Die verlorene Kindheit – Wie Deutschland seine Zukunft im Schatten der Armut begräbt

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Deutschland, das Land der Stabilität, der Ingenieure, der Exportweltmeister. Doch hinter der glänzenden Oberfläche wächst ein anderes Deutschland – ein Land, in dem Millionen Kinder kaum eine echte Zukunft haben. Armut hat hier keinen exotischen Klang. Sie wohnt mitten unter uns: in Mietskasernen, in Schulhöfen, in Supermarktschlangen, in Kinderaugen, die zu früh gelernt haben, still zu sein.

Nach offiziellen Daten des Statistischen Bundesamtes war im Jahr 2023 jedes fünfte Kind in Deutschland arm oder unmittelbar von Armut bedroht. Das bedeutet: rund drei Millionen Kinder leben unter Bedingungen, die sie systematisch vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. Zählt man Erwachsene hinzu, sind es über 20 Millionen Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind – ein Fünftel der Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt.

In den sogenannten „sozialen Brennpunkten“ wird diese Realität besonders sichtbar. Stadtteile wie Marxloh in Duisburg, der Görlitzer Park oder das Kottbusser Tor in Berlin gelten längst als Orte, wo Hoffnung Mangelware ist. Dort, wo Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und schlechte Bildung zusammentreffen, wachsen Kinder auf, die wissen, dass sie weniger wert sind – nicht, weil sie dümmer wären, sondern weil sie arm geboren wurden.

In diesen Vierteln fehlt alles, was Kinder stark machen könnte: Sportvereine, Musikschulen, Jugendzentren. Freizeit wird ersetzt durch Warten – auf den nächsten Tag, der genauso aussehen wird wie der vorige. Viele Jugendliche finden ihren Halt in Straßengruppen, in Gangs – oder, gefährlicher noch, in der Nähe politischer Ränder. Rechte Bewegungen und populistische Parteien haben längst erkannt, wie man diese Wut ausnutzt: Sie geben vor, „die Vergessenen“ zu vertreten, während sie selbst in Parlamenten sitzen, wo das monatliche Einkommen 30.000 Euro erreichen kann. Ihre Kinder gehen auf Privatschulen; die Kinder jener, über die sie reden, bleiben zurück – in kaputten Klassenzimmern und unterfinanzierten Schulen.

Seit fast zwei Jahrzehnten stagniert die Kinderarmut in Deutschland. Alle Regierungen versprachen Wandel, doch die Zahlen bleiben unverändert. Der „Gießkannen“-Ansatz – also das wahllose Verteilen kleiner Geldbeträge – lindert Symptome, heilt aber keine Ursachen. Wer in Armut geboren wird, bleibt häufig in ihr gefangen, weil Bildung, Wohnraum und Arbeit längst zu Klassenfragen geworden sind.

Das Paradoxon der Bundesrepublik lautet: Je reicher das Land, desto unsichtbarer die Armen. Medien und Politik zeigen lieber die Statistiken des Erfolgs als die Gesichter der Kinder, die in kalten Wohnungen Hausaufgaben machen. Die offizielle Sprache spricht von „Herausforderungen“ oder „sozialer Teilhabe“. Aber die Realität in Duisburg-Marxloh, Essen-Nord oder Leipzig-Grünau lässt sich nicht schönreden. Dort riecht Armut nach billigem Heizöl und nach dem kalten Beton des Treppenhauses.

Diese Kinder sind nicht nur Opfer von Umständen – sie sind Zeugen eines gesellschaftlichen Versagens. Wenn sie spüren, dass niemand sie sieht, suchen sie sich andere, die ihnen Gehör schenken – auch wenn diese „anderen“ die Sprache des Hasses sprechen. Die Rechten bieten Zugehörigkeit an, wo der Staat Gleichgültigkeit zeigt.

Und während Politiker über Familienförderung reden, bleibt der Alltag unverändert: Kinder, die nicht an Klassenfahrten teilnehmen können. Familien, die zwischen Stromrechnung und Schulbrot wählen müssen. Eltern, die nachts arbeiten und tagsüber hoffen, dass ihre Kinder nicht aufgeben.
Die öffentliche Meinung – genährt von konservativen Zeitungen, Zeitschriften und Journalisten – schweigt weitgehend dazu oder präsentiert immer wieder nur die glänzenden Seiten eines Themas, während die eigentlichen Wunden unbeachtet bleiben. Genau das wollen wir hier nicht tun.

Wenn ein Land akzeptiert, dass Armut zur Normalität wird, verliert es seine moralische Substanz. Und wenn Kinderarmut hingenommen wird, verliert es seine Zukunft.

Deutschland muss aufhören, sich selbst als Musterknaben Europas zu feiern. Es braucht keine neuen Statistiken – es braucht Mut. Mut, die Wahrheit auszusprechen: Armut in Deutschland ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Quellen und Belege:

  • Statistisches Bundesamt (Destatis): „Armutsgefährdung in Deutschland 2023“, Pressemitteilung Nr. N033 vom 25. Juli 2024.
  • Deutsches Kinderhilfswerk: Kinderarmut in Deutschland stagniert seit fast 20 Jahren. (dkhw.de)
  • UNICEF Deutschland: Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern in Deutschland. (unicef.de)
  • Europäische Kommission (Eurostat): AROPE – People at risk of poverty or social exclusion, EU 2024. (europa.eu)
  • Paritätischer Gesamtverband: Armutsbericht 2024. (der-paritaetische.de)
  • Spiegel, Stern, Tagesschau: Berichte 2023–2024 zu Kinderarmut, sozialen Brennpunkten und rechten Jugendmilieus.

 

Über Hossein Zalzadeh 22 Artikel
Hossein Zalzadeh ist Ingenieur, Publizist und politisch Engagierter – ein Mann, der Baustellen in Beton ebenso kennt wie die Bruchstellen von Gesellschaften. Zalzadeh kam Anfang zwanzig zum Studium nach Deutschland, nachdem er zuvor in Teheran als Lehrer und stellvertretender Schulleiter in einer Grundschule tätig gewesen war. Er studierte Bauwesen, Sanierung und Arbeitssicherheit im Bereich Architektur sowie Tropical Water Management an mehreren technischen Hochschulen. An bedeutenden Projekten – darunter der Frankfurter Messeturm – war er maßgeblich beteiligt. Seine beruflichen Stationen führten ihn als Ingenieur auch in verschiedene afrikanische Länder, wo er die großen sozialen Gegensätze und die Armut unserer Welt ebenso kennenlernte wie ihre stillen Uhrmacher – Menschen, die im Verborgenen an einer besseren Zukunft arbeiten. Bereits während des Studiums engagierte er sich hochschulpolitisch – im AStA, im Studierendenparlament sowie auf Bundesebene in der Vereinten Deutschen Studentenschaft (VDS) – und schrieb für studentische Magazine. In diesem Rahmen führte er Gespräche mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Herta Däubler-Gmelin über die Lage ausländischer Studierender. Seit vielen Jahren kämpft er publizistisch gegen das iranische Regime. Geprägt ist sein Schreiben vom Schicksal seines Bruders – Jurist, Schriftsteller und Journalist –, der vom Regime ermordet wurde. Derzeit schreibt er an seinem Buch Kampf um die Menschlichkeit und Gerechtigkeit – ein Plädoyer für Freiheit, Würde und den Mut, der Unmenschlichkeit zu widersprechen.