Jens Weidmann: Die Währungsunion dauerhaft stabil machen!

Foto: Stefan Groß

Meine Damen und Herren, auch wenn dies heute im Wesentlichen eine Veranstaltung von Ökonomen ist, darf eines bei der Diskussion über die Währungsunion nicht vergessen werden: Der Euro war von Anfang an auch ein politisches Projekt. Bereits im Jahr 1949 erklärte der französische Ökonom Jacques Rueff, dass das Geld den Weg zur europäischen Integration ebnen würde. Er meinte nämlich: „Europa entsteht über das Geld, oder es entsteht gar nicht.“

Die Einigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg war eine politische Vision, um dem Kontinent dauerhaften Frieden und Stabilität zu bringen. Oder um es mit den Worten des großen Europäers und Trägers des Karlspreises Jean Monnet zu sagen, dessen Namen ja auch Ihr Lehrstuhl, lieber Herr Kösters, trägt: „Durch die Schaffung Europas errichten die Europäer das wahre Fundament für den Frieden.“

Vollzogen hat sich die europäische Integration allerdings eben nicht zuletzt durch das Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften. Und das hat für sich betrachtet bemerkenswerte Ergebnisse erzielt. Wirtschaftliche Integration – also der Abbau von Handelsbarrieren und die Harmonisierung von Regulierung – steigert den Wohlstand. Der freie Handel erlaubt, dass sich jeder auf das spezialisiert, was er am besten kann. Größenvorteile können besser genutzt werden. Außerdem führt ein größerer Markt zu mehr Wettbewerb. Und dieser fördert wiederum Innovationskraft und Produktivität.

Man kann natürlich nie ganz genau sagen, wie die wirtschaftliche Entwicklung ohne das Zusammenwachsen Europas verlaufen wäre. Die Auswirkungen des gemeinsamen Binnenmarkts auf den Wohlstand der europäischen Länder sind aber auf jeden Fall beträchtlich. Schätzungen zufolge hat die wirtschaftliche Integration die jährliche Wirtschaftsleistung um 5 Prozent bis 25 Prozent gesteigert.[1][2][3] Das sind immerhin 1450 Euro bis 7250 Euro pro Kopf.

Die Wirtschafts- und Währungsunion war zweifellos der mutigste Schritt hin zu stärkerer wirtschaftlicher Integration. Und sie war zugleich ein doppeltes Versprechen: das Versprechen stabiler Preise und das Versprechen eines nachhaltig stärkeren Wirtschaftswachstums.

Es besteht ein weitgehender Konsens, dass das erste Versprechen bislang eingelöst werden konnte. Mit Blick auf das zweite Versprechen würden das jedoch inzwischen wohl deutlich weniger Menschen behaupten.

Zum einen hat der zunehmende wirtschaftliche Wettbewerb über Grenzen hinweg, genauso wie der technische Fortschritt, zu einem Veränderungsdruck geführt, der viele ängstigt. Damit die Vorteile der wirtschaftlichen Integration, aber auch von Innovation, möglichst vielen Menschen zugutekommen, sind deshalb auch die richtigen Rahmenbedingungen erforderlich. So sind beispielsweise flexible Wirtschaftsstrukturen und ein gutes Bildungssystem Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum und dafür, dass die Chancen von technischem Fortschritt und internationalem Handel von vielen genutzt werden können.

Zum anderen hat aber die Finanz- und Staatsschuldenkrise den Euroraum in seinen Grundfesten erschüttert: Steuerzahler mussten mit vielen Milliarden Euro für die Verluste von Banken einspringen. Die Arbeitslosigkeit schnellte in einigen Mitgliedsländern auf in der Nachkriegszeit ungekannte Höhen. Europäische und internationale Institutionen wurden faktisch zur Nebenregierung einzelner Staaten. Und die Rettungsschirme erschienen vielen als Einstieg in eine Transferunion, die vor dem Start der Währungsunion noch ausdrücklich ausgeschlossen worden war.

Viele empfanden die Probleme, die durch diese Krisen heraufbeschworen wurden, als gewaltig. Manche sahen sie sogar als unlösbar an. So sagten einige Kommentatoren, insbesondere auch auf der anderen Seite des Atlantiks, ein Ende des Euro voraus.

Das ist nicht geschehen, und es wäre auch ein Desaster gewesen. Gleichzeitig müssen wir ehrlich sein: Auch in Zukunft kann der Euroraum durch regionale oder sektorale Krisen Belastungsproben ausgesetzt sein. Darüber darf die derzeit gute Wirtschaftslage nicht hinwegtäuschen, denn die ist letztlich auch Folge der sehr lockeren Geldpolitik.

Das Niedrigzinsumfeld trägt damit also zu einer trügerischen Ruhe bei, die die wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungsträger dazu verführen kann, die Hände in den Schoss zu legen. Das europäische Haus muss aber auch dann stabil genug sein, wenn es gilt, dem Gegenwind zu trotzen. Um das zu erreichen, muss noch einiges getan werden.

 

Die Währungsunion dauerhaft stabil machen

Die Europäische Währungsunion zeichnet sich dadurch aus, dass es zwar eine gemeinsame Geldpolitik gibt, aber 19 weitgehend unabhängige nationale Finanz- und Wirtschaftspolitiken. Darin unterscheidet sich die Europäische Währungsunion übrigens von anderen föderalen Währungsräumen, wie etwa den Vereinigten Staaten und der Schweiz.

Diese besondere Konstruktion macht die Währungsunion nicht nur einzigartig, sie macht sie auch potenziell anfällig. Denn die Krise hat gezeigt: Letztlich musste die Gemeinschaft für Fehlentwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten geradestehen, um zu verhindern, dass die Stabilität der Währungsunion als Ganzes gefährdet wird.

Der dahinter stehende Zusammenhang ist der Folgende: Wenn man nicht aufpasst, schwächt die Mitgliedschaft in einer Währungsunion den Anreiz zu einer soliden Haushaltspolitik. Denn die Folgen einer übermäßigen Verschuldung in einem Mitgliedstaat lassen sich teilweise auf die Gemeinschaft abwälzen.

Auf diesen, der Währungsunion inhärenten Verschuldungsanreiz, hatten Sie und andere, lieber Herr Kösters, schon früh hingewiesen[4]. Wenn sich ein Land in einer Währungsunion verschuldet, steigt der Zins nicht ganz so stark wie das bei einer eigenen Währung der Fall wäre. Dafür steigt aber auch bei allen anderen Mitgliedstaaten der Zins etwas an.

In der ökonomischen Theorie ist das als Allmende-Problem bekannt, was häufig am Beispiel der Überfischung erklärt wird: Überfischung durch einen einzelnen Fischer verringert die Verfügbarkeit von Fischen für andere Fischer und gefährdet langfristig den Fischbestand. Sie ist also für die Gemeinschaft der Fischer schädlich. Aus Sicht des einzelnen Fischers aber ist es attraktiv, einen möglichst großen Fang zu machen und nicht auf andere Fischer oder künftige Generationen von Fischern Rücksicht zu nehmen.

Der Historiker und diesjährige Karlspreisträger Timothy Garton Ash hat die Geschichte der Währungsunion wohl auch deshalb einmal rückblickend als eine „crisis foretold“ bezeichnet.

Damit wird er den Gründervätern der Währungsunion aber nicht ganz gerecht, denn diese hatten den besonderen Verschuldungsanreiz durchaus im Blick. Deshalb sollte eine Kombination aus Marktdisziplin und Fiskalregeln eine solide Haushaltspolitik sicherstellen.

Der Maastricht-Vertrag enthält bekanntlich eine Nichtbeistandsklausel, die es den Mitgliedstaaten untersagt, die Schulden eines anderen Mitgliedstaates zu übernehmen. Und der Vertrag verbietet die monetäre Finanzierung von Staatsschulden durch das Eurosystem. Beides soll garantieren, dass die Anleger selbst – und nicht etwa der Steuerzahler – die Risiken aus ihrer Kapitalanlage in Staatsanleihen tragen.

Daneben enthält der Stabilitäts- und Wachstumspakt Regeln, die Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite beschränken. Sie sollten sicherstellen, dass die öffentlichen Finanzen tragfähig bleiben. Und sie sollten die nötigen Puffer schaffen, damit die Haushalte im Konjunkturverlauf atmen und die Mitgliedstaaten in einer Wirtschaftskrise gegensteuern können, ohne dass sie gleich Hilfe von außen benötigen, weil eine Überschuldung droht.

Diese Regeln konstituieren das Prinzip der fiskalischen Eigenverantwortung. Das ist die Grundlage des Maastricht-Rahmens.

Walter Eucken, ein Begründer der Freiburger Schule und Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, brachte das so genannte Haftungsprinzip auf den Punkt: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen.“

Und was in der Wirtschaft gilt, gilt auch für Staaten: Verantwortungsvolle Entscheidungen werden nur dann getroffen, wenn derjenige, der entscheidet, auch für die Folgen einzustehen hat.

Handeln und Haften im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde durch den Vertrag von Maastricht im Wesentlichen also den Mitgliedstaaten zugewiesen.

Trotzdem ist die Staatsverschuldung in einigen Euro-Ländern stark gestiegen. Ein Grund dafür war, dass die Haushaltsregeln wiederholt verletzt wurden – übrigens gerade zu Beginn der Währungsunion auch in Deutschland. Die Kapitalmärkte haben diese Verstöße auch nicht mit höheren Risikoprämien geahndet wie ursprünglich gedacht. Der Nicht-Beistandsklausel mangelte es offenbar an Glaubwürdigkeit.

Ein anderer Grund für den starken Anstieg der Verschuldung war aber sicherlich die Finanzkrise, in der Länder des Euroraums ihre Bankensysteme stützen mussten. Auch deshalb kamen in der Staatsschuldenkrise dann Zweifel an der Tragfähigkeit der Verschuldung einiger Mitgliedstaaten des Euroraums auf. Rasch ergriffene Rettungsmaßnahmen verhinderten damals eine Eskalation der Krise.

Dabei hat sich gezeigt, dass auch im Euroraum ein Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten in Ausnahmesituationen sinnvoll sein kann, um die negativen Auswirkungen auf den gesamten Währungsraum zu begrenzen.

Deshalb wurde mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) ein dauerhafter Rettungsschirm geschaffen. Seine Finanzhilfen erlauben den betroffenen Staaten, vorübergehende Liquiditätsengpässe zu überbrücken und die Staatsfinanzen auf eine dauerhaft tragfähige Basis zu stellen. Deshalb müssen sich die Länder zu Reformen verpflichten, damit sie finanziell möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen stehen können.

Dauerhaft krisenfest haben aber auch die Rettungsprogramme die Währungsunion nicht gemacht. Bei allem Nutzen haben sie das Prinzip der Eigenverantwortung geschwächt, indem zusätzliche Elemente von Gemeinschaftshaftung eingeführt wurden. Gleichzeitig blieb die Wirtschafts- und Finanzpolitik jedoch weiterhin in nationaler Hand. Das Verhältnis von Handeln und Haften ist damit aus dem Gleichgewicht geraten.

Die Währungsunion wird aber nur dann dauerhaft krisenfest, wenn Handeln und Haften wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Um das zu erreichen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder eine stärkere Integration, bei der alle Mitgliedstaaten Entscheidungskompetenzen in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik an die europäische Ebene abgeben, oder eine Rückkehr zu einem überarbeiteten Maastricht-Rahmen. Die Euro-Länder würden dann finanziell wieder stärker für ihre eigenen Entscheidungen haften.

Bei der ersten Lösung würde eine Fiskalunion mit zentralisierten Entscheidungsbefugnissen entstehen. Eine Fiskalunion wäre zwar keine Garantie für eine solide Finanzpolitik und sollte dauerhaft durch stabilitätspolitische Leitplanken ergänzt werden, sie könnte aber die erwähnte Defizitneigung begrenzen.

Für viele Ökonomen war deshalb bereits vor Beginn der Währungsunion klar: Langfristig muss eine Währungsunion Hand in Hand mit einer politischen Union gehen. Hier kann ich stellvertretend Sie, lieber Herr Kösters, zitieren: „Es sollte klar sein, dass langfristig eine Währungsunion nur dann existieren kann, wenn sie von einer politischen Union begleitet wird“ schrieben Sie im Jahr 1994[5]. Bundeskanzler Helmut Kohl sah das ganz ähnlich. Er sagte im November 1991 vor dem Bundestag, „dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf Dauer erhalten, abwegig“ sei.

Eine echte politische Union ließ sich aber damals nicht durchsetzen. Mir scheint, dass sich daran nicht viel geändert hat. Zumal die dafür notwendige Übertragung von Souveränitätsrechten umfangreiche Änderungen am EU-Vertrag und den nationalen Verfassungen erforderlich machen würde.

Deshalb ist wohl im Moment die zweite Möglichkeit realistischer, um Handeln und Haften wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dazu muss das Prinzip der nationalen Eigenverantwortung gestärkt werden. Nur dann, wenn solide Staatsfinanzen gesichert sind und die Länder nicht weiter wirtschaftlich auseinanderdriften, schwindet letztlich auch der Druck auf das Eurosystem, immer wieder als Feuerwehr einzuspringen. Und nur dann nehmen die Finanzmärkte ihre Aufgabe wahr, Risiken bei der Kreditvergabe angemessen zu berücksichtigen.

Doch was müsste sich ändern, damit der Ordnungsrahmen der Währungsunion besser funktioniert als in der Vergangenheit?

Johann Wolfgang von Goethe hat einmal formuliert „Gut ist der Vorsatz, die Erfüllung schwer.“ Goethe war nicht nur Dichter, sondern auch Finanzminister im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Unklar ist allerdings, ob er mit diesem Satz seine Erfahrungen in der Finanzpolitik zusammengefasst hat.

In jedem Fall trifft seine Aussage auf die Fiskalregeln im Euroraum zu: Aus gutem Vorsatz aufgestellt, wurden sie selten konsequent eingehalten. Die Haushalts- und Verschuldungsregeln der Europäischen Union sind immer wieder reformiert worden. Strenger sind sie dabei nicht geworden, um es noch vorsichtig auszudrücken. Dass auch Deutschland dabei in der Anfangszeit keine glückliche Figur gemacht hat, habe ich schon erwähnt.

Die jüngste Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts hatte zwar zum Ziel, die Bindungswirkung der Verschuldungsregeln zu stärken. Faktisch hat sie aber vor allem der Europäischen Kommission einen erheblichen Ermessenspielraum verschafft. Darauf haben wir im Juni auch in unserem Monatsbericht hingewiesen.[6] Und diesen Spielraum hat die Kommission bereits mehrfach ausgeschöpft und die Regeln dabei immer sehr großzügig ausgelegt.

Die Doppelrolle der Kommission als Hüterin des Vertrags auf der einen und als politischer Akteur auf der anderen Seite hat sicherlich dazu beigetragen, dass immer wieder Kompromisse zulasten der Haushaltsdisziplin getroffen wurden. Denn als politischer Akteur muss die Kommission immer um einen Ausgleich mit den politischen Interessen der Mitgliedstaaten bemüht sein. Im Ergebnis haben einzelne Euro-Staaten die Haushaltsregeln seit der Finanzkrise durchgängig verletzt.

Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder hat die Situation einmal ganz treffend wie folgt zusammengefasst: „Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben.“

 

Bindungswirkung der Fiskalregeln stärken

Um die Bindungswirkung der Fiskalregeln zu stärken, braucht es eine einfache und transparente Ausgestaltung und Umsetzung der Regeln. Für eine weniger politische Herangehensweise wäre es ein wichtiger Schritt, wenn anstelle der Kommission eine unabhängige Institution für die Haushaltsüberwachung zuständig wäre. Dann würde klar, wo die unvoreingenommene Analyse endet und wo das politische Zugeständnis beginnt. Deshalb hat die Bundesbank zum Beispiel vorgeschlagen, die Rolle des ESM bei der Haushaltsüberwachung zu stärken.

Eines scheint mir allerdings klar zu sein: Bei weiterhin fiskalisch eigenverantwortlichen Mitgliedstaaten lässt sich die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen mit Regeln alleine nicht absichern.

Deshalb brauchen wir nicht nur eine gestärkte Bindungskraft der Regeln, sondern auch die disziplinierende Wirkung des Marktes. So, wie das die Gründerväter der Währungsunion bereits angestrebt hatten. Mit anderen Worten: Die Höhe der Zinsen muss sich wieder stärker nach den Risiken in den Staatshaushalten richten.

Das lässt sich aber nur erreichen, wenn der Nicht-Beistandsklausel im Maastricht-Vertrag wieder mehr Glaubwürdigkeit verliehen wird. Anlegern muss eindeutig vermittelt werden, dass sie ihr Geld verlieren können, wenn sie Anleihen von unsolide haushaltenden Staaten kaufen.

Auch vor diesem Hintergrund sehe ich die Staatsanleihekäufe durch das Eurosystem kritisch. Denn sie schwächen den Marktmechanismus bei der Bepreisung staatlicher Solvenzrisiken. Und sie führen dazu, dass die Grenze zwischen der Geldpolitik und der Finanzpolitik verwischt. Die klare Trennung von Verantwortlichkeiten ist aber für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik im Euroraum unverzichtbar, sollen die Notenbanken des Eurosystems nicht Gefahr laufen, ins Schlepptau der Finanzpolitik zu geraten. Deshalb hatte ich mich Ende Oktober auch für ein rasches Ende der Staatsanleihekäufe ausgesprochen.

 

Automatische Laufzeitverlängerung ESM

Ein Vorschlag der Bundesbank sieht deshalb vor, die Anleihebedingungen für Staatsanleihen im Euroraum zu ändern. Die Laufzeiten der Anleihen eines Landes sollten sich künftig automatisch verlängern, sobald das Land ein Rettungsprogramm beantragt.

Bisher läuft es doch so: Ein Großteil der Hilfskredite wird dazu verwendet, Altgläubiger auszuzahlen. Die Altgläubiger, zum Beispiel Banken, sind damit fein raus, zulasten der Steuerzahler. Mit einer Laufzeitverlängerung blieben sie hingegen in der Verantwortung und könnten im Falle einer späteren Umschuldung noch herangezogen werden. Denn ob ein Schuldner vorübergehend illiquide oder tatsächlich zahlungsunfähig ist, lässt sich in einer akuten Notlage kaum abschließend feststellen. Die automatische Laufzeitverlängerung würde dem ESM aber deutlich mehr Zeit verschaffen, diese Frage der Schuldentragfähigkeit sorgfältig zu prüfen – und zwar ohne, dass in dieser Zeit die Altgläubiger aus der Haftung entlassen werden.

Die Laufzeitverlängerung hätte den zusätzlichen Vorteil, dass der Finanzierungsbedarf eines ESM-Programms deutlich verringert würde. Das würde auch die Spannweite des bestehenden Rettungsschirms vergrößern. Hätte uns 2011 zum Beispiel bereits eine automatische Laufzeitverlängerung um drei Jahre zur Verfügung gestanden, hätte Portugal anstatt der insgesamt erhaltenen Hilfskredite von 76 Mrd. Euro bis 2014 nur etwa 43 Mrd. Euro benötigt.

Ich bin auch der Überzeugung, dass der IWF künftig bei einer Krisenlösung im Euroraum wohl eine deutlich geringere Rolle spielen und potenziell allenfalls in einer beratenden Funktion eingeschaltet wird. Insofern wäre diese höhere Schlagkraft sicher hilfreich.

Der ESM bedeutet im Übrigen eine substanzielle Form fiskalischer Solidarität. ESM-Chef Klaus Regling zufolge sind die Kosten eines ESM-Kredits um zwei Drittel geringer als die Kosten eines IWF-Kredits, denn der ESM verlangt im Gegensatz zum IWF für seine Kredite keinen Risikoaufschlag. Im Falle Griechenlands zum Beispiel betrage die Einsparung jährlich 5,6 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Das ist ein bedeutender Transfer an Staaten, die Hilfe benötigen. Diese Transfers sind aber nicht dauerhaft, und sie sind an Auflagen gebunden, um Fehlanreize möglichst zu vermeiden. Dauerhafte direkte Transfers sind für einen funktionierenden Währungsraum nicht erforderlich, das zeigt das Beispiel der Vereinigten Staaten. Im Gegenteil, die Aufspaltung in Transfergeber und Transferempfänger birgt die Gefahr, die Akzeptanz der Währungsunion in einzelnen Mitgliedstaaten zu untergraben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die vorgeschlagene automatische Laufzeitverlängerung wird die disziplinierende Funktion der Kapitalmärkte nur dann erhöhen, wenn eine Restrukturierung von Staatschulden eine wirklich realistische Option ist. Das ist aber nur dann der Fall, wenn das Finanzsystem einen Schuldenschnitt auch verkraften kann. Denn wenn ein Schuldenschnitt das Finanzsystem in die Knie zwingen würde, bestünde für die Staatengemeinschaft weiter der Anreiz, für private Gläubiger einzuspringen.

Im Euroraum standen Politiker und Aufsichtsbehörden mehr als einmal vor der folgenden paradoxen Situation: Ein Schuldenschnitt für überschuldete Staaten zieht auch das Bankensystem mit in den Abgrund. Wickelt man aber Banken ab, die vom Ausfall bedrohte Staatsanleihen in ihren Büchern haben, dann treiben die notwendigen Rettungsmaßnahmen den Staat erst recht in Finanzierungsschwierigkeiten.

Das erinnert ein wenig an den Roman Catch-22 von Joseph Heller. Darin bezeichnet Catch-22 eine unerträgliche Situation, in der jeder scheinbare Ausweg nur dazu führt, dass man noch tiefer in sein Schicksal hineingezogen wird. In Joseph Hellers Roman, sind es sich widersprechende Vorschriften, die amerikanische Soldaten in eine absurde Lage bringen.

Im Euroraum spielte vor allem eine fehlende Vorschrift für das Dilemma eine zentrale Rolle: Es fehlte die Vorschrift, dass im Fall der Fälle vor allem die Investoren und Gläubiger für die Verluste der Banken einstehen müssen und nicht der Steuerzahler.

Gerade deshalb sind die neuen europäischen Regeln für die Abwicklung von Banken und ihre konsequente Anwendung auch so wichtig. Denn sie regeln, dass bei der Abwicklung einer Bank in einem ersten Schritt die Investoren und Gläubiger die entstehenden Verluste tragen müssen. Erst in einem zweiten Schritt springt ein von den Banken gespeister Abwicklungsfonds ein.

Hinzu kommt die im Euroraum bestehende enge Verknüpfung von Staaten und Banken. Die kommt auch darin zum Ausdruck, dass Banken sehr viele Staatsanleihen in ihrer Bilanz halten. Es reicht also nicht aus, sich auf die Abwicklung zu konzentrieren.

 

Privilegierung von Staatsanleihen beenden

Der Appetit der Banken auf Staatsanleihen würde schon gezügelt, wenn sie zukünftig Staatspapiere in ihren Büchern genauso behandeln müssten wie Kredite an Private.

Denn Banken müssen für Staatsanleihen, die auf eigene Währung lauten, anders als bei Unternehmensanleihen, kein Eigenkapital hinterlegen und keine Obergrenzen beachten. Das gilt ganz gleich wie hoch die Bonität des betrachteten Landes ist – und das, obwohl die Schuldenkrise im Euroraum klar gezeigt hat, dass Staatsanleihen aber nicht risikolos sind.

Nur wenn die Banken Staatsanleihen mit ausreichend Eigenkapital hinterlegen und einzelne Engagements in ihrer Höhe begrenzt sind, können die Banken eine Restrukturierung von Staatsschulden auch verkraften. Und nur dann dürfte es den politischen Willen hierfür auch tatsächlich geben.

Die Bundesbank hat das Ende der Vorzugsbehandlung von Staatsanleihen auf die Tagesordnung der internationalen Gremien gesetzt. Allerdings sind die Diskussionen, gerade im Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht, nicht einfach. Deshalb kommt es jetzt darauf an, dieses Thema verstärkt in die europäischen Gremien einzubringen und dort voranzutreiben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Härtung der Budgetregeln, die Entprivilegierung von Staatsanleihen und eine automatische Laufzeitverlängerung von Staatsanleihen sind drei wichtige Reformen. Sie können dazu beitragen, die Währungsunion dauerhaft stabil zu machen.

Diese Vorschläge schärfen wieder das Prinzip der fiskalischen Eigenverantwortung, das konstituierende Merkmal des Maastricht-Rahmens.

Letztlich müssen alle Vorschläge zur Weiterentwicklung der Währungsunion dahingehend beurteilt werden, wie sie auf den notwendigen Gleichlauf von Handeln und Haften wirken.

Um das europäische Projekt voranzubringen, hat der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich in einer beachtenswerten Rede vorgeschlagen, weitere Politikbereiche zu vergemeinschaften – das heißt, an Brüssel zu übertragen und entsprechend gemeinsam zu finanzieren.

Diese Vorschläge sind kein Ersatz für eine Stärkung der Eigenverantwortung im Euroraum. Aber umgekehrt müssen sie dem Prinzip der Eigenverantwortung auch nicht widersprechen. Herausforderungen des Klimaschutzes, die Sicherung der Außengrenzen und die Entwicklung gemeinsamer Kommunikations-, Energie und Verkehrsnetze lassen sich womöglich sogar auf europäischer Ebene effizienter angehen als auf nationaler.

 

Geldpolitik

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

was bekanntlich seit langem auf europäischer Ebene gemeinschaftlich angegangen wird, ist die Geldpolitik. Und was die Geldpolitik betrifft, kann ich den letzten Teil meiner Ausführungen mit einer guten Nachricht beginnen: Der Euroraum verzeichnet einen robuster werdenden wirtschaftlichen Aufschwung, der seit 17 Quartalen anhält und alle Euro-Länder erfasst hat.

Diese Entwicklung dürfte auch noch eine Zeit weitergehen. Im September haben die Ökonomen der EZB ihre Prognosen für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr auf 2,2 Prozent angehoben. Und für die nächsten beiden Jahre erwarten sie ebenfalls Wachstumsraten um die 2 Prozent.

In zwei Wochen kommt nun eine aktualisierte Prognose heraus – wie im Dezember üblich, dann auf Basis detaillierter Länderprojektionen. Derzeit spricht einiges dafür, dass der Konjunkturausblick dann mindestens so gut ausfällt, wenn nicht sogar besser. Viele Kurzfristindikatoren haben zumindest positiv überrascht.

Und auch die Wirtschaftslage in Deutschland ist außergewöhnlich gut. Wir verzeichnen den höchsten Beschäftigungsstand seit der Wiedervereinigung, die Stimmung der Unternehmen und Verbraucher ist blendend, der ifo-Geschäftsklimaindex hat sogar einen historischen Höchststand erreicht. Die jüngst eingegangenen Konjunkturindikatoren deuten auch nicht daraufhin, dass die schwierige Regierungsbildung hier zu Lande die Stimmung spürbar trübt.

Dabei profitiert die wirtschaftliche Erholung in Deutschland und dem Euroraum auch von der außerordentlich lockeren Geldpolitik des Eurosystems. Mit dieser geldpolitischen Ausrichtung hat der EZB-Rat auf die gedämpften Inflationsaussichten reagiert.

Ein Grund für den verhaltenen Preisanstieg liegt darin, dass einige Länder des Euroraums weiterhin damit beschäftigt sind, den Verlust von Wettbewerbsfähigkeit zu korrigieren, der ein Auslöser der Krise im Euroraum war. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, heißt aber meistens auch geringere Lohnsteigerungen.

Der EZB-Rat hatte auf den schwachen Preisdruck zunächst mit Leitzinssenkungen reagiert. Als die bei Leitzinsen bei Null angekommen waren, hat er zu einer Reihe von unkonventionellen Maßnahmen gegriffen, um die Geldpolitik weiter zu lockern.

Dazu gehört auch, dass das Eurosystem seit März 2015 im großen Stil Anleihen der Mitgliedstaaten und Unternehmen aufkauft. Gegenwärtig in Höhe von 60 Mrd. Euro im Monat. Ab Januar werden es dann noch 30 Mrd. Euro pro Monat sein – und das mindestens bis September 2018. Sie wissen, dass diese Käufe gerade in Deutschland umstritten sind. Und Ihnen ist vermutlich auch bekannt, dass ich die Käufe ebenfalls skeptisch beurteile.

Das Eurosystem ist inzwischen zum größten Gläubiger der Staaten geworden. Die Finanzierungsbedingungen der Staaten hängen viel unmittelbarer von unserem Tun ab, als das in Zeiten einer normalen Geldpolitik der Fall ist. Ich habe daher die Sorge, dass der EZB-Rat am Ende unter politischen Druck geraten könnte, die Zinsen länger als aus geldpolitischer Sicht vertretbar niedrig zu halten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Projektionen der EZB zeigen aus meiner Sicht aber auch, dass der binnenwirtschaftliche Preisdruck im Euroraum allmählich zunimmt und dass die in der Prognose aufgezeigte Entwicklung des binnenwirtschaftlichen Preisdrucks durchaus im Einklang mit einem Pfad hin zu unserer Definition von Preisstabilität steht.

Denn eines ist ja auch klar: Selbst nach einem Auslaufen der Nettokäufe wird die Geldpolitik im Euroraum weiterhin sehr expansiv sein.

Mit den geldpolitischen Beschlüssen vom Oktober wird sogar weiter geldpolitisch Gas gegeben, lediglich nicht mehr so vehement wie zuvor. Angesichts der günstigen Konjunkturaussichten und der anziehenden Preise wäre eben auch eine etwas weniger expansive Ausrichtung der Geldpolitik vertretbar gewesen.

 

Schluss

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ich habe heute viel über die institutionelle Ordnung des Euroraums und die Geldpolitik gesprochen. Zum Stichwort Ordnung hat der Physiker Georg Christoph Lichtenberg einmal gesagt „Ordnung führt zu allen Tugenden, aber was führt zur Ordnung?“ Für den Euroraum habe ich das heute anhand verschiedener Anknüpfungspunkte versucht, klar zu machen: Es ist im Wesentlichen ein Gleichlauf – in einer Philharmonie sollte ich wohl besser sagen ein Gleichklang – von Handeln und Haften. Ich werde mich in den Debatten über die Weiterentwicklung der Währungsunion dafür einsetzen, dass dieser elementare Gleichklang nicht vergessen wird.

Vielen Dank.

 

Fußnoten:

  1. Badinger, H. (2005), „Growth Effects of Economic Integration: Evidence from the EU Member States“, Review of World Economics 141, 50-78.

 

  1. Nauro F. Campos, Fabrizio Coricelli, Luigi Moretti (2014), „Economic Growth and Political Integration: Estimating the Benefits from Membership in the European Union Using the Synthetic Counterfactuals Method”, IZA Discussion Paper Nr. 8162.

 

  1. Boltho, Andrea und Eichengreen, Barry (2008), „The Economic Impact of European Integration“, CEPR Discussion Paper Nr. 6820.

 

  1. W Kösters (1996) Stability Culture as a Precondition for the Sustainability of the European Monetary Union (EMU). In: Urban S. (eds) Europe’s Challenges. Gabler Verlag, Wiesbaden.

 

  1. W Kösters (1994). Comments on ‚European Monetary Union: Sovereignty and Hegemony’ by Norbert Kloten. In: S Frowen und F McHugh [eds.]: Financial Decision Making and Moral Responsibility. St. Martin’s Press, 1994.

 

  1. Deutsche Bundesbank (2017), Zur Ausgestaltung und Umsetzung der europäischen Fiskalregeln, Monatsbericht Juni 2017, S. 29-45.

 

Deutsche Bundesbank

http://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Reden/2017/2017_11_29_weidmann.html

 

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