Bemerkungen zu einer Gymnasiasten-Schrift „Ritter Johann des Todes“

Albert Ehrenstein und seine Abneigung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft

Bild von Marcel Rusu auf Pixabay.

Die Erzählung „Ritter Johann des Todes“ wird vom Gymnasiasten Albert Ehrenstein (1886-1950) Anfang des 20. Jahrhunderts im Wien der Österreichisch–Ungarischen Monarchie geschrieben. Einige Jahre später, im Jahre 1910, wird diese Arbeit zuerst in der von Karl Kraus (1874-1936)  herausgegebenen Kulturzeitschrift „Die Fackel“ veröffentlicht. Ein Jahr darauf wird sie dann erneut in einer der wichtigsten Publikationen des Expressionismus „Der Sturm“ (Herausgeber Herwarth Walden 1878-1941) 1911 abgedruckt. Die Veröffentlichung in Buchform erfolgt 1926 beim Ernst Rowohlt Verlag in Berlin im Sammel-Band: „Ritter des Todes. Die Erzählungen 1900 – 1919“

Möglicherweise hat Albert Ehrenstein schon früh die Rolle als Außenseiter erfahren. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, aufgewachsen im Wiener Arbeiterviertel Ottakring und das Elend der proletarischen Klasse immer wieder erlebend, erfährt er als sensibler jüdischer Jugendlicher auch den aufkommenden Antisemitismus. Sein eigenes Schicksal des Ausgegrenztseins spiegelt sich bereits in dieser Früh-Erzählung wider. Ehrenstein ahnt als junger Gymnasiast die auf ihn zukommende Zukunft eines am gesellschaftlichen Rand Stehenden. Seine Abneigung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft ist erkennbar und spürbar.

Mit „Ritter Johann des Todes“ thematisiert Ehrenstein die Themen der Einsamkeit und der Sinnlosigkeit. Er steht mit dieser Kurz-Erzählung am Anfang seines künstlerischen Schaffens. Er spricht Grundstimmungen aus. Bürgerliche und wohlgesättigte Leser erleben, damals wie heute, eine Irritation. Denn mit „Ritter Johann des Todes“ sprengt Ehrenstein gültige Vorstellungen, ebenso die geltende Moral und die Ethik, und konstruierte Hoffnungen. Er, ein feinfühliger und zugleich rebellischer Gymnasiast, wird einige Jahre später einer der Wortführer des aufkommenden Expressionismus im gesamten deutschsprachigen Raum sein (erinnert sei auch an seine 1908 geschriebene und als Buch 1911 veröffentlichte Erzählung „Tubutsch“).

Ehrenstein entwirft mit „Ritter Johann des Todes“ bewusst keine gängige Heldenfigur, und berichtet ebenso wenig von den ruhmreichen Abenteuern und spannenden Erlebnissen und Fahrten eines Ritters in der weiten Welt. Denn Ehrenstein konzipiert einen  nicht gängigen Ritter, mehr noch, einen Anti-Helden, und er lässt den Leser an einigen seiner Taten anschaulich, kurz und knapp teilhaben. Dieser Ritter revoltiert gegen die ihm von der Gesellschaft auferlegte Rolle, und er will keine gesellschaftliche Anerkennung. Diese benötigt er in keinster Weise. Gerade dies macht ihn bei den damaligen jungen Menschen, sowie bei Künstlern, bei Expressionisten, bei eher linksorientierten Gesellschaftskritikern  anziehend und beliebt.

„Ritter Johann des Todes ritt aus, dem Meere zu und fernen Ländern.“ (S. 13) Jedoch erlebt er nichts Neues. Er erlebt immer wieder das bereits Altbekannte. Nichts gibt ihm Sinn. Als er einen Drachen trifft, tötet er diesen nicht. Dann als er einer Jungfrau begegnet, die ihn begehrt, die sich ihm an den Hals wirft, verweigert er sich ihr. Er kennt all diese Begegnungen. Er erfährt nichts Neues. Er begegnet immer wieder den gleichen Gestalten. Sein Ausruf „Ich hab es satt“ (S. 13) verdeutlicht dies prägnant. Er hat genug von den ständigen Wiederholungen in seinem Leben. Zu diesem Zeitpunkt wird Ritter Johann sich seines Lebens bewusst. Er problematisiert sein Leben, sein Schicksal, „Das verfluchte Kombinieren alter Speisen in ganz neue! – Ich hab es satt! In der Jugend schlug ich fünfzehn liebliche Drachen! Ich hab es satt. Und die liebe Jungfrau jeder hundert Jahre: ist sie schmacker als all die andern Jungfern von Gewohnheit? – Ich hab es satt! Und alle gellen und keifen sie: Du wirst schon sehen … Und ich sehe doch meine Zukunft, daß ich keine Zukunft habe, klar und dicht vor mir!“ (S. 13) Diese Sätze verdeutlichen, dass Ritter Johann die ständige Wiederholung in seinem Leben erfährt, es ist immer wieder das Gleiche. Deshalb trifft er die Entscheidung gegen die Sinnlosigkeit seiner Existenz anzugehen. Er läutet den Aufstand gegen die Sinnlosigkeit seines existentiellen Daseins ein, so dass er bei den folgenden Begegnungen die Handlung der Tötung einsetzt, „Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, traf er sechs alte Weiber, die das Ziel erreicht zu haben glaubten, … Er erschlug sie, weil sie`s Ziel erreicht zu haben glaubten, indem sie, über den Weg erhoben, auf Steinen auf den Köpfen stehend, aus neuen Flaschen in neuen Gläsern neuen Branntwein soffen, den echten, reinen, patentierten sogenannten Dolgoruki.“ (S. 13 und 14) Der Kampf gegen die Sinnlosigkeit seiner Existenz geht unvermindert weiter. Er trifft unterwegs die Suchenden nach der blauen Blume. „Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, schlug noch viele andere, die – und nicht einmal auf die rechte Weis – die Erde nach blauen Blumen abgrasten … Und im Tode schrien sie alle – er aber lachte bloß …“ (S.14)  Die blaue Blume ist ein Symbol der Romantiker, die blaue Blume steht für die Sehnsucht nach dem anderen Leben auf Erden. Die Suche und Hoffnung nach einem erfüllenden und sinngebenden Leben. Ritter Johann will mit seiner Tat die Sinnlosigkeit des Suchens dieser Suchenden unterstreichen. Die blaue Blume ist für ihn eine reine Utopie, eine reine Illusion. Für Ritter Johann gibt es weder diese Sehnsucht, noch Erfüllung und Liebe.

Und dann tötet Ritter Johann  –  Gott. „Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, da erbarmte sich der Herrgott und kroch vom Himmel zu ihm herunter, um ihm das Neue zu sein. Da erschlug ihn der Ritter Johann des Todes und lachte herzhaft, wie er noch nie gelacht, daß der vom Himmel heruntergekrochen, ihm das Neue zu sein …“ (S. 14) Auch diese Tat ist bei Ritter Johann wieder Ausdruck der Verneinung bestehender Werte. Es gibt weder auf Erden Hoffnung noch im Jenseits. Für ihn ist Gott sinnlos. Werte des Glaubens haben keine Gültigkeit, sie sind einfach nur absurd. Es gibt keine übergeordnete Sinngebung. Das Leben auf Erden ist sinnlos, und der Glaube beziehungsweise die Hoffnung auf ein Jenseitiges ist reines Wunschdenken. Ehrenstein löst mit der Figur Ritter Johann gesellschaftliche Werte und Überzeugungen endgültig radikal auf.

Mit dem Satz „Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, mußte heim, da die Erde zu rund war.“ (S.14), spricht Ehrenstein noch einmal die Sinnlosigkeit und die Wiederholung an. Er kehrt zu seiner Frau zurück, die er zu Beginn der Erzählung als „Weib-Köchin“ (S. 13) bezeichnet. Dies ist sicherlich keine hochschätzende Bezeichnung, und die ihn einst verabschiedete und nun wieder mit dem eben gleichen Satz empfängt: „Heute gibts Eichelsuppe und Geselchtes mit Spinat!“ (S. 14) Auch sein Weib symbolisiert eine Banalität, die ihn erdrückt. Ritter Johann befindet sich in einem Kreis. Er kommt dort wieder an, wo er einst aufgebrochen ist. Seine Welt, sein Leben sind ständige Wiederholungen. Alles ist ein einziger Kreis. Es ist ein Kreis der Sinnlosigkeit.

Letztlich erkennt Ritter Johann, dass nur eine Handlung ihn von der Sinnlosigkeit der Existenz befreien kann. Diese letzte Tat ist zugleich Ausdruck der Revolte gegen das eigene Schicksal. Seine Erfahrung des Ausgeliefertseins an ein erkanntes sinnloses Dasein zieht für ihn keine Resigniertheit oder gar eine Depression nach. Mit dem Gedanken des Todes als Erlösung hat er sich bereits auf seinen Fahrten beschäftigt, und als Tat gegenüber jenen sechs alten Weibern, als auch gegenüber den Suchenden nach der blauen Blume sowie gegen Gott  angewandt.

Albert Ehrenstein schreibt am Ende seiner Erzählung: „Der Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, hängte sich auf. Und freute sich an seinem Tode, dem Neuen.“ (S. 14) Ritter Johann erkennt nicht nur, dass der Tod für ihn eine Befreiung bedeutet. Vielmehr erkennt er, dass die Lösung für das eigene sinnlose Dasein der Selbstmord ist. Er flieht nicht, er stellt sich dem Dasein, mit allen möglichen Konsequenzen. In diesem Sinne ist er ein wahrer Ritter, ein echter Held.

Es wurde der Text „Ritter Johann des Todes“ von der Ausgabe: Albert Ehrenstein, Werke, Werkausgabe in fünf Bänden, Band 2 Erzählungen (Herausgegeben von Hanni Mittelmann), Klaus Boer Verlag  München 1991, S.13 -14 benutzt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es Stellen mit Varianten gibt, die letztlich aber der Kraft seiner Aussagen in keinster Weise einen Abbruch bedeuten.

Bemerkung: Die Leserschaft könnte darüber diskutieren, ob Ritter Johann das eigene Leid bejahen soll und trotz der Erkenntnis der Absurdität des eigenen Daseins weiterleben sollte. Und, ob der Selbstmord von Ritter Johann letztlich eine Flucht bedeutet. Oder kann die eigene Tötung als Protest interpretiert werden?

Foto: Umschlag, mit freundlicher Genehmigung des Wallstein-Verlages, einst beim Boer-Verlag erschienen, dann gewechselt zu Wallstein.