HISTORISCHER HINTERGRUND DER SAMMLUNG UND VERFOLGUNGSSCHICKSAL ELLEN FUNKE
Helene Sophie Victoria Hermine Heintzmann, genannt Ellen Funke (1869–1947) aus Hamm, war Begünstigte von Kunstwerken aus dem „Loeb’schen Fideikommiss“, einer bedeutenden Privatsammlung mit Wurzeln im 19. Jahrhundert. Aufgrund der jüdischen Herkunft ihrer mütterlichen Vorfahren wurde sie im Nationalsozialismus als „jüdischer Mischling ersten Grades“ eingestuft und war daher von systematischer Verfolgung betroffen. Die Sammlung wurde ursprünglich von Alexander Haindorf, einem jüdischen Mediziner und dem Mitbegründer des Westfälischen Kunstvereins, auf Gut Caldenhof bei Hamm gemeinsam mit seiner Tochter Sophie und deren Ehemann Jakob Loeb aufgebaut.
Nach der Auflösung des Fideikommisses bis 1936 wurde die Sammlung unter den erbberechtigten Nachkommen aufgeteilt, die als Juden oder sogenannte „Halbjuden“ verfolgt wurden. Ellen Funke war eine dieser Berechtigten. Ihre Sammlung umfasste 101 Kunstwerke, darunter „Die Vision des Hl. Bernhard“ von Johannes Koerbecke. 1936 verkaufte sie das Werk an die Galerie Stern in Düsseldorf, offenbar um finanzielle Mittel für einen dauerhaften Aufenthalt im sicheren Ausland zu erzielen und Familienmitglieder zu unterstützen. Damit besteht unwiderlegbar die Vermutung, dass das Gemälde nicht ohne die NS-Herrschaft verkauft worden wäre und der Verlust verfolgungsbedingt war. Ellen Funke ist als Erstgeschädigte anzusehen, weshalb die Restitution gemäß international anerkannter Auslegung der Washingtoner Prinzipien prioritär an ihre Rechtsnachfolger erfolgt.
TRENNUNG DES GEMÄLDES UND ERWERBUNG DURCH ZWEI MUSEEN
Das Gemälde, als beidseitig bemalte Tafel konzipiert, zeigte auf der Vorderseite die Verkündigung und auf der Rückseite die Vision des Hl. Bernhard. Der Kunsthändler Max Stern trennte die beiden Bildseiten, um sie als eigenständige Werke zu veräußern. Die Rückseite mit der Darstellung des Hl. Bernhard wurde 1937 in einem Katalog der Kunsthandlung P. de Boer in Amsterdam verzeichnet und im Juli/August 1938 von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen erworben.
Der Ankauf des Werkes erfolgte im Rahmen eines Tauschgeschäfts: Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen übergaben 1938 ein Werk aus ihrer Sammlung – Jan van Goyens Wasserlandschaft (ehem. Inv. Nr. 2015) an die Amsterdamer Kunsthandlung P. de Boer und erhielten neben dem Werk von Koerbecke eine Ölskizze von Carlo Calone (Inv. Nr. 10645).
FAMILIE WELS ALS NACHFAHREN ZUR RESTITUTION
„Wir haben die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und alle beteiligten Mitarbeiter als offen, positiv und bemüht wahrgenommen. Daher schulden wir diesen unseren besonderen Dank. Das Bild ist nun zurück in der „Sammlung Alexander Haindorf“, welche durch uns als Nachfahren nach Möglichkeit wieder zusammengetragen wird.
Die persönliche Rückgabe des Bildes war ein besonderer und ergreifender Moment. Wir haben klar gespürt, dass alle Mitarbeiter der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen sich selbst sehr über die Rückgabe gefreut haben und genauso ergriffen waren wie wir.
Ein solcher Weg ist oft sehr lang, und benötigt Unterstützung von Fachleuten. Daher möchten wir hier unseren Dank an Frau Dr. Sabine Rudolph (spezialisierte Anwältin für NS-Raubkunst) aussprechen.”
ANTON BIEBL ZUR RESTITUTION
„Mit viel Engagement setzen sich die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und die Forscherinnen des neu gegründeten Referates für Provenienzforschung an der Staatlichen Museumsagentur Bayern für die Aufklärung historischer Unrechtmäßigkeiten und die Rückgabe von während der NS-Zeit entzogenen Kunstwerken ein. Durch sorgfältige und wissenschaftlich fundierte Provenienzforschung wird verlorenes Kulturgut sichtbar gemacht und werden im Sinne der historischen Gerechtigkeit faire Lösungen ermöglicht.“, betont Anton Biebl, Leiter der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
Johannes Koerbecke (1407-1491) Vision des hl. Bernhard, 3. V. 15. Jh. Eichenholz, 94 x 78,7 cm Inv. Nr. 10644 Sammlung | Vision des hl. Bernhard
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