Es gibt Zeiten, in denen Paragraphen lauter sprechen als das Gewissen. Zeiten, in denen das Richtige nur noch in Formularen existiert und Menschlichkeit zum bürokratischen Ausnahmefall wird. Wir leben in einer solchen Zeit. Vor einigen Wochen schrieb ich an den Oberbürgermeister der Stadt Gießen mit einer einfachen, aber schweren Bitte: drei iranischen Frauen – Varishe Moradi, Sharifeh Mohammadi und Pakhshan Azizi – die Ehrenbürgerschaft der Stadt zu verleihen. Drei Frauen, drei Mütter, drei Akademikerinnen, die im Iran wegen ihres Denkens und Handelns zum Tode verurteilt sind.
Ich schrieb nicht, um Mitleid zu erregen, sondern um ein Zeichen zu setzen. Die Antwort, die ich erhielt, war höflich, korrekt, ordentlich – und zugleich herzlos. Eine Antwort, die erklärt, warum etwas nicht geht, und die mehr über unsere Zeit verrät als über den Adressaten. Es wurde auf eine Richtlinie verwiesen, nach der eine Ehrenbürgerschaft nur möglich sei, wenn eine „besondere Beziehung“ zur Stadt bestehe. Aber was ist Beziehung? Ist Menschlichkeit keine Beziehung? Ist Mitgefühl nicht eine Verbindung, die keine Grenzen kennt?
Diese Reaktionen machen nicht nur traurig, sie machen verzweifelt. Verzweifelt über die Kälte eines Landes, das sich humanistisch nennt, aber immer zuerst fragt: Darf ich das überhaupt? Jede bürokratische Antwort liegt schwer im Magen, wie ein deutscher Satz aus Stahl und Beton. Man fühlt sich allein. Und in dieser Einsamkeit erkennt man, dass das System sich selbst schützt – nicht den Menschen.
Ich nenne das die konservative Liebe: eine Liebe, die nichts zerstören will, aber alles Lebendige kontrolliert, bis es stirbt. Eine Liebe, die keine Paragraphen kennt und doch alles Menschliche durch Paragraphen ordnet. So entsteht ein Land, das alles richtig macht – und doch falsch lebt.
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Becher,
ich danke Ihnen für Ihre Antwort auf mein Schreiben. Und doch erfüllt sie mich nicht nur mit Traurigkeit, sondern mit tiefer Enttäuschung – nicht über Sie als Person, sondern über ein System, das das Denken verlernt hat, wenn es am nötigsten wäre. Sie schreiben, eine Ehrenbürgerschaft setze eine Beziehung zur Stadt Gießen voraus. Ich frage Sie: Ist Menschlichkeit keine Beziehung? Ist das Gewissen ortsgebunden?
Diese drei Frauen – Varishe Moradi, Sharifeh Mohammadi und Pakhshan Azizi – sind nicht nur Opfer eines Regimes, sie sind Mütter, Akademikerinnen, Lehrerinnen, Forscherinnen. Sie haben geschrieben, gelehrt, gedacht – und für die Freiheit anderer ihr Leben riskiert. Was könnte universeller mit einer Stadt wie Gießen verbunden sein als Bildung, Mut und geistige Freiheit?
Ich weiß, dass Ihre Antwort aus der Logik der Verwaltung stammt. Doch genau diese Logik erstickt jedes moralische Risiko. Deutschland ist ein Land der Ordnung geworden, aber kein Land des Mutes. Ein Land, in dem jeder weiß, was richtig wäre – und niemand handelt. Bevor Sie Politiker wurden, waren Sie Pfarrer. Sie haben in Ihrer Kirche die Worte gesprochen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Ich frage Sie: Was bleibt von diesem Satz in einem Rathaus, das sich auf Vorschriften beruft, wenn das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht?
Brecht schrieb: „Nur die toten Fische schwimmen mit dem Strom.“ Doch hier, Herr Becher, scheint der Strom selbst heilig geworden zu sein. Mein Bruder wurde vom iranischen Regime ermordet – er war Schriftsteller, Journalist, Jurist. Das Schweigen Europas, das endlose „Wir bedauern, aber wir können nicht“ – das war der Beifall, den die Täter brauchten.
Ich erkenne an, dass Sie eine politische Patenschaft übernommen haben. Das verdient Respekt. Aber Patenschaften sind sichere Gesten, sie fordern kein Risiko. Die Ehrenbürgerschaft dagegen wäre ein Bruch gewesen – ein Zeichen jenseits der Verwaltung. Ich wollte keine Ausnahme, ich wollte ein Beispiel. Denn Städte leben nicht durch ihre Regeln, sondern durch ihren Mut.
Wenn eine Universitätsstadt wie Gießen, Symbol für Denken und Freiheit, in diesem Moment nicht über ihren Schatten springt – wer dann? Ich werde, mit Respekt, sowohl mein Schreiben als auch Ihre Antwort veröffentlichen. Nicht aus Trotz, sondern um die Frage offenzulegen, die uns alle betrifft: Wer dient heute der Gerechtigkeit mehr – der Paragraph oder das Gewissen?
Herr Oberbürgermeister, wir leben in einer finsteren Zeit. Nicht, weil es an Gesetzen mangelt, sondern weil wir aufgehört haben, das Herz als Gesetz zu begreifen.
Mit aufrichtigen, aber unmissverständlichen Grüßen,
Hossein-Zalzadeh
