Die amerikanisch-polnische Historikerin und Publizistin hat sich jahrzehntelang mit Autokraten beschäftigt. Ihr neuestes Buch widmet sich diesem Thema. Es hat einen langen Titel: „Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda. Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten.“
Das Buch ist aus mehrfachen Gründen sehr aktuell: zuallererst ist es der Inhalt, die gesellschaftliche und politische Relevanz des Themas. Weiterhin wurde das Buch kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Schließlich tauchte Anne Applebaum besonders häufig in den deutschen Medien auf, weil sie zwei bedeutende Friedenspreise verliehen bekam: den Carl-von-Ossietzky-Friedenspreis der Stadt Oldenburg und den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels. In der letzten Oktoberwoche war nun auch der Brics-Gipfel in Kasan in Russland. Dort haben sich die mächtigsten Autokraten der Welt versammelt. Brics bezeichnet ein Bündnis der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Die Organisation wurde 2006 gegründet und Putin hat derzeit den Vorsitz. Mittlerweile sind unter „Brics plus“ 9 Staaten versammelt: Iran, Ägypten, Äthiopien, und die Vereinigten Arabischen Emirate sind mittlerweile ebenfalls Mitglieder dieser Vereinigung. Zahlreiche andere russland-freundliche Staaten beantragten kürzlich die Mitgliedschaft. Die Staaten, die in Kasan vertreten waren, zählen zu den bevölkerungsreichsten der Erde. Deren addierte Bevölkerungszahl macht etwa die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Die Autokraten sind also auf dem Vormarsch und sie planen nach ihren Pressemitteilung eine neue Weltordnung.
Anne Applebaum ist eine fachlich ausgewiesene und international renommierte Expertin für Russland und Osteuropa. Sie hat bisher 5 Bestseller geschrieben, die sich alle dieser Region widmen. Davon sind die ersten drei historische Werke und widmen sich der Nachkriegszeit – über die russischen Straflager (Der Gulag 2003), über die Unterdrückung Osteuropas durch die Sowjetunion in den Jahren 1944 – 1956 (Der Eiserne Vorhang 2013) und über Stalins Krieg gegen die Ukraine – insbesondere den erzwungenen Hungertod im Holodomor (Roter Hunger 2019).
Die beiden neueren Bücher sind Gegenwartsanalysen über antidemokratische Herrschaftssysteme und Autokraten (Die Verlockung des Autoritären 2021 und Die Achse der Autokraten 2024).
„Die Achse der Autokraten“ (2024)
Zwei Gegenwartsanalysen hat Anne Applebaum zum Thema von autokratischen Tendenzen und zu Autokraten geschrieben. Ihr Buch „Die Verlockung des Autoritären“ schrieb sie noch vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. In diesem Werk war das Thema breiter gefasst. Es ging auch um die Verlockungen des Autoritären in bislang demokratischen Staaten. Darin beschrieb sie auch europäische Staaten, die Mitglied der EU (z.B. Ungarn, Polen) oder Mitglied der Nato sind (z.B. Türkei).
Ihr Buch „Die Achse der Autokraten“ hat sie nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine geschrieben. Hier geht es mehr um Macht, um Krieg und Frieden, um Vernichtungskämpfe und ums Überleben der Demokratie. Russlands Außenminister verkündete kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges, dass es nicht nur um die Ukraine ginge, sondern um eine neue Weltordnung. Ähnliche Statements wurden jetzt auch auf dem Brics-Gipfel im Oktober 2024 verbreitet. Diese Bedrohung für die westlichen Demokratien sieht Anne Applebaum im Mittelpunkt ihrer Analyse. „Die Achse der Autokraten“ beschreibt ein raffiniertes Netzwerk von autokratischen Staaten, die sich gegenseitig unterstützen und an der Macht halten. Diese Staaten haben keine ideologischen Gemeinsamkeiten und keine festen Bündnisse mit festgelegten Standpunkten und Zielen. Dazu Applebaum: „Das kommunistische China, das nationalistische Russland, die iranische Theokratie, das sind sehr verschiedene Länder.“ Gemeinsam haben sie das Machtstreben, die Funktionalität einer Kleptokratie, sie verachten und bekämpfen Demokratie und sehen „den Westen“ als Feind. Das antidemokratische Kriterium beschreibt Applebaum wie folgt: „Alle regieren ohne unabhängige Richter, Medien, ohne Kritik und ohne Opposition.“ Die Grundprinzipien und „Gütekriterien“ von Demokratien werden von Autokraten vehement bekämpft. Diese sind freie und faire Wahlen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte.
Wie halten sich Autokraten gegenseitig an der Macht? Seit dem Ukraine-Krieg ist wechselseitige militärische Unterstützung ein wichtiger Faktor. Putin erhält Drohnen und Raketen aus dem Iran und aus Nordkorea. China unterstützt Russland umfassend in vielen Bereichen. Das Netzwerk der Autokraten hilft Russland beim Umgehen der von westlichen Staaten verhängten Sanktionen.
Im Untertitel nennt Applebaum die Begriffe „Korruption, Kontrolle, Propaganda“. Dies sind drei wesentliche Bereiche, mit denen sich die Autokraten im eigenen Land an der Macht halten, die sie aber im Austausch mit anderen Autokraten im Netzwerk noch optimieren. Die Korruption hängt eng zusammen mit der Kleptokratie, mit Geldwäsche, Scheinfirmen und dubiosen illegalen Geschäftspraktiken. In den modernen Autokratien gibt eine Führungs- und Machtelite, die ein riesiges Vermögen besitzt und das eigene Volk bestiehlt. Putin schart um sich steinreiche Oligarchen und vermögende Geheimdienstmitarbeiter oder Militärs. Wer zu seinem engen Machtzirkel gehört, wird mit großem Reichtum belohnt. Dieser Reichtum wird nach außen stolz gezeigt und zelebriert z.B. durch riesige Villen und sehr teure Yachten. Das ist ein Unterschied zur Autokratie unter Stalin. Dieser prahlte nicht mit seinem Luxus. Die russischen Oligarchen kaufen sich in Deutschland, Frankreich oder England teure Villen, Geschäfte, Firmen, Fußballvereine und Luxusyachten.
Ein weiterer sehr demokratieschädigender Faktor sind die Aktivitäten autokratischer Staaten im Internet. Hackerangriffe, Trolle und Bots, Fehlinformationen und Wahlbeeinflussungen in westlichen Staaten durch das Internet gehören dazu. Die Propaganda erfolgt in Russland weiterhin durch Reden und Staatsfernsehen. Der größte und schwer zu kontrollierende Einfluss läuft über das Internet. Hier sieht Applebaum große Versäumnisse der westlichen Staaten und sieht großen Handlungsbedarf.
BRICS und CRINK – neue autokratische Bündnisse und Netzwerke
Der Brics-Gipfel in der russischen Stadt Kasan unter der Leitung von Putin im Oktober 2024 war für ihn ein wichtigstes Ereignis und ein Propaganda-Erfolg. Er konnte demonstrieren, dass er nicht isoliert ist, sondern dass er viele Freunde und Verbündete hat. Autokraten wie er selbst. Und einige, die Autokraten werden wollen. Die oben genannten Brics-Staaten (Brasilien, China, Indien, Russland, Südafrika, Ägypten, Äthiopien, Iran, Vereinigte Arabische Emirate) haben hinsichtlich Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) und hinsichtlich Bevölkerung die G7-Staaten (USA, Japan, Kanada, Deutschland, Frankreich, England, Italien) überrundet. Aus den ehemaligen Entwicklungsländern oder Schwellenländern sind Wirtschaftsriesen und Machtblöcke geworden, die die westlichen Staaten und die Demokratie als Feinde deklarieren. Sie fordern eine neue Weltordnung, in der die Dominanz des Westens oder der USA verschwinden soll (Bigalke 2024, Hartwich 2024).
Applebaum zitiert in ihrem Buch (Seite 18-19) das „Dokument Nummer 9“, das in China nach der Machtübernahme von Xi Jinping im Jahr 2013 veröffentlicht wurde. Dieses Kommuniqué nennt die größten sieben Gefahren, die der Kommunistischen Partei Chinas drohen. Ganz oben stand „westliche konstitutionelle Demokratie“, gefolgt von Menschenrechten, Unabhängige Medien, Bürgerbeteiligung und nihilistischer Kritik an der Kommunistischen Partei.
Inhaltlich lässt sich dies auf andere Autokratien übertragen. Was Autokraten am meisten fürchten und vehement bekämpfen, sind: Demokratie, Menschenrechte, freie Presse, Bürgerbeteiligung und Kritik.
Seit dem Ukraine-Krieg haben militärische Allianzen zur Unterstützung des Angreifers und Autokraten Putin an Bedeutung gewonnen. Das Akronym „CRINK“ nennt die vier wesentlichen Akteure, die sich wechselseitig militärisch unterstützen: China, Russland, Iran und Nordkorea. Aktuell zeigt sich dies darin, dass Iran, Nordkorea und China Waffen an Russland liefern. Sie unterstützen – leider wirkungsvoll – den russischen Krieg gegen die Ukraine.
In zahlreichen Interviews zieht Anne Applebaum das Fazit: Der Westen hat das Netzwerk der Autokraten massiv unterschätzt.
Autokratische Tendenzen in europäischen Staaten
Anne Applebaum analysierte bereits in ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ (2021) die autokratischen Tendenzen in Europa. Ausführlich beschrieb sie die Entwicklungen in Ungarn unter Viktor Orban und in Polen unter der Pis-Partei. In beiden Fällen wurden demokratische Grundprinzipien durch raffinierte Gesetzesänderungen außer Kraft gesetzt. In Deutschland gibt es ebenfalls Parteien mit erheblicher „Verlockung des Autoritären“. Hier sind es die AfD (Alternative für Deutschland) und das BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht). Beide Parteien zeigen eine prorussische Haltung und sind gegen die militärische Unterstützung der Ukraine. In mehreren europäischen Ländern (z.B. Frankreich, Niederlande, Italien) gibt es rechtspopulistische Parteien, die autokratische und antidemokratische Tendenzen zeigen.
In Deutschland wird das Thema sensibel wahrgenommen und in mehreren Fachdisziplinen wissenschaftlich untersucht. Der Politikwissenschaftler Philip Manow schrieb 2020 den lesenswerten Essay „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“. Forciert durch Social Media und Internet sieht Manow entdemokratisierende Effekte, da wahllos polarisierende Meinungen verbreitet werden. Der Soziologe Oliver Nachtwey sieht die autoritären Tendenzen im Zusammenhang mit der „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey 2016). Durch die Globalisierung gebe es viele Modernisierungsverlierer und insgesamt fühle sich das deutsche Volk in einer Abwärtsbewegung. Vieles werde nicht besser, sondern schlimmer. Protestbewegungen, Rebellentum und „destruktives Dauerdagegensein“ verdeutlichen den aggressiven Grundzug des autoritären Charakters. Amlinger & Nachtwey (2022) diagnostizieren einen deutschen „libertinären Autoritarismus“ der viel mit „gekränkter Freiheit“ und Narzissmus zu tun habe. Der Protesttypus der Spätmoderne sei gekennzeichnet durch Individualismus und Verleugnung von solidarischer Gemeinsamkeit. Insofern sei die „gekränkte Freiheit“ assoziiert mit Ressentiment und Demokratiefeindlichkeit.
Die antidemokratischen und autoritären Tendenzen in europäischen Staaten zeigen Entwicklungen im Vorfeld einer Autokratie. Sie erinnern an ein „Wehret den Anfängen“. In ihrem neuen Buch „Die Achse der Autokraten“ warnt Anne Applebaum eindrucksvoll vor den mächtigen und aggressiven Hardcore-Autokraten: Russland, China, Iran, Nordkorea (CRINK) und defizitären Demokratien oder hybriden Systemen, die ambivalent und opportunistisch sich zwischen Autokratie und Demokratie bewegen. Viel zu lange haben die westlichen Demokratien die destruktiven Kräfte autokratischer Netzwerke unterschätzt. Nur Solidarität und gemeinsames Handeln können positive Gegenkräfte entwickeln.
Literatur
Amlinger, Carolin, Nachtwey, Oliver, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp, Berlin 2022
Applebaum, Anne, Der Gulag. Siedler, Berlin 2003
Applebaum, Anne, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956. Siedler, München 2013
Applebaum, Anne, Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, München 2019
Applebaum, Anne, Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Siedler, München 2021
Applebaum, Anne, Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Siedler, München 2024
Bigalke, Silke, Wie Putin sich die Welt erträumt. Brics-Gipfel in Russland. Süddeutsche Zeitung vom 24.Oktober 2024
Hartwich, Inna, Die perfekt inszenierte Provokation des Westens. Die Brics-Staaten feiern sich in Kasan selbst. Main-Post vom 25. Oktober 2024
Manow, Philip, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Ein Essay. Suhrkamp, Berlin 2020
Nachtwey, Oliver, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp, Berlin 2016
Korrespondenzadresse:
Professor Dr. med. Herbert Csef
Email: herbert.csef@gmx.de