenen, nie zur Ruhe kommenden, tragisch scheiternden, und am Ende doch nie verzagenden Reich.