Interview mit Rainer Zitelmann: Dass über Enteignung in Deutschland gesprochen wird, ist erschreckend

Stefan Groß-Lobkowicz27.09.2021Medien, Politik

“The European” sprach mit dem Soziologen und Bestsellerautor Rainer Zitelmann über die Bundestagswahl 2021.

Wie beurteilen Sie den Ausgang der Wahl?

Zitelmann: Positiv ist natürlich, dass Rot-Rot-Grün knapp verhindert wurde. Knapp sage ich, weil dies nur am schlechten Abschneiden der LINKEN liegt. Hätte sie ihr Ergebnis von 2017 gehalten, hätten wir eine deutliche Mehrheit für die Volksrepublik-Koalition. Die drei linken Parteien bekamen wegen des schlechten Abschneidens der Linken zusammen 363 Sitze, hätten aber 368 gebraucht, um eine Regierung zu bilden. Unternehmer können also – zunächst einmal – in Deutschland bleiben und müssen nicht auswandern. Zunächst.

Positiv ist auch, dass die FDP bei den jungen Wählern unter 30 Jahren 20 Prozent erzielte. Das stimmt optimistisch. Ich hoffe nur, dass Christian Lindner mit Blick auf die Ampel bei dem Prinzip bleibt: Besser nicht regieren als falsch regieren

Was hat die SPD falsch gemacht?

Zitelmann: Aus ihrer Sicht hat die SPD alles richtig gemacht. Allerdings mit der größten Wählertäuschung in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn Scholz war nur der Fliegenfänger für ehemalige Merkel-Wähler. Das ist gelungen. Dahinter steht bekanntlich die nach Linksaußen abgedriftete SPD mit Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert. Kühnert kommt nicht allein in den Bundestag, sondern bringt 50 Linksaußen-Jusos mit. Insofern ist trotz der Verluste der LINKEN die politische Linke im Bundestag gestärkt.

 Was wäre der Vorteil, wenn die Union in die Opposition geht?

Zitelmann: Das wäre ja nur dann der Fall, wenn es zu einer Ampel-Koalition kommt. Und die lehne ich strikt ab. Eine Ampel wäre allenfalls der letzte Rettungsanker in einer verzweifelten Situation gewesen, wo es darum gegangen wäre, eine Rot-Rot-Grüne Regierung zu verhindern. Nachdem diese Gefahr gebannt ist, darf die FDP keine Ampel-Koalition eingehen. Das wäre tödlich für die FDP, es wäre eine Wiederholung des Jahres 2009, wo sie mit einem guten Ergebnis in den Bundestag kam, aber vier Jahre später rausflog, weil sie ihre Versprechen nicht gehalten hat.

Was bedeutet das für die Bundesrepublik und welche Koalitionen sind nun denkbar?

Zitelmann: Eine Koalition aus CDU/CSU und SPD, obwohl rechnerisch möglich, halte ich für unwahrscheinlich. Ganz ausgeschlossen wäre es indes nicht, wenn andere Optionen scheitern. Eine Ampel-Koalition wäre Selbstmord für die FDP – als jemand, der dieser Partei seit 27 Jahren angehört, kann ich also nur hoffen, dass es dazu nicht kommen wird. Das kleinste Übel wäre Jamaika. Übel sage ich deshalb, weil jede Regierung unter Beteiligung der Grünen ein Übel für Deutschland ist.

Zeigt die Wahl, dass die Deutschen politisch immer weiter auseinanderdriften?

Zitelmann: Ich mag die Klagen über die „Spaltung der Gesellschaft“ nicht. Eine gespaltene Gesellschaft macht mir viel weniger Angst als eine Gesellschaft, die im Gleichschritt unter dem Banner der politischen Korrektheit marschiert. Die Vorstellung, alle müssten in eine Richtung marschieren, ist letztlich eine totalitäre Utopie, die zu einer pluralistischen und freiheitlichen Gesellschaft nicht passt.

Was sagen Sie zum Ausgang des Volksentscheids zur Enteignung in Berlin?

Zitelmann: Ich finde es erschreckend, dass in Deutschland heute überhaupt wieder über Enteignung diskutiert und abgestimmt wird. Und erschreckend ist auch, dass 56,4 Prozent der Berliner dafür gestimmt haben. Das zeigt für mich vor allem das grandiose Versagen der marktwirtschaftlichen Kräfte. Die Unternehmen haben doch genug finanzielle Mittel: Warum wurde keine massive PR- und Werbekampagne in Berlin für das Eigentum gemacht? Ich hätte mir mehr Plakate Pro-Eigentum in Berlin gewünscht als Wahlplakate. Und es zeigt sich auch, was ich seit Jahren sage: Der schwächlich-feige Appeasement-Kurs der Immobilienwirtschaft, die sich bei den linken Kräften anbiedert und hofft, dann verschont zu werden, ist kläglich gescheitert. Es mag sein, dass der Volksentscheid nicht umgesetzt wird oder vor dem Bundesverfassungsgericht scheitert. Doch was läuft, ist die indirekte Enteignung: Immobilieneigentümer stehen zwar weiter im Grundbuch, aber alle wesentlichen Merkmale des Privateigentums werden so weit ausgehöhlt, dass nur noch der leere Rechtstitel bleibt. Das ist die eigentliche Gefahr, auch wenn formell nicht enteignet werden sollte. Übrigens fühle ich mich durch das Ergebnis auch in meiner strikten Ablehnung von Volksentscheiden bestätigt. Ich weiß, dass viele Menschen, die sonst ähnlich so denken wie ich, hierzu eine andere Meinung haben. Aber was bei solchen Volksentscheiden in Deutschland herauskommen kann, haben wir jetzt gesehen.

Fragen: Stefan Groß

Walter-Borjans: „Armin Laschet ist ein Risiko für Deutschland“

Stefan Groß-Lobkowicz24.09.2021Medien, Politik

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans fährt bei „Markus Lanz“ die falschen Geschütze gegen CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet heraus. Damit tut er weder sich noch seiner Partei auf den letzten Metern im Wahlkampf keinen Gefallen. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans ist eine Mischung zwischen Teddybär und unaufgeregten Langweiler, eher Kaufhausvertreter als Machtpolitiker. Borjans versprüht den milden Charme einer Schlaftablette. Doch wenn es um CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet und Scholz’ Gegenspieler geht, wird selbst aus dem gebürtigen Krefelder eine Waffe. Im Wahlkampfendspurt bei „Markus Lanz“ zeigte sich der Sozialdemokrat jetzt kämpferisch. „Armin Laschet ist ein Risiko“, so der 69-Jährige.

Zu Hochform lief Walter-Borjans gestern bei „Markus Lanz“ auf und spielte das Negativ-Campaining der SPD gegen den einstigen Koalitionspartner in die nächste Runde. Laschet degradierte er zum Schreckgespenst eines CDU-Kanzlers und betonte: „Wenn Deutschland einen Armin Laschet zu Putin schickt, würde ich nicht ruhig schlafen“. Noch tiefer in die Klaviatur griff Walter-Borjans dann, als er dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westphalen eine pausenlose Strategieänderung vorwarf. Laschet sei von Panik getrieben und das ist eine Art politische Charakterschwäche. „Er hat keine einheitlich geradlinige Strategie. Und das ist das Risiko für Deutschland“, so der SPD-Chef. Und er setzt noch einen drauf: Wenn Laschet als deutscher Bundeskanzler auf den Bühnen dieser Welt verhandle, „dann weiß ich, wo mir bange ist.“ Ausgerechnet Walter-Borjans, der oft ungeschickt, tapsig und so gar nicht weltmännisch agiert, wirft Laschet vor, dass dieser „in jeder Stresssituation den Stresstest nicht besteht.“

Im eher langweiligsten, aber darum wahrscheinlich spannendsten Wahlkampf der letzten Jahre ist die SPD mit ihrem umstrittenen Matroschka-Werbespot Anfang August gegen die CDU kräftig unter die Gürtellinie gefahren. Zurecht galt die Kampagne im US-amerikanischen Stil als Tabubruch. Damals wurden Laschets Hintermänner, Hans-Georg Maaßen oder auch Nathanael Liminski, Leiter der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, als extreme Köpfe vorgeführt, die Konfession eines seines engsten Mitarbeiters und Wahlkampfleiters verballhornt und als erzkonservativ abgetan. Dass Walter-Borjans hier nicht unbeteiligt war, hat er bei „Lanz“ selbst zugegeben. Und die berechtigte Frage bleibt: Macht man so Wahlkampf, indem man religiöse Überzeugungen angreift?

Es ist schon ein wenig geschmacklos wie der SPD-Chef den NRW-Ministerpräsidenten auf das Korn nimmt und verrät zugleich viel über den Kritiker selbst. Walter-Borjans hat sich mit seinem „Negative Campaigning“ das so im deutschen Wahlkampf nicht üblich ist, keinen Gefallen getan, seiner Partei noch weniger. Vom britischen Premierminister Winston Churchill (1874-1965) stammt jener kluge Satz: „Die Freiheit der Rede hat den Nachteil, dass immer wieder Dummes, Hässliches und Bösartiges gesagt wird.“ Das gilt leider auch für den SPD-Chef.

Schon im christlichen „Alten Testament“ findet sich die geflügelte Textstelle: „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; und wer mit Steinen wirft, wird selbst getroffen! Dies scheint sich auf den letzten Metern im Wahlkampf zu bewahrheiten, denn Armin Laschet rückt wieder näher in den Umfragen an die SPD heran. Ob Walter-Borjans’ destruktive Kritik positiver Nährboden für eine mögliche Ampel sein kann, muss der Politiker vor sich und seinem Gewissen ausmachen.

Katherina Reiche wird „Managerin des Jahres 2021“

Stefan Groß-Lobkowicz24.09.2021Medien, Wirtschaft

Für ihr Engagement in Sachen Gleichstellung erhält die Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates der Bundesregierung und Vorstandchefin der Westenergie AG, Katherina Reiche, den „MESTEMACHER PREIS MANAGERIN des Jahres 2021“.

Diese Frau ist buchstäblich Energie, erneuerbare Energie. Anstatt in die Vergangenheit zu blicken, ist Katharina Reiche, die Chemikerin, eine Zukunftsmacherin. Gestaltend greift sie in die Welt von morgen, beschreitet energisch neue Wege. Beim Thema Gleichberechtigung geht sie in die Offensive, will den Frauenanteil in Vorständen und Aufsichtsräten deutlich erhöhen. Reiche ist überzeugt, dass viel mehr Frauen in die Führungsetagen gehören, die Frauenquote bleibt ihr Herzensangelegenheit. „Das Potenzial in Deutschland ist riesig, wenn wir uns die Ausbildung der Frauen anschauen: Frauen, die 45 Jahre oder jünger sind, verfügen über ein höheres Qualifikationsniveau als gleichaltrige Männer. Einen Hochschulabschluss haben beispielsweise 31 Prozent der 30- bis 35-jährigen Frauen, aber nur 28 Prozent der Männer“, erklärt sie gegenüber dem „The European“.

Die gebürtige Luckenwalderin und Mutter von drei Töchtern, selbst mit Unternehmergeist von Kindesbeinen an geprägt, steht seit Januar 2020 der E.ON-Tochter Westenergie vor. Seitdem dort die Macherin die Strippen zieht, überzeugt die langjährige Politikerin mit Frauenpower. Mit der „FEMpower-Akademie“ hat sie ein Programm zur „Frauenförderung“, eine Fortbildungsakademie des Unternehmens für Frauen, ins Leben gerufen. Reiche will Kolleginnen besser vernetzen und auf die Übernahme von Führungsrollen vorbereiten. Intensive Kooperationen mit Technischen Hochschulen sowie ein profundes Talentmanagement zählt sie dabei zu ihren Kernaufgaben. Gleichberechtigung versteht Reiche dabei nicht als Worthülse, sondern als „elementare Frage von wirtschaftlichem Erfolg“, der letztendlich dem Gemeinwesen zugutekommt.

Frauenpower pur, dafür steht die Wirtschaftsmanagerin, die sich auch ehrenamtlich vielseitig engagiert. Lösungsorientiert und pragmatisch agiert Reiche seit Jahrzehnten. 1992 war sie Gründungsmitglied des RCDS an der Universität Potsdam. 17 Jahre arbeitete sie als Mitglied des Deutschen Bundestages, vier Jahre war sie stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Karrieretechnisch ging es stets bergauf. 2013 wurde die Frau, die jahrelang den Vorsitz der Frauen-Union im Kreisverband Potsdam-Mittelmark führte, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, bevor sie 2013 bis 2015 als Parlamentarische Staatssekretärin ins Bundesverkehrsministerium wechselte.

Seit Jahren kämpft Reiche gegen den Klimawandel und die Treibhaus-Emissionen. Schon 2006 warb sie für Klimaneutralität und sprach sich gegen fossile Brennstoffe aus. Jetzt ist die Macherin und Spitzenmanagerin der Energiebranche bei Westenergie in einer Schlüsselposition, um dort in eine Energie der Zukunft zu investieren, nicht nur nebenbei erhöht sie auch den Frauenanteil im Unternehmen. Reiche, die auf diverse Führungsteams setzt, weil diese eine neun Prozent höhere Gewinnmarge und einen 20 Prozent höheren Umsatz als Wettbewerber, die nur von Männern geführt werden, generieren, managet 10.000 Beschäftigte. 175.000 Kilometer Strom-, 24.000 Kilometer Gas- und 5.000 Kilometer Wasserleitungen sowie 10.000 Kilometer Breitbandnetze für rund 6,6 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz stehen unter ihrer Regie. Der Netzbetreiber ist nicht nur im Zentrum der nationalen sowie europäischen Energiewende, sondern muss die Dekarbonisierung des Energiesystems bis 2045 wesentlich vorantreiben. Für Reiche ist es die größte Herausforderung der Industriegeschichte, die sie tatkräftig mit Sachverstand und Charme in Angriff nimmt. Die Managerin weiß, dass der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern und der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft nur gelingen kann, wenn Wirtschaft, Politik und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Wie zukunftsorientiert Reiche dabei agiert, zeigt sich bei vielen Forschungsprojekten, die sie auf den Weg bringt und bei der Entwicklung von Modellregionen für die Energiewende. Mit dem Nationalen Wasserstoffrat, dessen Vorsitz sie übernommen hat, konkretisiert sie ihre Zukunftsvisionen durch einen sehr klaren 80-Punkte-Plan, der es ermöglicht, den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft zügig zu gestalten.

Für ihr Engagement sowohl als Kämpferin für mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern als auch eine der wichtigsten Managerinnen bei der Gestaltung der Energiewende, wird Reiche der „Mestemacher Preis Manegerin des Jahres“ am 24. September 2021 im Grandhotel Adlon Kempinski verliehen. Die Initiatorin und Vorsitzende der Geschäftsführung Mestemacher Management GmbH, Prof. Dr. Ulrike Detmers würdigt die 20. Preisträgerin mit den Worten: „Im 20. Jubiläumsjahr des Gleichstellungspreises ehren wir die Vorstandschefin der Westenergie AG, Katherina Reiche. Sie ist eine der führenden und zugleich wenigen Spitzenmanagerinnen der Energiebranche und Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates der Bundesregierung. Daran wird bereits deutlich, dass sie Diskussionen vorantreibt und Veränderungen energisch, präzise und verbindlich angeht“.

Saskia Esken – Früher war sie Straßenmusikantin

Stefan Groß-Lobkowicz21.09.2021Medien, Politik

Saskia Esken hat fast aus dem Nichts eine politische Karriere hingelegt. Unter einer rot-rot-grünen Bundesregierung könnte sie jetzt sogar Bildungsministerin im Kabinett von Olaf Scholz werden. Doch er ist diese Frau wirklich? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Aus Übersee kommt derzeit keine gute Kritik zum deutschen Wahlkampf und den Personalien. Die „New York Times“ findet alle Kanzlerkandidaten und insbesondere Olaf Scholz (SPD) ohne Charisma und öde. Der langweiligste Typ bei der Wahl – vielleicht im ganzen Land“ schriebt der frühere US-Botschafter John Kornblum. Sein Fazit: Selbst Wasser beim Kochen zuzusehen, sei interessanter.

Wen Kornblum gar nicht auf seiner Agenda hatte, war die 1961 in Stuttgart geborene Saskia Esken. Die linkseingefärbte Sozialdemokratin, der selbst Willy Brandt nicht sozialistisch genug war, ist so gar nicht Establishment. Für Esken gibt es keine Vorbilder. Die Schwäbin, die auf Bildung, Klimaschutz, 12 Euro Mindestlohn, den Kampf gegen Rechts und auf das Motto „mehr Demokratie wagen“ setzt, will weder wie Armin Laschet oder Scholz Merkel kopieren, sondern Authentizität versprühen. Politisch hatte sie ganz klein im Jugendhaus in Weil der Stadt angefangen und über eine ehrenamtliche Elternvertretung sich peu à peu an die Bildungspolitik herangearbeitet und es zur stellvertretenden Vorsitzenden des Landeselternbeirats Baden-Württemberg. Die Frau, die mit Linken Ex-Linken Chef Bernd Riexinger politisch auf eine Karte setzt und den Juso-Flügel um Ex-Chef Kevin Kühnert in der SPD vertritt, will eigentlich mehr Dialog, mehr Werte, mehr Solidarität – Ehrenamt und ein ehrliches Engagement. „Miteinander sprechen, einander zuhören und immer versuchen, einander zu verstehen“ Das dialogische Prinzip habe sie begeistert, seit ihrer Kindheit bis in die ersten Fußstapfen in die Kommunalpolitik hinein. Nun könnte der Politikerin, die den Wahlkreis Calw / Freudenstadt mit 66 Städten und mehr als 280.000 Einwohnern als Bundestagsabgeordnete per Wahlkreis vertritt, noch mehr an den Strippen der Macht ziehen, vielleicht mehr als sie es sich in ihren kühnsten Träumen zu hoffen wagte. Doch derzeit fährt die Union unter CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak noch eine Rote-Socken-Kampagne gegen Esken. Tenor dabei: Wer die SPD wählt, wählt nicht den netten und biederen Scholz, sondern auch Parteilinke wie Kevin Kühnert.

Mit der Gitarre auf der Straße – Esken startete buchstäblich von ganz unten

Nach abgebrochenem Studium ihres Politik- und Germanistikstudiums hatte Esken, die in den Medien nicht eben wie ein Star, sondern eher ein bisschen bieder und hausfraulich, eben schwäbisch altbacken als avantgardistisch daherkommt, ist die damals noch nicht studierte Informatikern durch Süddeutschland als Straßenmusikerin mit der Gitarre in der Hand getourt. Die Nähe zu den Menschen, die Mühen der Ebene kennt sie wie der linke und DDR-nahe Staatslyriker und Dramatiker Berthold Brecht gut. Esken hat in Kneipen gekellnert und Pakete ausgeliefert, sie war Chauffeurin und Schreibkraft an der Uni Stuttgart. Dieses von ganz unten Kommen, hatte die SPD-Funktionäre letztendlich an ihr fasziniert.

Mit 29 Jahren trat 60-jährige Esken in die SPD ein – und ihr Mann war es, der sie 2008 aufforderte mehr politisch aktiv zu werden: „Jetzt bist du dran“. So war die couragierte Politikerin, die die Schattenseiten ungelernter Arbeit kennengelernt und als konstruktiven Reiz für eine gerechtere Politik sich auf die Fahnen seither schrieb von 2008 bis 2015 Vorsitzende des Ortsvereins Bad Liebenzell und von 2010 bis 2020 Vorsitzende des Kreisverbands Calw. Politisch richtig startete sie dann durch ihre Wahl als Beisitzerin in den Vorstand der SPD Baden-Württemberg durch. Seit 2013 behört sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestags dem Ausschuss für Bildung und Forschung an, ist Mitglied im Innenausschuss und im Ausschuss Digitale Agenda. In all den Jahren hatte sie sich als engagierte Digitalpolitikerin einen Namen gemacht.

Doch bei dem steilen politischen Aufstieg hatte sie die Menschen nicht vergessen, und anders als das Establishment gibt sie sich nicht mit Kompromissformeln und abgebügelten Politikerstatements zufrieden. Sie will Menschen vielmehr motivieren und befähigen, ihr Leben frei zu gestalten. „Ich möchte sie für die Nöte von Schwächeren sensibilisieren und sie ermutigen, solidarisch zu sein und sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren“, schreibt sie auf Webseite.

Eine steile Karriere, aber doch mit Hindernissen

Karrieretechnisch lief es nicht immer rund. Mehrmals gelang ihr der Einzug in den Bundestag nicht. Auf dem Landesparteitag im November 2018 verpasste sie erneut die Wahl in den Landesvorstand 2019. Und auch bei der Wahl zum SPD-Vorsitz 2019 war sie zuerst dem Duo Klara Geywitz und Olaf Scholz haushoch unterlegen. Erst bei der Stichwahl im November 2019 erhielten Esken und Walter-Borjans 53,1 Prozent der Stimmen und schoben Geywitz und Scholz vorerst aus dem Zentrum der Macht. Der Bundesparteitag am 6. Dezember 2019 brachte dann den politischen Durchbruch: 75,9 Prozent stimmten für Esken, 89,2 Prozent für Walter-Borjans. So beeindruckend die fast 76 Prozent waren, die gebürtige Stuttgarterin, die in Renningen aufwuchs, kassierte damit das zweitschlechteste Ergebnis das je bei einer SPD-Vorsitzenden-Wahl ohne Gegenkandidaten eingefahren wurde. Toppen konnte das nur Ex-Außenminister Sigmar Gabriel 2015 für den damals nur 74,3 Prozent der Delegierten stimmen

Als Duo mit Walter-Borjans kam der Durchbruch. Seit 2019 bildet sie die Doppelspitze der SPD. Esken, die keinen klassischen Politiker*innen-Werdegang hingelegt hatte, ist stolz auf das Zukunftsprogramm, stolz, das die totgeglaubte Arbeiter- und Volkspartei 2021 erneut an die Macht strebt und mit ihr für die Idee einer gerechteren Zukunft „in einer Gesellschaft des Respekts und einem starken Europa“ werben kann.

Für diese Politik steht der Name Esken

Politisch verortet sie sich selbst zum linken Flügel der SPD-Bundestagsfraktion. Die „Agenda 2010“ von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder begreift sie als Sündenfall. Kritik äußert sie immer wieder an der Hinterzimmer-Politik als Kaderschmiede. Und als das Bundesverfassungsgericht Kürzungen des Arbeitslosengeldes II. für teilweise verfassungswidrig erklärte, hatte die Informatikerin 2019 die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen gefordert. Der Mindestlohn von 12 Euro, das Abrücken von der Schuldenbremse, eine Vermögensabgabe für Besserverdienende und die Forderung nach einem Klimaschutzpaket, das diesen Namen auch verdient, für diese Ideen wird sie sich künftig weiter messen lassen. Dass sie sich nie in der Großen Koalition wohl gefühlt hat, ist biografisch begründet. Esken plädiert für eine Entkriminalisierung von Cannabis, fordert ein rigides Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Und betont: „Oft sei die „Bevölkerung weiter als die Politik“. Und radikal fordert sie, dass man sich mit dem Willen der Mehrheit „auch gegen den Protest von Lobbygruppen“ durchsetzen kann.

Mögliche Bildungsministerin unter Olaf Scholz

Scholz, der als möglicher neuer Bundeskanzler auch mit Sicherheit SPD-Vorsitzender werden will, hält Esken geeignet für ein Ministeramt. Dem „Spiegel“ sagte er: „In der SPD sind viele ministrabel, die Führungsaufgaben in der Fraktion oder der Partei wahrnehmen“ – dazu gehörten „die Vorsitzenden selbstverständlich auch“. Damit ist für den Wähler klar, wer Scholz wählt, bekommt auch die linksambitionierte Esken. Während Scholz in einer One-Mann-Show derzeit durch Deutschland tourt, ist seine Taktik, jetzt Esken mit an Bord zu nehmen Kalkül. Ihrerseits spricht die Parteichefin davon, dass „Olaf der richtige Mann fürs Kanzleramt ist“ – und lässt ausnahmsweise das Gendern und sämtliche Spitzen beiseite. Esken weiß wie die Parteilinken um Kühnert, dass die SPD nur mit einem bürgerlich-mittig verorteten Politiker wie Scholz eine Chance auf das Kanzleramt hat. Dass Scholz aber dadurch links „eingerahmt“ ist und ein Wahlprogramm fahren muss, das in entscheidenden Punkten Jusos und Linken gefällt, mag dem eher konservativ-bürgerlichen Scholz nicht schmecken. Doch aus innerparteilichen Grünen und um der Harmonie Willen, muss er den linken Flügel beschwichtigen und sanft moderieren.

Der Parteivorsitzenden die Fähigkeit für ein Ministeramt zuzusprechen, ist kein großes Opfer für den Taktiker und ehemaligen Regierenden Bürgermeister der Hansestadt Hamburg. Denn ganz so links ist Esken im derzeitigen Wahlkampf nicht mehr. Ihre rote Socken Mentalität hat sie schon ein wenig abgelegt. Aber was sie will, ist klar: Keine Große Koalition mehr, auch nicht unbedingt eine Ampel, sondern ein Bündnis aus SPD, Grünen, und Linken. Und sie gibt gleichzeitig Entwarnung. Keiner „muss Angst vor Rot-Rot-Grün oder Rot-Grün-Rot haben.“ Und wenn die SPD tatsächlich den nächsten Kanzler stellt, würde sie gern Ministerin für Bildung oder Soziales werden. Und dies womöglich sogar mit Gitarre. Vielleicht versöhnt ihre Musik viele ihrer derzeitigen Kritiker.

Interview mit Hermann Binkert: INSA-Chef Binkert: Ich war mir sicher, dass Olaf Scholz vorne liegen wird

Stefan Groß-Lobkowicz20.09.2021Medien, Politik

Insa-Chef Hermann Binkert hatte auf der Executive-Night des Ludwig-Erhard-Gipfels am 22. Juli 2021 bereits den Sieg von Olaf Scholz vorausgesagt. „The European“ traf den Experten zum Gespräch.

Sehr geehrter Herr Binkert, warum waren Sie sich schon im Juli so sicher, dass Olaf Scholz Kanzler wird?

Ich war mir sicher, dass Olaf Scholz im Personenranking deutlich vor Annalena Baerbock und Armin Laschet liegt. Und ich war mir sicher, dass die SPD ein großes zusätzliches Potential hat. Die SPD hatte bei uns in der Potentialanalyse, wir nennen sie INSA-Analysis Potentiale, auch in den letzten Jahren, in denen sie bei der Sonntagsfrage schlecht abschnitt, immer das größte zusätzliche Potential aller im Bundestag vertretenen Parteien. Die SPD schnitt aber auch bei unserer „negativen Sonntagsfrage“ immer am besten ab, hatte die wenigsten Wähler, die sie grundsätzlich nicht wählen wollten. Die Marke SPD war also intakt.

Wie sicher ist denn ihre Prognose, oder wird es vielleicht doch am Ende Armin Laschet oder Annalena Baerbock?

Ob Olaf Scholz Kanzler wird, das hängt letztlich nicht nur an seinen persönlichen Popularitätswerten und der Stärke seiner Partei, sondern daran, ob er Koalitionspartner findet, die ihn zum Kanzler wählen. Ich schließe aus, dass Bündnis90/Die Grünen stärkste oder zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag werden. Annalena Baerbock wird wahrscheinlich Vizekanzlerin, aber sie wird nicht Kanzlerin. Ob Olaf Scholz oder Armin Laschet Kanzler wird, das hängt davon ab, wer von den beiden ein Bündnis schmieden kann, dass auf eine parlamentarische Mehrheit kommt. Olaf Scholz wird mehr Optionen haben, eine solche Regierung zu bilden.

Oft liegen Umfragen falsch? Woran liegt das?

Umfragen spiegeln die politische Stimmung zum Zeitpunkt der Erhebung. Sobald die Umfrage veröffentlicht wird, kann sie diese politische Stimmung wieder beeinflussen. Viele Wähler stimmen strategisch ab. Und dann gibt es auch noch den Mitläufer- und den Mitleidseffekt. Diese lassen sich nicht vorhersagen. Meinungsforscher sind keine Propheten.

Woran liegt es Ihrer Meinung, dass Olaf Scholz und die SPD so aufgeholt und die Grünen so viele Prozentpunkte verloren haben? Hätte die Union unter CSU-Chef Markus Söder mehr Chancen gehabt?

Die SPD hat sich mit Olaf Scholz als stärkste Kraft im Lager links der Mitte durchgesetzt. Sie hatte auch immer mehr Potential als die Grünen. Ohne die Patzer von Annalena Baerbock und Armin Laschet hätte sich der Trend wahrscheinlich nicht so schnell und so deutlich zu Gunsten von Olaf Scholz entwickelt. Und ja, demoskopisch sprach bereits im April 2021 alles für Markus Söder. Doch wie schnell Stimmungen wechseln können, das haben wir alle erlebt. In diesem Wahljahr konnten sich sowohl Frau Baerbock als auch die Herren Laschet und Scholz schon einmal auf der Siegerstraße fühlen. Wer zuletzt lacht …

Wie blicken die Bundesbürger in die Zukunft, wenn man 1. die Deutschlandkoalition, 2. die Ampel, 3. Schwarz-grün oder eine rot-rot-grüne Koalition in Betracht zieht!

Eine echte Koalitionsfavoriten haben die von uns Befragten nicht. Am populärsten ist noch ein rot-grünes Bündnis, das aber ebenso wie Schwarz-Grün eine parlamentarische Mehrheit verfehlen wird. Am realistischen erscheinen mir eine Ampel-Koalition, Rot-Grün-Rot oder eine Jamaika-Koalition.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Michael Kellner: Diese zwei Fehler machte er zuletzt

Stefan Groß-Lobkowicz18.09.2021Medien, Politik

Die Grünen haben sich nach anfänglichen Höhenflügen im Wahlkampf verbrannt. Von den guten Umfragewerten ist zwei Wochen vor der Bundestagswahl nicht mehr viel geblieben. Dennoch hat die Partei in den vergangenen Jahren in der Wählergunst deutlich gewonnen. Ein Mann, der eher im Hintergrund die Fäden zieht, ist maßgeblich für den grünen Erfolg verantwortlich – Michael Kellner. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die neuen Grünen sind anders als die alten Revoluzzer um Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Jutta Ditfurth, die als Enfant terribles für Schrecken im bürgerlichen Deutschland der Nachkriegszeit sorgten. Die neue Generation mag es bescheidener, verpackt ihre Wahlprogramme in geschickt inszenierte Erzählungen, setzt auf Neuanfang und Gewissensappelle. Und hinter jeder Kampagne steckt nicht mehr die Wildheit und Unbefangenheit der Gründungsjahre, die Happenings, Straßenkämpfe und der pure Protest, sondern Annalena Baerbock und Robert Habeck können auf professionelle Hilfe im Wahlkampf zurückgreifen. Bei ihren hegemonialen Bestrebungen an die Spitze des Landes zu treten, setzt die Partei immer mehr auf Kalkül und Taktik, auf eine komplexe Machtmaschine von Aufpassern und Strippenziehern.

Der unprätentiöse Mann aus Gera

Einer der neuen Generation ist der gebürtige Geraer Michael Kellner, der Kampagnenorganisator und Geschäftsführer. „Habecks Mastermind“ nennen sie ihn. Das Herz des 43-Jährigen schlägt einerseits im urbanen Schicki-Micki- und Insiderviertel Prenzlauer Berg als auch der beschaulichen und naturbelassenen Uckermark. Kellner, der nach außen hin den bodenständigen Macher gibt, den nahbaren Erklärbär, agiert innenparteilich knallhart auf der Klaviatur der Macht. Er hat nicht nur die Idee der hauseigenen PR-Agentur in der Grünenzentrale durchgesetzt, sondern ohne die Arkusaugen des studierten Politikwissenschaftlers verlässt kein Plakat und Slogan die Schaltzentrale. Dass Kellner, Sohn eines Schuldirektors und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, im Wahljahr 2021 deutlich höher pokern und die Wahlkampfmaschinerie auf Hochtour laufen lassen kann, verdankt sich nicht nur hohen Parteispenden und der deutlich angestiegenen Zahl an Mitgliedern, sondern einem Wahlkampfetat, der in der Geschichte der Grünen fast rekordverdächtig ist. Waren es 2017 noch sechs Millionen Euro, die Kellner in die Wahlkampf-Arena werfen mochte, lässt sich mit den zehn Millionen Euro 2021 solide wirtschaften und ein Wahlkampffeuer geradezu entfachen.

Kellner setzt die Messlatte hoch an

Ob Europa oder Landtagswahl – Kellner kann einen Sieg nach dem anderen für die Partei einfahren. Der digitale Grüne, der die strategische Bedeutung des Internet für die politische Kommunikation und die Wirkmechanismen der sozialen Netzwerke als neuer Plattformen des Wahlkampfes geschickt bespielt, ist mit seinen zwei Metern ein Riese. Mit seiner Partei will er noch höher und legt die Messlatte weit oben an. Doch schon jetzt liegt die Erfolgsquote des Partei-Modernisierers bei 100 Prozent. Dem Mann, der drei Jobs als Entwickler, Controller und Vertriebler in Personalunion auf sich vereinigt, ist es zu verdanken, dass die Grünen bei den Landtagswahlen in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg Rekordergebnisse einfuhren. Kellner, der gern im Hintergrund die Strippen zieht, baut die Erfolgsbühne, auf der das grüne Chefduo Robert Habeck und Annalena Baerbock steht. Der ehemalige Büroleiter von Claudia Roth hat mit seiner Taktik nicht nur bei der SPD indirekt für einen beispiellosen Absturz gesorgt, sondern seine eigene Partei nach dem Abgang des Übervaters Joschka Fischer 2005 aus der inhaltlichen Sklerose befreit. Aus einer Spießerpartei formte er kurzerhand eine neue Avantgarde.

Der Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, der während des Politikstudiums in Potsdam zur Partei kam und dort zum linken Parteiflügel zählt, spricht im Superwahljahr schon von einer „Zeitenwende in der deutschen Politiklandschaft.“ Und auch dass man im Wahljahr nicht an den Grünen vorbeikommt, daran lässt er keinen Zweifel. „Deutschland erlebt nicht nur erstmals einen Wahlkampf ohne amtierende Kanzler*in, sondern auch mit den Grünen als führende progressive Kraft eine neue Form der Auseinandersetzung fernab der alten Denkmuster von Volksparteien und Lagerdenken.“ Und gerade deshalb zielt das Programm der Grünen auf eine breite Zielgruppe. Die Parole heißt nun Einigkeit: „Wir sind dafür vorbereitet, wir ziehen alle an einem Strang.“

Schaltzentrale der Macht – Die Agentur „Neues Tor 1“

Um den Dampf im politischen Kessel richtig anzuheizen, war es wiederum Kellner, der zur strategischen Unterstützung der Parteigranden die neue Agentur „Neues Tor 1“ aus der Taufe hob. Der Agenturname steht nicht nur programmatisch für die Adresse der Parteizentrale in Berlin-Mitte, sondern fungiert auch als Kampfansage an die Union um Platz eins im Rennen um das Bundeskanzleramt. „Vom zweiten Platz aus kämpft man klar um das entscheidende Tor zum Sieg“, so Kellner. Mit der Projektagentur, die allein für die Kampagnenaktivitäten für den Bundestagswahlkampf 2021 gegründet wurde, steht Kellner ein kampferprobtes achtköpfige Kernteam zu Seite, in dem erfahrene Campaigner und Beraterinnen sowie Digitalexperten und Kreative aus den verschiedensten Agentur- und Organisationshintergründen arbeiten. Mit im Team ist Kurt Georg Dieckert, Chef der Berliner Agentur Dieckertschmidt, der bereits die Europawahlkampfkampagne erfolgreich verantwortete. Mit Matthias Riegel ist einer der strategisch einflussreichsten PR-Berater mit an Bord, der Winfried Kretschmann zum wiederholten Sieg in Baden-Württemberg verholfen hatte. Der Bundeswahlkampf 2017 war ohne Riegel nicht denkbar. Unter dem Label „Ziemlich beste Antworten“ rekrutierten die Grünen bereits damals ein Team aus der Partei nahestehenden Werbefachleuten. Nun ist es 2021 wieder an Riegel, den Bundesvorstand der Grünen strategisch zu beraten und zugleich die „dramaturgische Leitung“ im Wahlkampf zu übernehmen. Mit Theresa Reis (zuletzt beim WWF), die sich im Berliner Wahlkampf 2020 profilieren konnte und Berit Leune, einer erfahrenden Marketing-Expertin, die sich ihre Meriten in den Kommunikationsabteilungen von Coca-Cola und BMW verdiente, ist Kellner grüne Zukunftsschmiede bestens aufgestellt.

Bei Baerbock und bei der Neuaufstellung des Landesverbandes an der Saar machte er erste Fehler

Als Baerbock dann Mitte 2021 durch ihre Schummeleien bei Vita, Studium und Buchpublikation einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit verlor und am Politikhimmel buchstäblich verglühte, war es Kellner, der die fragwürdigen Aktionen der Grünen-Chefin zuerst verharmloste: „Bagatellen werden aufgebauscht,“ um vom Klimawandel abzulenken, betonte er noch Anfang Juli. „Das lassen wir uns nicht gefallen,“ sagte der Strippenzieher. Er sprach von einer gezielten Verleumdungskation. Der Plagiatsvorwurf sei haltlos, „Rufmord“ das Ganze. „Manöverkritik machen wir intern“, hieß es. Dem allzu kritischen Umgang mit Baerbock wollte er gar ein Stoppschild vorsetzen und der von der Partei eingesetzte Star-Medienanwalt Christian Schertz sollte es richten. Doch die Beweislast gegen die Baerbock-Täuschungen war zu schwer, hier konnte selbst Kellner nichts mehr beschönigen. Eine Woche später kam dann prompt die Kehrtwende: Der grüne Macher gab Mängel im bisherigen Wahlkampf zu. „Es wurden Fehler gemacht, das ist offensichtlich.“ Auch am Debakel der Saar-Grünen, die nach einem bizarren Wahlkampf vom Bundeswahlausschusses nicht für die Bundestagswahl zugelassen wurden, war Kellner nicht ganz unbeteiligt, der unbedingt eine Quotenfrau mit durchsetzen wollte. Er hatte sich gegen den gewählten Grünen-Landeschef Hubert Ulrich und für die neue Spitzenkandidatin Jeanne Dillschneider ausgesprochen. Ulrich sah die Schuld für das Debakel beim Bundesvorstand und dem Bundesschiedsgericht der Partei. „Sie haben die Entscheidung […] zu verantworten“ und eine „neue Liste erzwungen“, die durch die Entscheidung des Bundeswahlausschusses „in der Luft zerrissen“ wurde. Die Grünen im Saarland hatten Ulrich auf Listenplatz eins gewählt – obwohl der eigentlich einer Frau vorbehalten war. Der Imageschaden des Landesverbandes trifft jetzt letztendlich auch die Bundespartei, die nun auf die wichtigen Stimmen aus dem Saarland verzichten muss.

Fazit: Michael Kellner bleibt auf Konfrontationskurs – und er ist einer mit dem die Parteienlandschaft in Deutschland weiter rechnen muss. Der größte Fehler wäre es, den Wahlkampfmanager zu unterschätzen. Wohin er seine Partei in den letzten Jahren geführt hat, dokumentieren anschaulich die Umfragewerte der Grünen. Immerhin scheint eine rot-grüne oder gar rot-rot-grüne Koalition acht Tage vor der Wahl denkbar. Baerbock wird jetzt gar als Außenministerin gehandelt – verdanken tut sie dies auch Kellner.

Kunst-Weltstar Gerhard Richter spendet für Obdachlose

Stefan Groß-Lobkowicz17.09.2021Medien, Wirtschaft

Gerard Richter ist einer der teuersten Maler dieser Welt. Auf Auktionen fährt er mit seinen Kunstwerken Rekordsummen ein. Doch immer wieder spendet er sein Geld für einen guten Zweck. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

1932 in Dresden geboren, ist Gerhard Richter buchstäblich ein Marathonläufer. Der fast 90-jährige Superstar hat alles erreicht, in den größten Museen der Welt hängen seine Werke, Sammler wurden durch ihn reich. Vielschichtig ist er sein ganzes Leben – bis ins hohe Altern hinein – geblieben, dem Geist des Entdeckens, dem Zauber der Verwandlung auf der Spur. Kaum einer kann auf ein derartig vielschichtiges Lebenswerk zurückblicken. Und Richter war es, der der nach der Nachkriegszeit gebeutelten Malerei ein neues Gesicht schenkte. Anders als sein Lehrer Joseph Beuys ging es Richter nicht vordergründig allein um Happenings, um eine Kunst in Aktion, sondern um die Suche nach neuen Kunstmaximen, um eine provokante Bildsprache, die die Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit einzufangen vermag.

So wurde Richter zum Grenzgänger zwischen den Welten. Der einstige Stipendiat der Dresdner Hochschule floh zuerst aus den Kerkerwänden des ostdeutschen Realismus, um von dort sich die ganze Welt buchstäblich zu erobern. Richter, der „Picasso des 21. Jahrhunderts“, galt als Freiheitsenthusiast, als einer, der sich weder die kritische Stimme gegen die Funktionäre verbieten ließ noch als einer, der sich mit der Enge der DDR-Kunstdogmatik zufriedengeben wollte. Nach der Flucht in den Westen 1961 wurde er in Düsseldorf als Professor zum gefeierten Star. Richter hatte im ruhigen Fluss seiner Arbeit immer wieder mit Nachdruck vorgeführt, was Malerei noch zu leisten vermag und dass sie sich gegen das Diktum der nachgesagten Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch ein Bild zu malen, kraftvoll entgegengestellte. Richter malte gegen das Vergessen, flirtete mit Fluxus, Fotorealismus und Pop Art und Readymade – doch einordnen in eine Richtung ließ er sich nie. Seit Beginn der 60er-Jahre hatte er seine eigene Form gefunden, die Idee, Fotografien abzumalen, die Ränder der Figuren zu verwischen und damit Unschärfe zu erzeugen. Richter ist ein Unangepasster in der Kunst geblieben, einem, dem das Experimentieren alles ist, der sich weder in das Korsett des sozialistischen noch des kapitalistischen Realismus pressen ließ.

Wenn es um Ehre, Weltruhm und Ewigkeit geht, ist Gerhard Richter schon längst im Götterhimmel der Kunst angelangt. Dort hat der Ewig-Schaffende bereits jetzt einen festen Platz, was gar nicht so einfach für einen Atheisten „mit Hang zum Katholizismus“ ist. Doch „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches“ könne er nicht leben. Es ist das Bekenntnis eines religiös nicht ganz unmusikalischen Malers, der faustisch mit den Energien des Kreativen ringt, mit dem produktiven Dämon, der ins Unendliche treibt und Werke schafft, die ihresgleichen suchen.

Starallüren hat sich Richter stets verweigert, er ist kein Markus Lüpertz. Richter ist ein unabhängiger Künstlertyp geblieben. Das Malergenie liebt es eher unprätentiös, er ist denkbar bescheiden, der Hype um seine Person ihm unangenehm. Lange schon hatte er sich von der Oberfläche der Eitelkeiten verabschiedet und in das Villenviertel Hahnwald in seiner Wahlheimat Köln zurückgezogen. Den größten Teil der heutigen Auktionskunst hält er allerdings für überteuert. Was fehle, sei der Maßstab für die Beurteilung des Wertes von Kunstwerken. „Wenn Sie die Auktionskataloge sehen, da wird ja 70 Prozent Müll für teures Geld verkauft.“ „Die Kriterienlosigkeit, die ist schon das Härteste dabei.“ Zwar finde er es angenehm, er, der sich nie als Marketingstratege verkauft hat, dass für seine Werke Millionensummen bezahlt werden, es zeigt immerhin, dass er geschätzt werde. Aber zugleich ist es für ihn auch „unerträglich und pervers, dass es solche Unsummen sind“. Und auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass seine Kunst verstanden wird, antwortet er: „Manchmal ja. Sonst hätte ich ja nicht so viel Erfolg. Also irgendwas wird ja schon ab und zu verstanden.“ Allein sein „Abstraktes Bild 509“ erbrachte 2015 rund 39 Millionen Euro.

Mit 88 Jahren legte der Mann, dessen Maxime es war, dass die „Kunst die höchste Form der Hoffnung“ sei, der laut „Manager Magazin“ zu den 500 reichsten Deutschen zählt und als der wichtigste Künstler der Gegenwart gehandelt wird, den Pinsel aus der Hand. Drei Kirchenfenster im Kloster Tholey gelten als sein letztes malerisches Vermächtnis. „Irgendwann ist eben Ende.“ „Das ist nicht so schlimm. Und alt genug bin ich jetzt,“ erklärte er im September 2020 und sein Abschied von der Malerei glich einem Paukenschlag.

Der Weltstar hat die große Bühne der Kunst verlassen, doch sein Herz ist weiter für die Armen geöffnet. Sechs Millionen Besucher begeistern sich jedes Jahr für sein Farben-Fenster im Kölner Dom aus dem Jahr 2007. Und den Ärmsten von ihnen, gibt er nun einen kleinen Teil seines Erfolges zurück. Der Maler mit Herz, der Kunst-Weltstar, ist großherzig, einer, der seine prallen Taschen immer wieder für Bedürftige öffnet. In den vergangenen zehn Jahren hat er fast eine Million Euro gespendet und dafür einige seiner Werke zur Verfügung gestellt.

Auch der Verein „Kunst hilft Geben für Arme und Wohnungslose“ (Cultopia Stiftung) hat davon profitiert. „Wir haben allein durch den Verkauf und die Versteigerung seiner Werke über eine halbe Million Euro eingenommen“, so Vorstand Dirk Kästel. Und er fügt hinzu: „Damit ist Richter maßgeblich an unserem Neubau beteiligt. Wir errichten in Mülheim für 8,7 Millionen Euro drei Häuser für Obdachlose, Flüchtlinge und Bedürftige.“

In der Covid-Pandemie kümmerte sich der Verein speziell um Corona-geschädigte Bedürftige. Inmitten der weltweit größten Epidemie stiftete und signierte Richter 30 seiner berühmten „Kerzen“-Bilder. Alle wurden sie verkauft und brachten den stolzen Erlös von 320.000 Euro für einen guten Zweck ein.

Richter, der Ewig-Schaffende, ist damit nicht nur ein Visionär, was seine Kunstwerke betrifft, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der bei allem Erfolg diejenigen nicht vergisst, denen die Welt nicht das Glück der Erde in Form eines unfassbaren Vermögens geschenkt hat. Richter hat es sich verdient – mit Kreativität und Freiheitswillen. Doch der gefeierte Weltstar weiß, dass Ruhm allein nicht glücklich macht. „Geben ist seliger denn nehmen“, hieß es schon in der „Apostelgeschichte“ – und der Maler mit Herz gibt, damit andere davon profitieren können.

Merkels China-Botschafter ist tot: Hecker war einst in der SPD

Stefan Groß-Lobkowicz7.09.2021Medien, Politik

Die Bundeskanzlerin hat nicht viele Vertraute. Es ist ein auserlesener Kreis den sich Angela Merkel (CDU) in den letzten sechzehn Jahren ihrer Amtszeit aufgebaut hat. Jan Hecker, Merkels neuer Botschafter in Peking, jedenfalls gehörte mit dazu. Nun ist er überraschend mit 54 Jahren gestorben. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die Trauer im Kanzleramt ist groß. Merkels früherer außenpolitischer Berater Jan Hecker hatte erst vor zwei Wochen seine China-Mission als Botschafter in Peking angetreten. Der Mann, der für Kontinuität im schwierigen Verhältnis zu China sorgen sollte, ist tot. Zum überraschenden Tod erklärte die Bundeskanzlerin: „Der Tod Jan Heckers erschüttert mich zutiefst“. […] „Ich trauere um einen hochgeschätzten langjährigen Berater von tiefer Menschlichkeit und herausragender Fachkenntnis. Ich denke voller Dankbarkeit an unsere Zusammenarbeit und bin froh, mit ihm über Jahre so eng verbunden gewesen zu sein,“

Schaut man auf den Stab, der die Kanzlerin umgibt, so sind es zwei Frauen, die für die Politikerin unverzichtbar sind. Beate Baumann und Eva Christiansen. Baumann ist seit 1995 Büroleiterin der Physikerin aus Hamburg, Christiansen seit 1998 an Merkels Seite. Während Baumann quasi Merkels Schatten ist, der nie in die Öffentlichkeit tritt, agiert Christiansen als Chefinterpretin Merkels gegenüber Journalisten. Neben Ehemann Joachim Sauer, Volker Kauder, Peter Altmaier, Steffen Seibert, Julia Klöckner, Helge Braun, Annegret Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen war der studierte Politik- und Rechtswissenschaftler Jan Hecker auch Teil des „inner circles“ der deutschen Regierungschefin.

Nach dem Studium in Grenoble und Göttingen machte der später an der Viadrina habilitierte außerplanmäßige Professor für Öffentliches und Europarecht schnell Karriere. Europa und das Verfassungsproblem standen auf Heckers wissenschaftlicher Agenda. 1999 bis 2011 war er im Bundesinnenministerium abgestellt, von 2011 bis 2015 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Dort oblagen ihm wichtige bildungspolitische, personalrechtliche Ressorts bis hin zum Waffenrecht, Polizei- und Ordnungsrecht.

Heckers große Stunde kam nach der Flüchtlingskrise 2015. Während die Kanzlerin die Tore für Millionen von Flüchtlingen öffnete, wechselte der 1967 in Kiel geborene Jurist 2017 auf den damals neu geschaffenen Posten des Leiters der Abteilung Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik und wurde somit Chef des Koordinierungsstabes Flüchtlingspolitik im Bundeskanzleramt. Damit rückte Hecker auch in den Kreis derer, die Merkel damals gegebenes Versprechen, „Wir schaffen das“ in die Tat umsetzen musste. Während die Kanzlerin ob ihrer Politik der offenen Türen viel kritisiert wurde, war es neben Peter Altmaier, dem früheren Kanzleramtschef und Armin Laschet eben auch Hecker, der fest an Merkels Seite stand.  In dieser Funktion war Hecker, der von 1995 bis 2002 Mitglied der SPD war, so etwas wie Merkels erster und wichtigster außenpolitischer Berater. Wie sehr ihn die Kanzlerin schätze, zeigt, dass sie ihn bei Auslandsreisen immer als versierten Berater an ihrer Seite hatte. Noch im Juni begleitete er die Kanzlerin beim G7-Gipfel zu einem Acht-Augen-Gespräch mit US-Präsident Joe Biden. Der Professor, der auf keine karrieretypische Diplomatenlaufbahn verweisen konnte, hatte im Bundeskanzleramt den Ruf eines ausgezeichneten Intellektuellen: „Sein Pflichtbewusstsein, seine menschliche und berufliche Kompetenz und tiefe Bildung waren herausragend“, schrieb sein früherer Vorgesetzter und damalige Kanzleramtschef Altmaier.

Mit der Besetzung des Spitzendiplomaten im Amt des Botschafters in China wollte Merkel am Ende ihrer Kanzlerschaft nicht nur einen Vertrauten in eine Schlüsselposition bringen, sondern auch ein Zeichen setzen, dass die Bundesrepublik in dem derzeit schwierigen Verhältnis zur aufstrebenden Großmacht China für Kontinuität sorgen will. Und genau für diesen gemäßigten China-Kurs stand Hecker. Das Außenministeriums der Volksrepublik hatte seine Ernennung ausdrücklich begrüßt und auf seine Nähe zur Kanzlerin verwiesen, die in den zunehmenden Spannungen Europas mit China einen eher zurückhaltenden Kurs vertritt.

Erst am 24. August hatte Hecker seine reguläre Arbeit in Peking aufgenommen. Nach zwei Wochen im Amt ist er nun verstorben, Todesursache derzeit noch unbekannt. Damit verliert die Kanzlerin nicht nur einen ihrer Getreuen, sondern auch einen Strategen, der Peking nicht verärgern will. Seit Jahren fährt Merkel einen Schlingerkurs gegenüber dem Reich der Mitte. Ein bisschen Kritik an Menschenrechtsverletzungen geht schon – aber nur so viel, dass sich der wichtige Handelspartner nicht zu sehr provoziert fühlt. So mäandernd Merkel Politik gegenüber den Chinesen war, immer endete sie dort, wo sie die Kanzlerin hinhaben wollte. Die CDU-Politikerin hat sich nie Illusionen über die Herrschaft von Präsident Xi Jinping gemacht, sie riskierte aber nie die deutschen Wirtschaftsinteressen. Einer von US-Präsident Joe Biden ausgerufenen Allianz demokratischer Staaten, die sich gegen China richten solle, entzog sie sich.

„New York Times“ spottet: Scholz sei der größte Langweiler

Stefan Groß-Lobkowicz6.09.2021Medien, Politik

Olaf Scholz hat ein klares Bekenntnis zu den Grünen formuliert. Sollten die Wahlumfragen, wie in den vergangenen Jahren so oft, dieses Jahr nicht völlig verkehrt liegen, wird Scholz neuer Kanzler. CSU-Chef Söder will Scholz aber dann beerben. Amerika hingegen lacht über die deutschen Personalien. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die politische Landschaft in Berlin verschiebt sich. Nach 16 Jahren Angela Merkel und damit einer dauerpräsenten CDU will das Wahlvolk eine politische Trendwende. Und wie es derzeit in der politischen Berliner Republik aussieht, geht es in Richtung Rot-Grün.

 „New York Times“ spottet: Scholz sei der größte Langweiler

Olaf Scholz, der SPD-Kanzlerkandidat, den sich derzeit – auch aus Alternativlosigkeit – viele Bundesbürger – auch als politische Zäsur als Nachfolger von Angela Merkel wünschen, hatte ähnlich wie Martin Schulz vor einigen Jahren im Schnellzug alle Konkurrenten aus dem Weg gerollt. Doch während Schulz vom ICE zur Dampflock wurde, scheint Scholz genügend Puste zu haben, um über die Ziellinie zu marschieren. Selbst über die Häme der „New York Times“ kann er nur müde hinweglächeln, die ihn vor einigen Tagen als größten Langweiler verspottete. Aus Amerika hieß es jüngst, dass diese Bundestagswahl so gar keinen Hauch von Spannung versprühe. Und der frühere US-Botschafter John Kornblum legte in der „Times“ nach: Es sei „aufregender, einem Topf kochendem Wasser zuzuschauen.“

Scholz ginge am liebsten mit den Grünen zusammen   

Geht es nach dem ehemaligen Hamburger Regierungschef hätte er viele „Schnittmengen mit den Grünen“. Und so macht auch Scholz keinen Hehl daraus, dass er mit der Partei von Annalena Baerbock und Robert Habeck koalieren möchte. Während er den Grünen geradezu eine Liebeserklärung in der liebenswert nüchternen Art wie es einen Norddeutschen eigen ist, macht, sieht er hingegen viele unverhandelbare Punkte gegenüber der LINKEN. Mit den ihren Spitzenkandidaten Janine Wissler und Dietmar Bartsch will Scholz wohl nicht koalieren. Die jüngste Weigerung der Linken-Abgeordneten im Bundestag, dem Evakuierungseinsatz der Bundeswehr in Kabul zuzustimmen, bezeichnete er als „schlimm“. Die Mehrheit der Linken-Abgeordneten hatte sich enthalten, es gab aber auch einige Ja- und Nein-Stimmen. Seit einigen Jahren schon ist die SED-Nachfolgepartei in der Bredouille. Auch im Wahlkampfjahr schwächelt sie und der Einzug in den Bundestag höchst ungewiss. Die alten Kader und Funktionäre sind tot. Der Expansionskurs als Überlebensanker in den Westen ist gescheitert und die eher auf Opposition eingestellten Ostdeutschen wählen immer noch nicht das Establishment, sondern die politischen Aufmischer, die AfD. Während der kühle Scholz gegenüber Links reserviert bleibt, macht ihm die Linkspartei dagegen eine Liebesoffensive nach der anderen. Man hofft nicht nur in Thüringen auf eine Regierungskoalition mit SPD und Grünen. Ja, geht es nach Linken-Chefin Susanne Henning-Wellsow stehen die Chancen für ein entsprechendes Bündnis auf Bundesebene so gut wie noch nie. „Wann, wenn nicht jetzt?“ Wie die „Frankfurter Sonntagszeitung“ berichtet, sollen von Wissler und in einem Regierungsprogramm konkrete Eckdaten für mögliche Koalitionsverhandlungen bereits vorliegen. Auf der Agenda der Linken stehen Mindestlohn, Rentenerhöhung, die Abschaffung von Hartz-IV, eine Kindergrundsicherung sowie die Einführung eines bundesweiten Mietendeckels.

Ginge es nach Scholz wäre ihm eine rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl am liebsten. Wie er betont, hätten beide Parteien „unterschiedliche Zielsetzungen, aber wir haben viele Schnittmengen.“ Anders als mit Bartsch und Co könne er mit den Grünen ein klares Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und zur NATO bekennen, sagte Scholz. „Er muss sich bekennen zu einer starken, souveränen Europäischen Union und dazu, dass wir solide mit dem Geld umgehen, dass die Wirtschaft wachsen muss“, fügte er hinzu. Diese Anforderungen seien unverhandelbar. Mit dieser Haltung unterstützt Scholz die SPD-Chefin Saskia Esken. Sie hatte der Linken die Regierungsfähigkeit abgesprochen.

Laschet kommt nicht aus dem Tief und Söder wird nach Scholz Kanzler

Am Donnerstag hatte Armin Laschet sein Zukunftsteam vorgestellt. Die Personalien jedoch wollten nicht richtig überzeugen. Bis auf Friedrich Merz keine bekannten Gesichter. Auch war und ist nicht klar, was der CDU-Chef mit seinen vier Frauen und vier Männer-Team eigentlich bezweckte? Mögliche Minister? Wohl eher nicht, denn das würde die amtierenden, die überhaupt im Zukunftsteamteam keinen Platz haben, brüskieren. Wo bleibt der Unterstützer Jens Spahn, wo Annegret Kramp-Karrenbauer oder Peter Altmaier? Statt festen Größen – ein Heer von Unbekannten, denen von Seiten der Union auch nicht zugetraut wird, die großen Herausforderungen der Zukunft, Klimawandel, Energiewende, Migration und Digitalisierung irgendwie aus dem Boden zu stemmen. Auch ist die amtierende Ministerriege von Laschets Vision der Zukunft sicherlich eher brüskiert als wirklich erfreut. Er tritt damit jedem einzelnen so richtig vor den Kopf.

Während also Laschet weiter laviert, bereitet sich der Löwe aus Bayern, CSU-Chef Markus Söder auf den nächsten Wahlkampf bereits vor. Wird das Tor 2021 in das Netz von SPD und Grünen, möglicherweise zusammen mit der Linkspartei oder den Liberalen um Christian Lindner gehen, Söder will auf alle Fälle der nächste Kanzler nach Scholz werden.

Und Scholz kann derzeit auf einen komfortablen Vorsprung bauen. Laut aktuellen ARD-Deutschland-Trend kommt die SPD auf 25 Prozent und die Grünen auf 16 Prozent. Sollte es nicht für eine Regierung nur aus SPD und Grünen reichen, wird Scholz die Ampel-Koalition mit der FDP anstreben. Christian Lindner kommt damit in die komfortable Position, wieder einmal das Zünglein an der Waage zu sein. 2017 beendete der FDP-Chef die Verhandlungen zur Jamaika-Koalition mit den mittlerweile legendären Worten: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Das sich ein 2017 wiederholt ist unwahrscheinlich, gleichwohl Lindner mit Armin Laschet in Nordrhein-Westphalen eine stabile Regierungskoalition hält.

In Mali könnte die Bundeswehr wie in Afghanistan scheitern

Stefan Groß-Lobkowicz4.09.2021Medien, Politik

In Afghanistan ist die Weltgemeinschaft kläglich gescheitert. Trotz vieler Warnungen aus Kabul hatten die Regierungschefs zu spät reagiert und die mögliche Machtübernahme durch die Taliban unterschätzt. In Mali könnte der nächste militärisch-politische Gau drohen. Das afrikanische Land ist politisch ähnlich instabil und auch dort wollen Islamisten das Ruder an sich reißen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Eklatantes Politikversagen auf internationaler Ebene – das bleibt das beschämende Resümee des gescheiterten Afghanistaneinsatzes. Nach der Niederlage am Hindukusch stellt sich nunmehr denn je die Frage nach Sinn und Zweck von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Wie die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer betonte, müsse „man aus diesem Einsatz“ Lehren ziehen“. Und die CDU-Politikerin fügte hinzu: Man werde „die anderen Auslandseinsätze der Bundeswehr dahingegen prüfen, ob wir gut aufgestellt sind. Fakt ist jedenfalls: Wie einst in Afghanistan ist der Einsatz der Bundeswehr in Westafrika besonders gefährlich.

Ein weiteres Scheitern könnte drohen

Nach der internationalen Pleite am Hindukusch rückt nun der Mali-Einsatz der Bundeswehr zunehmend in den Fokus des öffentlichen Interesses. Die Befürchtungen sind groß, dass hier ein zweites Afghanistan droht. Und die Zeichen, dass die Truppe wieder Gefahr läuft, das Ruder aus der Hand zu geben, ist derzeit relativ hoch. Der unter US-Leitung geführte Afghanistaneinsatz kostete Deutschland, wie das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)“ bei einem „realistischen Szenario“ einschätze, zwischen 26 bis 47 Milliarden Euro. Auch der Einsatz in Mali verschlingt ebenfalls Unsummen an deutschem Steuergeld. Allein zwischen 2016 und 2020 gab Deutschland vor allem für Entwicklungsprojekte und zivile Stabilisierungsmaßnahmen in Westafrika und damit auch in Mail 3,2 Milliarden Euro aus.

Während Afghanistan kampflos den Taliban übergeben wurde, will die Bundeswehr ihr Engagement in Westafrika nun sogar verstärken. Eine wichtige Rolle bei der deutschen Unterstützung spielte der Wunsch, im Schulterschluss mit Paris die Handlungsfähigkeit der EU bei Kampfeinsätzen im Ausland zu stärken. Erst in diesem Jahr betonte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, SPD-Politiker Michael Roth, dass „in der Sahel-Region“ eine „gelebte europäische Teamarbeit“ auf der Agenda stehe.

Seit 2013 ist Deutschland an der UN-Friedensmission MINUSMA in Mali beteiligt. Der Einsatz gilt nach Afghanistan als derzeit gefährlichster der UN. Das belegen Anschläge der letzten Jahre. 2016 attackierten Extremisten das Hauptquartier der „European Union Training Mission Mali“ (EUTM). 2018 gab es einem Anschlag auf die Ferienanlage „Le Campement“. Im Februar 2019 wurde das Training Center an der malischen Offizierschule in Koulikoro von mehreren Angreifern mit Handfeuerwaffen und durch zwei mit Sprengsätzen präparierte Autos angegriffen. Erst Ende Juni 2021 gab es einen Anschlag, der auf das Konto der Al-Kaida nahen Gruppe „JNIM“ geht, die sich in einem Bekennervideo im Internet zum Attentat bekannte. Allein zwölf deutsche Soldaten wurden beim Attentat verletzt. Doch im Lande brodelt es seit Jahren, zudem bereitet das Klima bei Kampfeinsätzen große Probleme. Nicht nur unerträgliche Hitze und Staub bringt die Soldateninnen und Soldaten an die psychische und physische Belastungsgrenze, auch die Guerilla-Taktik der Islamisten bleibt eine beständige Bedrohung, die auch im Jahr 2021 dafür sorgt, dass die Lage weiter brenzlig ist – nicht zuletzt, weil die Islamisten permanent ihre Methoden und Angriffstaktiken ändern. Auch in Mali sieht sich die Bundeswehr mit einer „asymmetrischen“ Kriegsführung des islamistischen Gegners konfrontiert, genau wie bis zuletzt in Afghanistan. Dass die Lage in Westafrika permanent in Gefahr steht, aus dem Ruder zu laufen, mussten die Franzosen Anfang 2013 erleben. Nur durch einen massiven Kampfeinsatz der „Opération Serval“ gelang es, den Vormarsch islamistischer Terrorgruppen auf die Hauptstadt Bamako zu stoppen. Derzeit kämpft Frankreich mit 5100 Soldaten und seiner Anti-Terror-Einheit „Barkane“ gegen den transnationalen und islamistischen Terrorismus.

Lage wird immer bedrohlicher

Seit 2016 hat sich die Sicherheitslage in der westafrikanischen Sahel-Region drastisch verschlechtert. Dschihadisten und ethnische Konflikte destabilisierten nicht nur Mali, sondern auch die fünf Sahel-Staaten („G5“) Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad. Doch anders als in Afghanistan setzt man in Afrika nicht auf „Provincial Reconstruction Teams“, sondern schwört nunmehr auf die so genannte „Stabilisation Platform“. Es sind nicht die Ortkräfte, die eine zentrale Rolle spielen, sondern die Befriedung und der Aufbau der Region soll durch Entwicklungsexperten wie der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit organisiert werden. So sehr das Auswärtige Amt aber die neue Strategie schon als Erfolg feiert, so einfach gestaltet sich die Lage dennoch nicht.

Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beurteilt den Einsatz von Deutschen und Franzosen bereits jetzt schon als „erfolglos“. Wie Wolfram Lacher betonte, sei bereits die Koordination zwischen beiden Nationen im Krisengebiet schwierig. Während Paris nach den islamischen Anschlägen in Frankreich Härte im Kampf gegen den internationalen Terror zeigen will und eine Drohkulisse aufbaut, will das in den Bundeswahlkampf versunkene Berlin eher beweisen, dass es nun mehr internationale Verantwortung übernehmen kann. Dass die Mission heikel ist, unterschreibt auch Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel. Der Experte hatte den Afghanistaneinsatz als „hoffnungslosen Fall“ bezeichnet und gibt für Mali wenige Lichtblicke. „Wir sind dort, weil wir den Franzosen einen Gefallen tun wollen.“ Auch Christian Klatt, der das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in der malischen Hauptstadt Bamako leitet, betont: „Die Sicherheitslage im Land ist fragil. Zwei Drittel des Landes stehen nicht oder kaum unter staatlicher Kontrolle.“ Auch ein ehemaliger Kampfmittelbeseitiger der Bundeswehr, der in Afrika Sprengfallen entschärft hat, unterstreicht die sich immer weiter verschlechternde Sicherheitslage. „Die Aufständischen probieren sich aus, sie lernen dazu, verwenden mehr oder andere Sprengmittel.“ Je länger der Konflikt dauert, desto mehr lernen die dschihadistischen Aufständischen voneinander. Mittlerweile gebe es teilweise einen regelrechten Know-how-Transfer.

Ein Netzwerk aus Korruption beherrscht Afrika

Und tatsächlich regiert in Westafrika wie am Hindukusch ein Netzwerk aus Korruption, Kleptokratie, Tribalismus, Clans und Warlords. Und genau diese strategischen wie strukturellen Unübersichtlichkeit minimieren die Erfolgsaussichten. Die kritischen Stimmen stehen dabei diametral zu den Tönen, die aus dem Auswärtigen Amt kommen. Dort vertraut man auf die staatlichen Strukturen in Mali und betont, diese zu stärken, denn „Stabilisierung ist ein Kernbestandteil unserer Außenpolitik geworden“. Das sich Außenminister Heiko Maas (SPD) schon in Afghanistan blamierte und nicht zurücktrat, steht auf einem anderen Blatt.

Die Leitung der Bundeswehr macht erneut große Fehler

Erschwerend kommt für Bundeswehr mit einer derzeitigen Truppenstärke von knapp 1.000 Soldaten hinzu, dass sie immer öfter in das Visier von IS-nahen Dschihadistengruppen geraten, die ihr Waffenpotential und damit ihren hegemonialen Anspruch in den letzten Jahren durch improvisierte Bomben und Selbstmordanschläge wirkmächtig demonstrieren konnten. Aber anstatt Flankendeckung für die deutsche Truppe in Sachen militärischem Equipment zu geben, ist der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, vor einer zu schnellen Aufrüstung seiner Soldaten nicht überzeugt. Noch in einer Sitzung des Verteidigungsausschusses Mitte Juli 2021 hatte zwar Zorn davor gewarnt, dass die Islamisten in Afrika ähnlich wie die Taliban extrem gut militärisch ausgestattet sind, doch halte er es derzeit für vorschnell, auf bessere Panzer und bewaffnete Drohnen zu setzen. In Berlin fürchtet man, dass die Soldaten durch die Aufrüstung noch stärker zum Ziel von Angriffen werden könnten.

Mali als Vorposten für eine ungefilterte Migration

Am 7. Juli 2021 hat der deutsche Brigadegeneral Jochen Deuer die Führung über EUTM-Soldaten im westafrikanischen Land übernommen. Als multinationale Ausbildungsmission der Europäischen Union (EU) mit Hauptquartier der Hauptstadt Bamako versucht man die malischen Streitkräfte „Forces Armées et de Sécurité du Mali“ (FAMa) mit militärischer Grundlagenausbildung und Beratung dazu zu befähigen, gegen islamistische Milizen in der Region vorzugehen. Man setzt mit diesem Engagement darauf, „Instabilität und Gewalt einzudämmen und einem möglichen Staatszerfall der G5-Sahel-Staaten vorzubeugen“, so zumindest steht es in einem Dokument mit dem Namen „Strategische Ausrichtung des Sahel-Engagements“ der Bundesregierung. Nordafrika und die Sahel-Zone werden laut dem Papier als „geostrategisches Vorfeld“ Europas bezeichnet und damit als Vorposten für eine mögliche ungefilterte Migration. Wie wichtig der Bundesregierung, die von den Militär-Partnern eine enge Zusammenarbeit im Bereich Migration und Rückführung einfordert, diese Mission als Pufferzone für größere Migrationsbewegungen in Richtung Europa ist, bleibt in Anbetracht globaler Flüchtlingsströme im Zusammenhang von Wirtschafts- und Klimamigration allzu verständlich.

So sehr man der Mission in Mail Erfolg wünscht, die mangelnde Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten war bereits in Afghanistan ein Dauerthema. Galt am Hindukusch die Ausbildung einheimischer Truppen als Kern der „Exit“-Strategie – so ist diese gescheitert. Auch die von Deutschen in Mali ausgebildeten Militärs hatten sich 2021 erneut an die Macht geputscht und sowohl den Interimspräsident Bah N’Daw und Premierminister Moctar Ouane festgenommen. Er war bereits der zweite Putsch innerhalb eines Jahres. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der 38-jährige Oberst Assimi Goita Goita, der bereits Anführer der Putschisten im August 2020 war und jetzt neuer Interims-Staatschef ist. Allein diese Instabilität der von Deutschen mitausgebildeten Militärs stellt den gesamten Einsatz in Frage und zeigen dunkle Parallelen zum gescheiterten Afghanistaneinsatz.

Wie Christian Klatt von der Friedrich-Ebert-Stiftung betont, hätte ein „Abzug der internationalen Truppen“ auch in Afrika gravierende Folgen. „Die malische Armee hat unzureichende Ressourcen und Ausbildung, um für Stabilität zu sorgen.“ Sowohl die Bundesregierung, die noch amtierende Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer als auch Außenminister Heiko Maas müssen in Anbetracht der Instabilität nun überprüfen, „wie gut“ die Bundeswehr in Afrika tatsächlich aufgestellt ist. Irren sie sich bei der Einschätzung der Lage wie in Afghanistan erneut, droht ihnen nicht nur politisch ein Waterloo. Die Schlacht, die am 18. Juni 1815 rund 15 km südlich von Brüssel in der Nähe des Dorfes Waterloo stattfand, war bekanntlich die letzte Schlacht des französischen Kaisers Napoleon Bonaparte und beendete seinen Anspruch auf Weltherrschaft für immer.

Interview mit Hildegard Wortmann: Top-Managerin Wortmann: Die Zukunft bei Audi ist voll elektrisch

Stefan Groß-Lobkowicz3.09.2021Medien, Wirtschaft

„The European“ traf Hildegard Wortmann, Mitglied des Vorstands der Audi AG für Vertrieb und Marketing, zum Interview und sprach mit ihr über die großen Herausforderungen der mobilen Transformation.

Wie schaut Audi in die Zukunft?

Wir sind für die Transformation in der Automobilindustrie gut aufgestellt. Audi hat klar definiert, wie wir den Wandel vorantreiben. Bis 2025 bringen wir zwanzig voll elektrische Fahrzeuge auf den Markt. Aber wir investieren nicht nur in die Flotte, sondern weiter in die Ladeinfrastruktur und bauen das Netzwerk aus. Der „e-tron Charging Service“ hat heute schon 255.000 Ladepunkte in Europa. Das gilt ebenso für die USA und China. Wenn man die gesamte Wertschöpfungskette neben dem Auto betrachtet, bleiben die Audi-Werke sehr stark im Fokus, wenn es um Innovation und Nachhaltigkeit geht. Im Werk in Brüssel, wo der e-tron gebaut wird, sind wir seit 2018 CO-2-neutral. Bis 2025 werden alle unsere Werke CO2-neutral sein und bis 2050 wollen wir die gesamte Dekarbonisierung in unserem Unternehmen umgesetzt haben.

Dieser Plan ist in klaren Investitionen belegt. So werden wir siebzehn Milliarden in die Elektromobilität bis in das Jahr 2025 investieren. Dies zeigt unsere offensiv-definierte Haltung, dass für uns die Zukunft elektrisch ist. Und damit wird deutlich, dass die E-Mobilität der einzig wirksame Weg ist, um wirklich CO-2-Emmissionen zu senken. Diese Idee leben wir mittlerweile bei Audi.

Wir wollen Sie die Skeptiker der E-Mobilität überzeugen, ein Elektroauto zu kaufen?

Das gesamte ECO-System muss den Kunden überzeugen. Es reicht eben nicht, ein tolles Auto mit viel Reichweite und tollem Design zu produzieren, sondern es gehört das Gesamtsystem dazu. Und hier spielt die Ladeinfrastruktur eine entscheidende Rolle. Deswegen ist es wichtig, dass der Aufbau dieser Struktur, der derzeit noch einer Herkulesaufgabe gleichkommt, schnell in die Gänge kommt. Aber diese Aufgabe lässt sich nur bewältigen, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn sie zusammen an dieser Herausforderung gemeinsam arbeiten. Mit „Fit for 55“ gibt es sicherlich den nächsten Schub, der in eine vernünftige Richtung weist. Wir sind bereits auf einem guten Weg, aber es gibt noch viel zu tun.

 Was wünscht sich Audi, was die Politik besser machen könnte? 

Die Politik ist für uns wichtig, um stabile Rahmenbedingungen zu definieren. Wir können als Unternehmen mit Milliarden-Investitionen nur funktionieren und langfristig erfolgreich sein, wenn wir diese von der Politik gewährleistet bekommen. Je klarer man sich dabei zum Thema der E-Mobilität der Zukunft dort äußert, desto besser ist es für unser Unternehmen. Was wir uns wünschen, wäre natürlich mehr Unterstützung seitens der Politik mit Blick auf die nationale wie internationale Ladestruktur. Und generell: mehr Unterstützung für all die Themen, die wirklich dazu beitragen, den Klimawandel zu stoppen

 Thema Lieferketten. Was gibt es hier für Probleme? 

Wir sehen beim aktuellen Chipmangel, dass unterbrochene Lieferketten tatsächlich ein großes Problem sind. Dennoch: Wir haben gerade das erste Halbjahr 2021 abgeschlossen und dieses war das erfolgreichste in der der Geschichte von Audi. Insgesamt 982.000 Fahrzeuge konnten wir – trotz Coronapandemie – an unsere Kunden ausliefern. Es ist dennoch gerade– im Hinblick auf den Chipmangel – eine schwere Zeit, derzeit die Fahrzeuge rechtzeitig an den Kunden zu übergeben. Ohne die vielen Hände der Audi-Mitarbeiter wäre dies nicht möglich.

 Viele in der Autobranche haben Angst ihren Job zu verlieren, ist das eine berechtigte Angst? 

Wir haben bei Audi Beschäftigungssicherung bis 2029. Aber entscheidender ist die Frage wie wir in neue Zukunftsfelder investieren: Wie stellen wir uns auf die Transformation ein, wie stellen wir sicher, dass wir die richtigen Kompetenzen weiterbilden? Wir haben derzeit unglaublich viele Umqualifizierung- und Qualifizierungsprogramme in der Umsetzung. Aber es gilt: Wir müssen alle gemeinsam mit auf die Reise nehmen. Umqualifizierung, Ressourcen und Kompetenzen sind aufzubauen – und das ist die große Herausforderung vor der wir derzeit bei Audi stehen.

Fragen: Stefan Groß

Interview mit Monika Schnitzer: Wirtschaftsweise Schnitzer: Nur eine Pflichtversicherung wäre solidarisch

Stefan Groß-Lobkowicz2.09.2021Medien, Wirtschaft

Wir leben in unruhigen Zeiten. Corona und Umweltkatastrophen bestimmen unseren Alltag. Doch wie lassen sich die großen Transformationen bewältigen, fragt „The European“ die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.

Wir verschulden uns in mit der Klimakrise und durch die Pandemie. Wer soll die Zeche bezahlen?

Wir haben neue Schulden gemacht. Dies war notwendig, weil wir Hilfsmaßnahmen zu stemmen hatten, um den durch die Einschränkung betroffenen Unternehmen zu helfen. Die Frage bleibt, wie wird das am Ende wieder zurückgezahlt? Am Beispiel der Finanzkrise lässt sich ein möglicher Ausweg verdeutlichen. Damals hatten wir eine Schuldenquote von achtzig Prozent. Innerhalb von zehn Jahren konnten wir diese durch eine gute Haushaltsdisziplin auf sechzig Prozent reduzieren. Gleichzeitig hatten wir eine gute konjunkturelle Phase und sind aus diesen Schulden herausgewachsen. Ich denke, dies ist die Chance, mit der wir auch die Pandemie schultern können. Derzeit haben wir keinen vergleichbaren Schuldenstand bzw. eine Schuldenquote wie während und nach der Finanzkrise 2009. Aktuell liegen wir bei 70 Prozent. Aber wir sind gut finanziert in die Krise hineingegangen und werden aus dieser auch herauskommen, wenn wir dafür sorgen, dass wir das Geld auch richtig ausgeben. Daher müssen wir so investieren, dass wir die Wachstumskräfte befördern, damit wir eine Wachstumsphase wieder bekommen.

Was ist bei der Flutkatastrophe im Sommer in vielen Orten Deutschlands falsch gelaufen? Warum kam es zu einem solchen Ausmaß an Schäden?

Wir müssen uns auf solche Katastrophen immer häufiger auftreten, einstellen. Das sind Folgen des Klimawandels – und darauf müssen wir in Zukunft sowohl bei der Bebauung als auch bei der Bewirtschaftung der Flächen Rücksicht nehmen. Wir müssen mehr in die die Vorsichtsmaßnahmen, also in Hochwasser- und Katastrophenschutz investieren. Diese Anpassungen müssen wir leisten. Wenn wir hier nicht frühzeitig viel Geld in die Hand nehmen, werden erneute Umweltkatastrophen noch teurer. Es gilt also das Gebot der Vorsorge.

Diskutiert wird auch nach der Katastrophe über eine Pflichtversicherung. Wie sinnvoll ist diese?

In einem solchen Fall ist eine Pflichtversicherung eine gute Lösung. Denn nach einer solchen Katastrophe wird oft nach dem Staat gerufen und man setzt darauf, dass der Staat helfen wird. Damit aber hat der individuelle Haushalt keinen Anreiz mehr, eine solche Versicherung zu kaufen. Wenn wir wollen, dass durch Versicherungen solche Fälle abgedeckt werden, müssen wir dafür sorgen, dass alle versichert sind, damit am Ende nicht der Staat einspringen muss, um diese Rettungsmaßnahmen zu unterstützen. Die Solidarität, die wir nach der Katastrophe erlebten, wird durch die Pflichtversicherung vor diese geholt. Wir sind dann alle solidarisch, wir tragen alle zu dieser Versicherung bei, um vor eventuellen Schäden gewappnet sein. Hinzu müsste ein Element hinzutreten, dass die Anreize entsprechend berücksichtigt. Die Risikoprämien müssen nach der Höhe des Risikos gestaffelt sein. Ich muss schon einen Anreiz haben, nicht an einer Stelle zu bauen, wo das Risiko besonders hoch ist. Das muss durch gestaffelte Risiken aber im Einzelfall abgedeckt werden.

Die Schere zwischen armen und reichen Menschen wird immer größer – auch in und nach der Pandemie. Wer beispielsweise an der Börse investiert hat, ist jetzt der Gewinner, wer analog lebt und denkt, hat sogar womöglich seinen Arbeitsplatz verloren oder war in Kurzarbeit. Wie sehen Sie das als Wirtschaftsweise? Bleibt die Schere?

Durch die Pandemie ist die Schere größer geworden. Besonders schlimm war dies im Bildungsbereich. Wochenlang haben die Schulen keinen Präsenzunterricht geleistet, Kinder waren auf sich selbst gestellt. Und so sind es die Kinder aus den sozialschwächeren Haushalten, die besonders benachteiligt sind, weil sie nicht die adäquate technische Ausstattung und – auch familiär bedingt – oft nicht die richtige Unterstützung hatten. Der Bildungsabstand wird also in der Pandemie zwischen den Kindern aus sozial bessergestellten gegenüber denen aus ärmeren Haushalten nochmals größer. Jetzt geht es darum, den Kindern eine Chance zu geben, damit sie den in der Pandemie verpassten Bildungserfolg wieder aufholen.

Fragen: Stefan Groß

Interview mit Alexander Dobrindt. Dobrindt: „Ich sehe keinen weiteren Lockdown“

Stefan Groß-Lobkowicz1.09.2021Medien, Politik

„The European“ sprach mit dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag über einen möglichen neuen Lockdown und über die Deutschlandkoalition als charmante Variante.

Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt, Foto: WEIMER MEDIA GROUP

Wir kommen wieder in einen Coronaherbst, die Inzidenz steigt, wiederholen wir die gleichen Fehler von 2020?

Von den gleichen Fehlern kann man nicht reden. Die Pandemie ist im vergangenen Jahr gut bearbeitet worden, aber man kann nicht mehr mit den gleichen Mechanismen wie 2020 wieder arbeiten. Wir haben deutliche Fortschritte beim Impfen – und das muss Auswirkungen haben. Es gilt der Grundsatz: Geimpfte, Getestete und Genesene müssen hin zur Normalität sich entwickeln können. Die 100 Inzidenz der Vergangenheit, die die Grenze für den Lockdown war, kann so keine Gültigkeit mehr haben. Vorsicht ist aber weiterhin angesagt. Es geht aber nicht nur um die Inzidenz, vielmehr gilt es auf die Hospitalisierung achten und den Fortschritt des Impfens zu betrachten. Ich sehe keinen weiteren Lockdown, aber ich sehe die Verantwortung, sich impfen zu lassen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.

Sie hegen kein besondere „Liebesbeziehung“ zu den Grünen. Wer Annalena Baerbock wählt, bekommt auch die „bucklige Verwandtschaft“.

Ich bin schon einmal froh, dass es kein automatisches Abo der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung gibt. Persönlich könnte ich einer Deutschlandkoalition von Union, SPD und FDP viel abgewinnen. Letztendlich wird es der Wähler entscheiden, aber diese Variante hätte durchaus Charme.

Es gibt neben dem offiziellen Wahlprogramm noch einen „Bayernplan“ der CSU. Darin fordern Sie Home-Office, aber dieses wird von Wirtschaft nicht unbedingt begrüßt!

Es geht um ein Programm, das nicht nur für die Menschen in Bayern Gültigkeit hat. Die gesellschaftliche Veränderung und das Home-Office hat sich für viele bewehrt. Die SPD will eine Home-Office-Plicht einführen. Das lehnen wir strikt ab. Aber wir wollen die Anreize erhöhen. Mir geht es darum, dass es eine Home-Office Pauschale, eine steuerliche Pauschale, die wir als CSU schon umgesetzt haben, auch bundesweit gibt. Diese wollen wir dauerhaft einführen, damit es steuerliche Anreize gibt, das Home-Office zu gestalten. Das ist der richtige Weg, also Anreize zu schaffen und nicht Vorschriften.

Die CDU ist etwas anderer Meinung was Steuersenkungen betrifft. Sie sind dafür. Wer soll denn eigentlich die ganze Zeche für den Klimawandel und die Coronakrise bezahlen?

Sowohl der CDU als auch der CSU geht es um Entlastung. Wir müssen Deutschland für den Wettbewerbung der Zukunft fit machen. Dazu gehört Wachstum und Dynamik. Diese schaffen sie nicht durch höhere Steuern, sondern durch Entlastung bei den Unternehmen, beim Mittelstand, aber vor allem bei den Familien und den alleinerziehenden Müttern. Da setzen wir mit unseren Entlastungen an.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat am 21. Juli eine Regierungserklärung abgegeben und den Klimaschutz sehr deutlich in den Vordergrund gestellt! Wie will die CSU die Klimaziele umsetzen, wenn man dies nicht wie die Grünen durch eine Verbotskultur realisieren will?

Das Klimaschutz eine der zentralen Herausforderungen ist, haben die meisten Menschen verstanden. Der Wille ist groß, dass man dort etwas unternimmt. Und dazu gehört auch, dass wir über die großen Fragen bei der Einsparung des CO2-Ausstoss und den früheren Ausstieg aus der Kohleaussteig noch einmal sprechen. Mir schwebt vor, dass wir über einen früheren Kohleausstieg reden, wenn wir neue Arbeitsangebote für diese Regionen anbieten können. Das wäre im Zuge unserer Souveränitätsoffensiver verbunden, wo es darum geht, Abhängigkeiten in der Welt zu reduzieren und Fehler der Globalisierung zu beseitigen.

Fragen: Stefan Groß

Darum bleibt Sebastian Kurz so hart bei der Migrationsfrage

Stefan Groß-Lobkowicz26.08.2021Europa, Medien

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. Doch beim Koalitionspartner, den Grünen, macht sich Unmut breit. Doch warum verfolgt der Kanzler diesen radikalen Kurs? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan keine Geflüchteten aus dem Land aufnehmen. „Ich bin nicht der Meinung, dass wir in Österreich mehr Menschen aufnehmen sollten, sondern ganz im Gegenteil“. Und er fügte hinzu: „Das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben“. Kurz, der seit 2019 eine schwarz-grüne Koalition führt, bekennt sich damit als konsequenter Hardliner in Sachen Afghanistanpolitik. Hintergrund für den ehemaligen österreichischen Staatssekretärs für Integration in der Bundesregierung Faymann I. ist die „besonders schwierige Integration“ dieser Bevölkerungsgruppe. „Menschen aufzunehmen, die man dann nicht integrieren kann, das ist ein Riesenproblem für uns als Land“. In einer Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat Österreich mehr als 40.000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen – die zweithöchste Zahl in Europa nach Deutschland mit 148.000. Damit, so Kurz, habe Österreich einen „überproportional großen Beitrag geleistet.“ Außer Frage steht dagegen für den ÖVP-Politiker, dass die radikal-islamistischen Taliban eine grausame Herrschaft anstreben können. Und genau deshalb will der Regierungschef die internationale Gemeinschaft mehr in die Pflicht nehmen, um die Situation im Krisen-Land zu verbessern. Allerdings müsse sich auch Österreich eingestehen, dass vieles in fremden Händen liege. „Es ist nicht alles in unserer Macht.“ Auch die neutrale Schweiz hatte die Aufnahme größerer Gruppen von Afghanen abgelehnt.

Mit seinem radialen Null-Flüchtlings-Kurs steht Kurz nicht allein da. So besteht ÖVP-Innenminister Karl Nehammer darauf, abgelehnte Asylbewerber ungeachtet der verheerenden Sicherheitslage weiter nach Afghanistan abschieben zu wollen. Den Vorschlag der EU-Kommission, Geflüchtete über die Umsiedlungsprogramme aufzunehmen, erteilte Kurz‘ Innenminister eine Absage. „Vorschläge, jetzt alle Menschen aus Afghanistan nach Europa zu holen, kann ich nur ganz entschieden verurteilen“. Sekundiert wird er von Parteikollege und Außenminister Alexander Schallenberg, der sich dafür ausspricht, Abschiebezentren in den unmittelbaren Nachbarstaaten Afghanistans aufzubauen. „Staatsbürger aus Afghanistan“ sollten in sichere Drittstaaten wie Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan oder den Iran als sichere Drittstaaten abgeschoben werden, hört man aus Wien.

Die Lage in Deutschland

Während sich die ÖVP-Ministerriege bei der Aufnahme von Flüchtlingen unerbittlich gibt und sogar weitere Abschiebungen fordert, fährt die deutsche Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock den gegenteiligen Kurs. Sie fordert Flüchtlingskontingenten in Europa, den USA und Kanada. Anders als Baerbock sieht das CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Im seinem ohnehin angeschlagenen Wahlkampf könnte ihn das Thema Migration endgültig das Genick brechen. 2015 dürfe sich nicht wiederholen, warnte er. Auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprach sich für eine Aufnahme Geflüchteter in den Nachbarländern Afghanistans aus. Der Hoffnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Ankara Flüchtlinge aufnimmt, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unteressen eine Absage erteilt. Man habe keinen Platz.

Wie verhalten sich Österreichs Grüne zum Kurs des Bundeskanzlers?

Während in Deutschland die Grünen die Union scharf attackieren, halten ihre Parteikollegen in der Alpenrepublik unterdessen weiter relativ still. Zu mächtig ist der Koalitionspartner. Für die Durchsetzung ihrer Klimapolitik übt die Menschenrechtspartei derzeit öffentlich wenig Kritik am Kanzlerkurs. Bis vor kurzem war es allein der Ex-Grünen-Chef und derzeitige Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der eine Mini-Rebellion wagte. Abschiebungen kritisierte er als „fehl am Platze“. Zudem stünden diese im Widerspruch zu der in der „Verfassung verankerten Europäischen Menschenrechtskonvention.“ Der grüne Bundesparteisprecher Werner Kogler hielt sich beim Thema der Flüchtlingsaufnahme hingegen bedeckt. „Ich kann Ihnen das genau noch nicht versprechen, weil wir ja nicht allein regieren.“ Doch zunehmend rumort es auch bei den Grünen. In Sachen Abschiebungen nach Afghanistan hat man am Montag der ÖVP eine Absage erteilt. In einem Statement schreiben die Koalitionspartner: „Österreichs Anstrengungen im Rahmen der EU müssen sich auf die Hilfe in Afghanistan, für eine Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten und die sofortige Evakuierung all jener, die um ihr Leben fürchten müssen, konzentrieren. Europa trägt hier klar Verantwortung, die akut von Taliban-Gruppen gefährdeten Menschen wie Frauen, Kinder und Menschenrechtsaktivist*innen unbürokratisch Zuflucht zu gewähren.“ Damit wagen sich die Grünen erstmals aus der Deckung. Abschiebungen nach Afghanistan „kann und wird es nicht geben.“ Dass die Grünen jetzt Kante zeigen müssen, ist für ihr politisches Überleben wichtig. In den Umfragen fallen sie stetig. Ihre Wähler werfen ihnen einen wässrigen Kurs vor und selbst die eigene Basis droht, die Koalition nicht mehr mitzutragen. Die ehemalige Wiener Parteichefin der Grünen und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, die einst die grüne Koalition mitverhandelt hatte, zog nun die Notbremse und ist aus der Partei ausgetreten. „Die grüne Politik“ erreicht „nicht mehr mein Herz,“ schrieb sie.

Warum tickt Österreich hier anders?

Dass Sebastian Kurz im Fall von Afghanistan derart hart agiert, die Wiener SPÖ spricht gar von einer inhumanen Bundesregierung, hat seine Gründe. Erst am 2. November 2020 erschütterte ein Terroranschlag Wien. Vier Menschen kamen ums Leben, 23 weitere wurden teils schwer verletzt. Der damalige Attentäter war Sympathisant der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Acht Monate später, Anfang Juli 2021, hatten mehrere Afghanen ein 13-jährigen Mädchen mit Drogen betäubt, vergewaltigt und zum Sterben abgelegt. Schon damals betonte Kurz, dass es einen Abschiebestopp Richtung Hindukusch nicht geben werde. Kurz äußerte sich schockiert von der Vergewaltigung und betonte: Es sei untragbar, „dass Menschen zu uns kommen, Schutz suchen und solche grausamen, barbarischen Verbrechen begehen.“ Bereits damals hatte sich die ÖVP für schnellere Abschiebungen von kriminellen Asylbewerbern ausgesprochen. Zudem identifizierte man Migranten mit anderen kulturellen Werten als Gefahr. Seit mehreren Jahren fährt Kurz schon seinen Knallhartkurs in Sachen Migration und einer rigiden Schließung der Außengrenzen Europas. Anfang des Jahres 2016 sagte der damalige österreichische Außenminister, der maßgebend an der Schließung der damaligen Flüchtlingsroute Nummer eins, der Balkonroute beteiligt war: „Es ist nachvollziehbar, dass viele Politiker Angst vor hässlichen Bildern bei der Grenzsicherung haben. Es kann aber nicht sein, dass wir diesen Job an die Türkei übertragen, weil wir uns die Hände nicht schmutzig machen wollen. Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ 2017 hatte Kurz die Schließung von islamischen Kindergärten befürwortet, da sich diese sprachlich und kulturell von der Mehrheitsgesellschaft abgeschottet hätten. Im März desselben Jahres kritisierte er die Rettungsaktionen von Hilfsorganisationen als „NGO-Wahnsinn“. Diese Hilfe führe dazu, dass mehr Flüchtlinge im Mittelmeer sterben anstatt weniger. Statt diese auf das italienische Festland zu bringen, sollte man sie in Flüchtlingszentren außerhalb der EU zurückzustellen. Auch das Integrationsgesetz vom Juni 2017 setzte neue Akzente: Rechtsanspruch auf einen Deutschkurs, Mitwirkungspflicht bei Sprach- und Wertekursen, Teilnahmeverbot an Koranverteilungskampagnen im öffentlichen Raum durch Salafisten. Ein Verbot der Vollverschleierung im öffentlichen Raum wurde im Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz geregelt. Das Integrationsjahrgesetz verpflichtete später subsidiär Schutzberechtigte, Asylberechtigte und Asylwerber zu gemeinnütziger Arbeit, die im Interesse des Gemeinwohls liegt.

Mit seiner derzeitigen Migrationspolitik, auch gegenüber Afghanistan, stellt der österreichische Bundeskanzler keine neuen Demarkationslinien auf, sondern setzt den Kurs fort, den er als Außenminister begonnen und als Bundeskanzler nun weiterführt. Sein konsequentes Interagieren in Sachen Flüchtlingspolitik hatte ihm nach der Flüchtlingskrise 2015 in der Bundesrepublik eine größere Anhängerschaft gesichert, die sich ihn sogar als deutschen Bundeskanzler wünschten.

Fakten

Seit 2002 war Österreich war Teil des internationalen Militäreinsatz in Afghanistan. Der Militäreinsatz erfolgte im Wesentlichen zwischen 2002-2005. Seit 2015 half das Bundesheer dann, die afghanische Armee auszubilden und damit gegen einen Angriff der Taliban zu wappnen. Im Februar 2002 war Österreich mit 75 Infanterie-Soldaten im Rahmen der Stabilisierungstruppe ISAF gestartet, 2004 wurde ein Infanteriekontingent mit bis zu 100 Soldaten zur ISAF entsandt. Aufgabe war die Sicherung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2005. Am 15. Januar 2015 wurde ISAF von der NATO-Mission RSM (Resolute Support Mission) abgelöst. Nach zwanzig Jahren Krieg am Hindukusch gab es kein einziges österreichisches Opfer. Am 18. Juni kehrte der letzte österreichische Soldat vom Hindukusch zurück.

Obwohl sich Österreich seit 1955 als neutral erklärt hat und sich damit eigentlich nicht in Kriege anderer Länder einmischt, wurde die Neutralität durch den EU-Beitritt am 1. Januar 1995 und durch weitere seither beschlossene neue Verfassungsbestimmungen de facto eingeengt. 1995 hatte das Land das „Rahmendokument“ der NATO-Partnerschaft für den Frieden „Partnership for Peace) (PfP) unterzeichnet. Seitdem arbeitet es im PfP-Rahmen mit der NATO und deren Mitgliedern zusammen, insbesondere bei friedenserhaltenden Operationen, in der humanitären und Katastrophenhilfe sowie bei Such und Rettungsdiensten.

Dieser Taliban könnte moderater Afghanistan führen

Stefan Groß-Lobkowicz23.08.2021Medien, Politik

Die Würfel sind gefallen. Afghanistan ist auf dem Weg in ein islamisches Kalifat. Doch wer wird künftig in Kabul regieren? Mit Mullah Abdul Ghani Baradar als möglichem Präsidenten wäre ein versöhnlicher Kurs sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik möglich. Schon jetzt gilt Baradar als das Gesicht der Taliban nach außen. Doch wer ist dieser Mann? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Nach dem Siegeszug der Taliban muss nun die Macht im Land gefestigt werden. Der islamische Rechtsgelehrte und „Führer der Gläubigen“, Haibatullah Akhundzada, gilt bereits jetzt als die letzte und zugleich höchste Autorität, die über die politischen, religiösen und militärischen Angelegenheiten der Gotteskrieger entscheidet. Zum Stab der Top 7 einflussreichsten Männer, die die Fäden im Land in Zukunft ziehen werden, zählen Sirajuddin Haqqani, Sohn des bekannten Mudschaheddin-Befehlshabers Jalaluddin Haqqani und Leiter des Haqqani-Netzwerks, Mullah Mohammad Yaqoob, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und Militärstratege, Sher Mohammad Abbas Stanekzai, ehemaliger stellvertretender Minister in der Taliban-Regierung vor deren Sturz sowie Abdul Hakim Haqqani, Leiter des Verhandlungsteams der Taliban und ehemaliger Schattenrichter, der den mächtigen Rat der Religionsgelehrten leitet und dem der Fundamentalist und Hardliner Akhundzada am meisten vertraut. Ginge es nach Akhundzada wäre Afghanistan bald wieder ein islamisches Emirat mit Scharia und strikter Geschlechtertrennung.

Doch ein Mann lässt den Westen etwas hoffen. Der siebente Mann, der großen Einfluss auf die künftige Entwicklung des Landes nehmen könnte, ist der Stellvertreter von Emir Haibatullah Akhundzada. Beobachter sehen in Mullah Abdul Ghani Baradar, genannt der Bruder, gar den neuen Präsidenten des Landes. Der erfahrene Diplomat gilt schon seit längerer Zeit als politisches Oberhaupt der Fundamentalisten, die jedoch im schlimmsten Fall das Land in einen Gottesstaat zurückbomben und sich einen Ur-Islam aus dem Mittelalter zum Vorbild nehmen könnten. Die Scharia als Rechtsrahmen würde damit alle demokratischen Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre zunichtemachen und ein repressives Kalifat wie zwischen 1996-2001 errichten.

Wer ist der Mann, der etwas moderater ist?

1968 wurde Mullah Abdul Ghani Baradar in Uruzgan geboren. In den 1980er Jahren kämpfte er auf der Seite der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjets. Nachdem Rückzug der Russen 1989 gründete Baradar zusammen mit seinem ehemaligen Kommandeur und angeblichen Schwager Mohammad Omar eine Madrassa in Kandahar. Gemeinsam erweckten die beiden Mullahs die Taliban zum Leben, eine Bewegung junger islamischer Gelehrter, die sich der religiösen Läuterung des Landes und der Errichtung eines Emirats auf die Fahnen geschrieben hatten. Jahrelang war Baradar, der Durrani und Paschtune vom Stamm der Popalzai, Stellvertreter von Mullah Mohammed Omar und Mitglied der Quetta Shura. Der heute 53-Jährige hatte in den Jahren des Islamischen Emirats Posten wie das Gouvernement von Herat und Nimrus und darüber hinaus eine Reihe von militärischen und administrativen Funktionen inne. Als das Islamische Emirat von den USA und ihren afghanischen Verbündeten gestürzt wurde, war er, so eine Information von „Interpol“, stellvertretender Verteidigungsminister. Nach dem US-Einmarsch in Afghanistan 2001 floh er wie viele Gesinnungskrieger nach Pakistan und führte von dort die Quetta Shura – die neue Führung der Taliban im Exil. 2010 spürte ihn die CIA in Karatschi auf und überredete den pakistanischen Geheimdienst „Inter-Services Intelligence“ (ISI), ihn zu verhaften. Nach drei Jahren, 2013, hatte der pakistanische Nationale Sicherheits- und außenpolitische Berater Sartaj Aziz angekündigt, Baradar auf freien Fuß zu setzen, aber unter der Auflage, Pakistan nicht zu verlassen. Unter der Administration des damaligen US-Präsidenten Donald Trump wurde der Mann, vor dessen militärischen Kenntnissen sich die damalige Obama-Regierung mehr fürchtete als sie sich Hoffnungen auf seine vermeintlich gemäßigten Ansichten machte, am 25. Oktober 2018 endgültig in Pakistan freigelassen. Der Republikaner Trump propagierte damals eine Annäherungspolitik mit den Taliban und die USA sahen in Baradar immerhin einen moderaten Verhandlungsführer, der nach dem Abzug der amerikanischen Truppen vom Hindukusch einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Stabilisierung der Region leisten könne. So war es der Mann aus der Provinz in Zentralafghanistan, der am 29. Februar 2020 zusammen mit Mike Pompeo, dem damaligen Außenminister der USA, als Vertreter der Taliban in Doha den Abzugsplan der US-Truppen aus Afghanistan unterzeichnete. Das Abkommen von Doha, eine Art Nicht-Angriffsabkommen zwischen den Islamisten und den USA, wurde von der Trump-Regierung als Durchbruch auf dem Weg zum Frieden gefeiert. Damals hegte man in Washington noch den Traum, wie man die Macht zwischen den Taliban und der Kabuler Regierung von Ashraf Ghani teilen könnte. Seit seiner Freilassung und als Top-Verhandler gilt Baradar als das Gesicht der Taliban. Dieses Ansehen unter Trump hatte er sich während seines 20-jährigen Exils erarbeitet. Seitdem hatte er den Ruf eines starken militärischen Anführers und eines subtilen politischen Akteurs. Westliche Diplomaten sahen in der Person Baradar denjenigen Flügel der Quetta-Schura – der umgruppierten Taliban-Führung im Exil –vertreten, der für politische Kontakte mit Kabul noch am empfänglichsten war.

Versierter Verhandlungsführer

Bereits seit Mitte August 2021 hat sich Baradar als unbestrittener Sieger des 20-jährigen Krieges erwiesen. Zum Fall von Kabul betonte er, dass die eigentliche Bewährungsprobe für die Taliban erst jetzt beginne und es vorrangig darauf ankomme, der Nation zu dienen. Diese Worte aus dem Mund eines Islamisten stimmen optimistisch. Und Mullah Baradar betonte zugleich, dass der größte Erfolg der Islamisten seit den 1990er-Jahren zwar „unerwartet“ gekommen sei, aber immerhin das größte nur denkbare Gottesgeschenk darstelle. Nun gelte es, keine Arroganz zeigen. Vielmehr ginge es jetzt daran zu beweisen, wie man die Lebensumstände der Afghanen verbessere. Während eine Vielzahl der Taliban sich nichts mehr als einen Scharia-Staat mit allen nur denkbaren Repressionen für Frauen und Mädchen herbeisehnen, gilt der Paschtune eher als gemäßigter Vertreter. Dass Baradar offener ist und damit verhandlungsbereiter, zeigte sich schon nach dem Machverlust der Taliban 2001. So war er der politische Führer, der immer wieder Gesprächskontakte mit westlichen Vertretern und der afghanischen Regierung unter Hamid Karzai führte. Baradar galt als möglicher Partner für Friedensverhandlungen. Und er spielt seine Vermittlerrolle geschickt auf dem politischen Parkett aus, sei es bei einem Besuch in Peking oder davor in Teheran und mehrmals in Islamabad. Im März 2021 hatte eine zehnköpfige, hochrangige Delegation unter Leitung von Taliban-Vizechef Baradar an einer von Russland ausgerichteten Afghanistan-Konferenz teilgenommen. Bei dem damaligen Treffen mit Vertretern aus den USA, China und Pakistan ging es um eine friedliche Lösung des Afghanistan-Konflikts. Baradar weiß wie wichtig die Anerkennung durch regionale Mächte jetzt für die künftigen Geschicke der Gotteskrieger ist.

Baradar wird aber selbst als Präsident Afghanistans nicht das allerletzte Wort haben

Wenn Baradar Präsident im neuen Afghanistan wird, könnte sich das Land nicht derart radikalisieren, wie es derzeit von vielen westlichen Kritikern befürwortet wird. Immerhin stimmen selbst Kritiker zu, dass die Islamisten in den vergangenen 20 Jahren dazugelernt haben und politisch erfahrener geworden sind. Der deutsche Journalist und Buchautor, Boris Barschow, der als mehrmaliger Reservist jahrelang den Afghanistan-Blog betrieb und das Buch „Kabul, ich komme wieder“ schrieb, betont zum neuen Kurs der Taliban, dass diese nun „ihr Image wandeln und moderater auftreten“ möchten. Dazu zählt, dass sie seit Monaten keine Selbstmordattentate in afghanischen Städten für sich beansprucht hätten. Bei allem stecke derzeit die Strategie dahinter, dass die Taliban nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren können, sondern vielmehr Zivilisten für ihren Kurs gewinnen müssen. Dazu zähle auch, dass die Islamisten nun erklärten, „mehr auf den Schutz der Zivilisten und auf Frauenrechte zu achten. Dennoch hält der Experte das Ganze für ein „Fassadenspiel“. „Die Taliban sind noch immer sehr brutal und es gibt Berichte, wie sie Zivilisten in Häusern suchen“.

Selbst wenn der gemäßigte Baradar an die Macht kommt, Akhundzada wird ihm nicht freie Hand gewähren. Zudem gibt es bei den Taliban immer noch mehrere Machtzentren. Bis dato hatte die politische Führung, die „Schura“ im pakistanischen Quetta und das politische Büro in Doha an einem Strang mit den oft blutrünstigen und fundamental religiös operierenden Feldkommandeuren gezogen. Ob das eine Garantie für die Zukunft ist, bleibt eine der noch vielen offenen Fragen am Hindukusch. Wenn sich aber, wie die Tage angekündigt, die

Taliban für die Unterstützung durch weitere terroristische Netzwerke entscheiden, kann man nicht davon ausgehen, dass das religiöse Regime gemäßigter wird. Dieser Gefahr wird nicht zuletzt dadurch Nährboden gegeben, da unterdessen der Chef des Terrornetzwerkes Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, den Taliban seine Hilfe bereits zugesichert hat.

Afghanische Ortskräfte: Es grenzt fast an humanitäre Barbarei

Stefan Groß-Lobkowicz20.08.2021Medien, Politik

Sie waren das Rückgrat der Bundeswehr in Afghanistan. Tausende von ihnen unterstützten die Soldaten bei ihren gefährlichen Einsätzen und riskierten dabei ihr Leben. Doch nun lässt man viele von ihnen im Stich. Auf die militärische Pleite folgt eine humanitäre Katastrophe genau für diejenigen Menschen, ohne die der Militäreinsatz am Hindukusch undenkbar gewesen wäre. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Sie werfen Babys über den Flughafenzaun, klammern sich verzweifelt an die Rettungsmaschinen – die Angst der Ortskräfte vor der repressiven Macht der Taliban ist groß. Tausende fürchten harte Strafen, Peitschenhiebe, gar die Steinigung, wenn die Taliban ihr islamisches Kalifat endgültig errichtet haben. Von Friedrich Schillers aufklärerischer Vision, dass „alle Menschen Brüder werden“, ist derzeit buchstäblich nichts in Afghanistan zu spüren. Vielmehr herrscht überall die Angst, überhaupt zu überleben. Dabei sind es die zigtausend afghanischen Ortkräfte gewesen, Einheimische, die den Deutschen halfen und die dadurch den Truppen am Hindukusch maßgebend den Rücken stärkten, um im Land demokratische Strukturen zu errichten. Ob Übersetzer, Köche, Lagerarbeiter, Reinigungskräfte – sie alle hatten ihr Leben für Geld, aber eben auch im Glauben an eine bessere Zukunft auf das Spiel gesetzt. Doch viele von ihnen werden blindlings ihrem Schicksal überlassen, dass für viele einem Todesurteil gleicht.

Viele von ihnen sind jetzt die Verlierer

Erst am Donnerstag hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betont: „Es ist vollkommen unbestritten, dass die Ortskräfte und ihre Familienangehörigen nach Deutschland kommen sollen, und dass es dafür auch eine moralische Verantwortung gibt.“ Was im Wahlkampf wie ein vollmundiges Versprechen klingt, geht an der Wirklichkeit radikal vorbei. Zwar sind bis zum Freitag mehr als 900 Ortskräfte ausgeflogen und einige von ihnen in der Erstaufnahme der Außenstelle der „Zentralen Ausländerbehörde“ im brandenburgischen Ort Doberlug-Kirchhain (Elbe-Elster) angekommen, doch das Hauptproblem ist, wie Ex-Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian betont, dass viele von ihnen gar nicht bis zu den rettenden Fliegern durchstoßen können. Weit vor dem Flughafen sperren die Taliban die Zugänge ab, Schüsse fallen, die Islamisten setzen Tränengas ein und verprügeln die Fliehenden. Wer es letztendlich bis an den Flughafen geschafft hat, darf oft nicht passieren. Amerikanische Soldaten lassen nur ihre Leute durch. Ortskräfte müssten nachweisen, dass sie tatsächlich für die Deutschen gearbeitet hätten – doch das ist oft ohne Visa und Pässe unmöglich. Immer wieder kommt es am „Hamid Karzai International Airport“ zu Missverständnissen: Obwohl Ortskräfte zu einer bestimmten Uhrzeit zum Flughafen gerufen wurden, war von deutscher Seite niemand am Eingang gewesen, um die Menschen zu evakuieren. Zudem wackelt inzwischen das Versprechen der Bundesregierung, Ortskräften in Afghanistan und deren Familien zu helfen und sie aus dem Land zu evakuieren. Zudem blockierten Afghanen, die keine Dokumente hätten, den Zugang. Wie die „Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ) betont, will man jetzt nur noch die „Kernfamilie“ der Ortskräfte retten. Doch dazu zählen erwachsene Söhne für die GIZ nicht dazu. Aus Resignation, ihre Kinder nicht mitzunehmen, haben viele ihre Fluchtpläne unterdessen aufgegeben. Sie wollen nicht ohne ihre Kinder fliehen und nehmen den Tod bewusst in Kauf.

Im Angesicht der Tatsache, dass die Ortskräfte auf der Strecke bleiben und wie Personen zweiter Klasse behandelt werden, sagt viel über die fehlerhafte Afghanistanpolitik des Westens. Hilferufe des deutschen Botschafters wurden ignoriert, wie Grotian betont. Es sei zu einem guten Teil die Ignoranz des Westens gewesen, die jetzt womöglich denjenigen das Leben kostet, ohne die der Afghanistaneinsatz nie hätte funktionieren können. Bei jedem ausländischen hochrangigen Politiker, der sich mit Bildern aus der Krisenregion ins gute Licht rücken wollte, ohne die Ortskräfte, die das Land wie ihre Westentasche kennen, die die Soldaten vor Hinterhalten warnten und viele Leben retteten, wäre wenig gegangen. Die Ortskräfte waren nicht nur das quasi geopolitisch-strategische Rückgrat, die vielen Augen der Streitkräfte, sondern oft Freunde, enge Vertraute, mit den man Fußball spielte und von einer Zukunft träumte, die es so nicht mehr gibt.

Ex-Bundeswehrsoldaten sind frustiert – Ihre ehemaligen Helfer sitzen jetzt in der Falle

Viele Ex-Soldaten, die am Hindukusch ihr Leben riskiert haben und sicher in der Heimat gelandet sind, äußern sich brüskiert über den laxen Umgang mit den ehemals verbündeten Ortskräften. Sie wissen was sie selbst diesen Menschen zu verdanken haben, Menschen, die in der medialen Öffentlichkeit keine Stimme und kein Gesicht haben. Und die Aussage von Seehofer, „Ortskräfte sind keine Flüchtlinge oder Asylbewerber“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Westen eklatant gescheitert ist. Der Frust bei den deutschen Ex-Kämpfern ist groß. Wie der Leiter des „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e. V.“  Grotian im Gespräch mit dem „The European“ betonte, würden 80 Prozent der deutschen Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen. Dies ist eine traurige Prognose – und sie wäre vermeidbar gewesen. Derzeit gibt es noch keine Stimmen von geretteten Ortskräften, die ein Loblied auf die deutsche Außenpolitik singen, dagegen nur verzweifelte Hilferufe und die bittere Einsicht, dass man den Menschen außerhalb des Flughafens in Kabul nicht mehr helfen kann. Dabei hatte das Verteidigungsministerium bereits für den 25. Juni, vier Tage vor dem Ende des Bundeswehreinsatzes in dem Land, zwei Charterflugzeuge bei zwei spanischen Airlines organisiert. Doch dieser Einsatz scheiterte – wie vieles in Afghanistan – an einer langsam arbeitenden Bürokratie, an vielen Missverständnissen zwischen deutschen Ministerien. So konnten vom damaligen Bundeswehrstützpunkt Masar-i-Scharif nur wenige Ortskräfte in die Bundesrepublik ausgeflogen werden. Erschwerend kam hinzu, dass kein einziges Visaverfahren seit Juni begonnen hätte. Viele Ortskräfte hatten sich acht bis zehn Wochen lang in Kabul aufgehalten, um verzweifelt einen Weg in die Freiheit zu bekommen. Das Resultat ist, dass sie nun in der Todesfalle sitzen – und das ist für pragmatische Bundeswehrsoldaten letztendlich das Ergebnis einer falschen Politik.

Nach wie vor verschlechtert sich die Lage der Ortskräfte. Was nutzen Rettungsflieger, wenn man gar nicht an den Flughafen kommt, was nützen Mobiltelefone, wenn man die Leute nicht im Chaos erreichen kann? Für viele Ortskräfte bleibt als einzige Alternative nur noch die Selbstrettung übrig. Erschwerend kommt hinzu, dass die Taliban doch nicht so moderat agieren, wie sie in Pressekonferenzen bekunden. Mittlerweile fordern sie für jede Ortskraft der Deutschen, die sie zum Flughafen durchließen, einen hohen Preis – „bis hin zur Anerkennung ihres Kalifats“. Dass sich die Bundesregierung aber von den Fundamentalisten erpressen lässt, ist eher unwahrscheinlich. Damit wird es aber für viele Ortskräfte noch schwieriger, sich in Sicherheit zu bringen.

Söder fordert Konsequenzen für Außenminister Heiko Maas

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat bereits Konsequenzen für die politisch Verantwortlichen in Deutschland gefordert. Der CSU-Chef hatte sich auf einer Pressekonferenz nach der CSU-Präsidiumssitzung zur aktuellen Situation geäußert. In seinem Statement nahm der Politiker SPD-Außenminister Heiko Maas ins Visier. Zwar halte er derzeit nichts von Personaldebatten, aber: „Wir gehen davon aus, dass der Großteil der in der Diskussion stehenden Personen nach der Wahl nicht mehr für neue Amtsaufgaben zur Verfügung steht.“ Darauf werde man drängen – „insbesondere was den Außenminister betrifft“, schiebt Söder hinterher.

Moralisch äußert bedenklich, was sich derzeit in Afghanistan abspielt

Was sich derzeit in Afghanistan mit den Ortskräften abspielt, hat wenig mit Moral, aber viel mit Unzuverlässigkeit zu tun. Als man die Kräfte brauchte, gab man ihnen Schutz. Jetzt, wo das Land aufgegeben, von den Taliban überrannt wurde, werden sie oftmals im Stich gelassen. Das widerspricht nicht nur der Menschenrechtscharta, sondern auch einem moralischen Imperativ, alle Menschen gleich zu behandeln, seien es deutsche Staatsbürger oder eben afghanische Ortskräfte. Was jetzt regiert, ist nicht die Moral, sondern ein Utilitarismus, der nicht darauf abzuzielen scheint, die größtmögliche Zahl von Menschen zu retten, um das größtmögliche Glück zu garantieren. Man wird bei den Bildern aus Kabul den Gedanken nicht los, dass es sich bei der Behandlung der Ortskräfte dann doch um Menschen zweiter Klasse handelt, die man willfährig ihrem Schicksal übergibt. Aber eine Gesinnungsmoral, die nicht die Folgen ihrer Handlungen, auch der negativen, bedenkt, bleibt im höchsten Grad unmoralisch. Es ist unsere Pflicht, allen Ortskräften zu helfen, sonst werden wir nach dem militärischen Scheitern in Afghanistan auch moralisch noch unglaubwürdiger.  „Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, an die Ausübung der einfachsten gewendet würde“, hatte die mährisch-österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach einst geschrieben – Worte, die sich heute wieder bewahrheiten. Dramatischer allerdings beschreibt die Lage Imamin Seyran Ates. Die Moschee-Gründerin, Rechtsanwältin und Aktivistin spricht derweilen von „heuchelnder Politik“ und „falsch verstandener Toleranz“. „Ich kann der verlorenen Politik kaum zuhören.“ Und gegen die Bundesregierung schreibt sie: „Niemand kann und darf uns weismachen, dass sie es nicht gewusst haben. Und jeder Politiker und jede Politikerin, die es dennoch tun, sollten sofort aus dem Amt gehen.“ So viele Heuchler, Heuchlerinnen und Lügner habe sie in den vergangenen Jahren selten gehört. Bitterer kann eine Bilanz nicht ausfallen.

Taliban sind jetzt bewaffnet wie ein Nato-Staat

Stefan Groß-Lobkowicz18.08.2021Medien, Politik

Über Nacht wurden die Taliban zu einer der am besten ausgestatteten Islamisten-Miliz der Welt. Der Großteil der erbeuteten Waffen stammt aus den USA. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

„Die Entwicklungen der letzten Tage sind bitter und werden langfristige Folgen für die Region und für uns haben. Es gibt nichts zu beschönigen“, hatte SPD-Außenminister Heiko Maas noch am Montagabend getwittert. Und in der Tat hat die Weltgemeinschaft im Fall von Afghanistan kläglich versagt. „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte am 11. März 2004 der damalige deutsche SPD-Verteidigungsminister Peter Struck. Geblieben ist davon nicht mehr viel. Mittlerweise sind die Taliban unter die Zähne bewaffnet und besser ausgestattet als mancher Nato-Staat.

20 Jahre nach Beginn des Krieges in Afghanistan als Reaktion auf die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York ist die Bilanz für die Weltgemeinschaft und insbesondere die Vereinigten Staaten erschreckend. Während die Militäreinsätze Operation „Enduring Freedom“ (OEF) den Terrorismus am Hindukusch beenden wollten, sollte die „International Security Assistance Force“ (ISAF) der UN und später der NATO das bis dahin herrschende islamistische Taliban-Regime absetzen, um gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung das Land zu stabilisieren. Rund 3.600 Soldaten und Soldatinnen der westlichen Allianz ließen bis 2020 bei den Operationen ihr Leben. Die Zahl der Opfer in der Zivilbevölkerung lag bei über 36.000. Fast 9.600 Soldaten und Soldatinnen aus 36 Nationen waren zuletzt Teil der Operation „Resolute Support“. Auch Deutschland war mit 1.300 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz und stellte damit die zweitgrößte Truppenstärke. Die Bundeswehr hatte mit ihren Ausgaben am Hindukusch nicht gekleckert. Die Verwaltungskosten für Personal, Wehrmaterial, militärische Beschaffungen sowie für Verwaltungsaufgaben beliefen sich im Jahr 2018 auf rund 313 Millionen Euro. Die USA hatten in den vergangenen Jahren Milliarden von Dollar ausgegeben, um das afghanische Militär mit dem nötigen Rüstzeug im Kampf gegen die Taliban auszustatten. Allein die Kosten für die Militärverwaltung beliefen sich im Zeitraum von 2001 bis 2013 auf rund 743 Milliarden US-Dollar.

Kampflos hatten die afghanischen Regierungstruppen kapituliert

Zehntausende afghanische Streitkräfte legten in den vergangenen Wochen ihre Waffen nieder. Mit dieser nahezu kampflosen Kapitulation der Regierungstruppen in vielen Orten des Landes sind jetzt Waffen und Ausrüstung in die Hände der Islamisten gefallen. Zwar gibt man sich in Kabul von Seiten der Taliban noch moderat, wie man den Wiederbau des Landes und das zivile Leben organisieren will, doch dass ausgerechnet die religiösen Fundamentalisten jetzt davon profitieren, dass die USA das afghanische Militär jahrelang aufgerüstet haben, ist ein Desaster für die gesamte Weltgemeinschaft.

Im Unterschied zu den Jahren 1996-2001 Jahren als das Taliban-Regime mit harter Hand regierte und militärisch eher einer Steinzeitarmee glich, sind die Gotteskrieger heute keine schlecht ausgerüstete Truppe mehr. Finanziert durch Drogengelder und durch Unterstützung aus Pakistan hatte aber erst die Übernahme des modernen amerikanischen Materials in den letzten Tagen den Extremisten starken Aufwind gegeben. Zwar konnten die Krieger bereits nach dem Abzug der sowjetischen Truppen auf ein Arsenal an Waffen zurückgreifen, doch dies ist nicht vergleichbar mit den Hightech-Waffen des 21. Jahrhunderts über die die ehemaligen Steinzeit-Krieger nun verfügen. Damals, in den 80er Jahren, hatte die Sowjetunion einen Stellvertreterkrieg um das kommunistische Regime des Landes mit den USA geführt, die im Kalten Krieg ihrerseits die von Pakistan aus operierenden Guerilla-Gruppierungen der Mudschaheddin unterstützten.

In Washington war man schon länger davon ausgegangen, dass die Taliban das US- Equipment der afghanischen Regierungstruppen erbeuten könne. Auch das Pentagon war bei seinen Planspielen auf dieses Szenario eingestellt – doch von der Schnelligkeit des Eroberungsfeldzuges letztendlich völlig überrascht. Zwar hatten die amerikanischen Truppen beim Abzug ihre „hochentwickelte“ Ausrüstung mitgenommen, aber Unmengen an Fahrzeugen, Schusswaffen und Munition sind nun in Islamistenhand. Hatte US-Präsident Joe Biden unlängst betont, dass die USA „unseren afghanischen Partnern alle Mittel zur Verfügung gestellt“ haben, profitiert vom „Worst-Case-Szenario“ letztendlich nun der militärische Gegner. Stolz posten die Islamisten auf ihren Online-Netzwerken Videos und Bilder, die sie bei der Übernahme ganzer Waffenlager und erbeuteter Fahrzeuge zeigen.

Gigantisches Waffenarsenal

Die Taliban, die Afghanistan wieder in einen Gottesstaat mit Scharia-Gesetzen verwandeln könnten, hatten bei ihrer Offensive im August 2021 eine Million Handfeuerwaffen und Milliarden Schuss Munition erbeutet. 99 Prozent der Kriegsfahrzeuge der afghanischen Armee wechselten den Besitzer. Ebenso sind mehr als 600 Schützenpanzer vom Typ M1117 und rund 8500 Humvees (Militär-Geländewagen) in den offenen Händen der Gotteskrieger gelandet. Darüber hinaus verfügen die Taliban über 150 geschützte Hightech-Fahrzeuge vom Typ „MaxxPro“. Auch die 100.000 aufgewerteten Geländewagen der afghanischen Polizei vom Typ Toyota Hilux und Ford Ranger fahren jetzt unter der Flagge der arabisch-sunnitischen Kämpfer. Dazu kommen rund 1000 Schützenpanzer, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus sowjetischen Beständen, die nun ebenfalls den rund 60.000 Gotteskriegern gehören. Doch nicht nur für den Bodenkampf sind die Taliban künftig gut gerüstet, auch die Luftfahrzeuge gingen komplett an die Islamisten über, die nunmehr über 68 leichte Kampfhubschrauber vom Typ MD 500 „Defender“, 19 brasilianische Bodenkampfflugzeuge vom Typ A-29 und bis zu 16 legendäre „Blackhawk“ Transporthubschrauber verfügen. Auch vier schwere Transportflugzeuge der Baureihe C-130 „Hercules“ und über 100 russische und sowjetische Transport- und Angriffshubschrauber (Mi-17 und Mi-24) kann das Islamistenheer nun sein Eigen nennen. Doch die größte Gefahr für das Aufflammen des internationalen Terrorismus stellt die Übernahme der afghanischen Drohnen-Flotte dar. In den letzten Tagen eroberten die Taliban mehrere Hightech-Exemplare vom Typ „ScanEagle“ des US-Herstellers Boeing.

Die Bundeswehr hatte immer wieder aufgerüstet – Diese Waffen gingen in das Kriegsgebiet

Am vergangenen Wochenende hatten die Taliban die Stadt Masar-e Scharif erobert. Dort war die Bundeswehr mit ihrem größten Feldlager außerhalb der Bundesrepublik jahrelang stationiert. Bis zu 5500 Soldaten der ISAF, darunter 2800 Soldaten der Bundeswehr nebst zusätzlichen Einheiten aus 19 weiteren Nationen, waren in „Camp Marmal (CM)“ stationiert. Ende Juni 2021 zogen dann die letzten deutschen Truppen ab, bevor sich am 14. August die afghanischen Truppen bei Masar-e-Scharif kampflos ergaben. Bereits davor hatte sich das 207. Armeecorps in der Provinz Herat ohne Widerstand ergeben. Am 16. August bombardierte die U.S. Air Force schließlich den Flughafen Masar-e Scharif sowie die darauf befindlichen Jets und Kampfhelikopter der afghanischen Armee, damit die Taliban diese nicht mehr nutzen können. Trotz dieser Zerstörungsaktion haben die Islamisten mehr Waffen denn je.

Die Bundeswehr hatte bereits unter Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) in den Jahren 2009 bis 2011 immer wieder militärisch am Hindukusch aufgerüstet. Zum Arsenal gehörten die „Panzerhaubitze 2000“, ein 55 Tonnen schweres fahrbares Artilleriegeschütz mit großer Feuerkraft, der 600 PS starke Schützenpanzer „Marder“, der es auf eine Spitzengeschwindigkeit von 65 Stundenkilometern brachte, das Kampffahrzeug „Eagle“ das speziell für Kriseneinsätze wie in Afghanistan zugeschnitten war und das bewaffnete Allzweck-Nutzfahrzeug Dingo, ein rund 8,8 Tonnen schwerer Transporter, der bis zu 100 Stundenkilometer schnell war und bevorzugt bei Patrouillenfahrten eingesetzt wurde. Daneben hatte die Bundeswehr noch zahlreiche weitere Spezialfahrzeuge im Einsatz, darunter den Transportpanzer Fuchs, den Späh- und Aufklärungspanzer Fennek und die gepanzerten Lastwagen Yak und Duro. Wie viele Waffen der Bundeswehr an die Hände der Taliban gefallen sind, ist bis dato aber unklar. Experten hingegen gehen davon aus, dass keine deutschen Waffen mehr am Hindukusch sind.

Vergleicht man das neue Waffenarsenal der Taliban mit dem Nato-verbündeten Estland, dann zeigt sich die ganze Überlegenheit der Islamisten. Während am Hindukusch 60.000 Kämpfer für das Scharia-System stehen, verfügt das estnische Militär gerade mal über 6.500 aktive Soldaten und 12.000 Reservisten. 785,7 Millionen USD lässt sich das Land seine Streitkräfte kosten.

Schon im Irak fielen viele Waffen des US-Militärs an den Islamischen Staat

Es ist aber nicht das erste Mal, dass Islamisten aus einem amerikanischen Truppenabzug profitieren. Als Mitte 2014 die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Stadt Mossul im Irak überrannte, fielen Waffen und Fahrzeuge, die von der US-Armee beschafft worden waren, in die Hände des IS. Seitdem stärkt und verbreitet der IS von dort sein selbsternanntes Kalifat.

Ob die Taliban ihr neues militärisches Arsenal dafür nutzen, international ihre Macht auszubauen, Terrorgruppen wie Al Qaida mit Waffen zu beliefern und den internationalen Kampf fundamentalistischer Scharia-Kämpfer weiter zu unterstützen, bleibt abzuwarten. Bislang regieren die Pragmatiker in Kabul, doch radikale Kampfgruppenführer der Taliban könnten das Land wieder zu einem radikal-fundamentalistischen Gottesstaat machen, wo die Menschen- und insbesondere die Frauenrechte nicht mehr geachtet werden, so es keine kritische Presse, keine Schulbildung für Mädchen, keine Musik und kein Fernsehen gibt. Wo aber Steinigungen auf der Tagesordnung standen.

Biedenkopf: Ich habe auch so lange wegen der Enkel gearbeitet

Stefan Groß-Lobkowicz13.08.2021Medien, Politik

Sachsens früherer Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ist tot. Der CDU-Politiker war nach der Wende nicht nur der richtige Mann am richtigen Fleck, sondern einer, den die Sachsen liebevoll „König Kurt“ nannten. Unermüdlich hatte er bis in den Lebensabend hart gearbeitet – auch für seine Enkel. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Wenn es so etwas wie einen Politiker gab, der Ost und West nach der Wende aussöhnte, war es der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf. Nach der Wiedervereinigung hatten die Ostdeutschen zwar das Gängelband von Unfreiheit und Repression verloren, aber diese Freiheit oft mit Arbeitslosigkeit und einer großen depressiven Stimmungslage erkauft.

Nach 40 Jahren Stasi und real existierendem Sozialismus war es der 1930 in Ludwigshafen am Rhein geborene Jurist, Hochschullehrer und CDU-Politiker Biedenkopf, der vielen Menschen nach der Wende wieder Halt und vor allem Vertrauen und einen zukunftsoffenen Blick geschenkt hatte. In der entscheidenden Zeit der innerpolitischen Transformation, wo mit der Treuhand viele Arbeitslätze verloren gingen, die Mehrzahl der planwirtschaftlich-geführten, maroden Betriebe des SED-Regimes Bankrott anmeldeten, war Biedenkopf als Ausnahmepolitiker der Mann der Stunde. Von 1990-2002 regierte er fürsorglich den wirtschaftlich angeschlagenen Freistaat – und das auch vor dem Hintergrund, weil er ein innerlich starkes Gespür und eine Nähe zu den Menschen hatte, die ihn väterlich „König Kurt“ nannten. Sozialisiert wurde der Mann, der ein Faible für Modelleisenbahnen hatte, später am Chiemsee lebte, leidenschaftlich segelte und bis ins hohe Alter hinein in seiner Rechtsanwaltskanzlei am Ferdinandplatz anzutreffen war, im sächsischen Vorkriegsdeutschland. In der Residenzstadt Merseburg verbrachte er einen Teil seiner Jugend, besuchte das dortige Gymnasium. Und noch vor Übergabe der Region an die Rote Armee wurde die Familie, sein Vater war technischer Direktor der Buna-Werke, von den Amerikanern nach Hessen evakuiert.

Bevor „König Kurt“ den Freistaat nach der Wende in eine fast blühende Landschaft verwandelte, studierte er Rechtswissenschaften. München, Frankfurt am Main und Washington, D.C. waren Stationen eines Wissenschaftlers, der nach Promotion und Habilitation von 1967 bis 1969 Rektor der Ruhr-Universität Bochum wurde. 1990 kam er nach Sachsen zurück, war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Sachsen wird fortan sein Leben bestimmen – und doch bleiben sie in der Elbmetropole Dresden lange Zeit Nomaden. Zuerst residierte das Ehepaar Ingrid und Kurt Biedenkopf in einem ehemaligen Gästehaus der Stasi und lebte quasi in einer Art Minister-WG. Eine Odyssee folgte und der letzte Umzug des Ehepaares war erst im April dieses Jahres.

Er wäre fast EU-Kommissionspräsident geworden

Politisch galt Biedenkopf in den 70er Jahren als enger Vertrauter des damaligen CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl. Bevor es zum Zerwürfnis mit dem späteren Altkanzler kam, war Biedenkopf von 1973-1977 Generalsekretär der CDU und von 1976 bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestag. Der politisch versierte Biedenkopf führte bis 1987 als Vorsitzender den CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen, legte den Posten aber zugunsten Norbert Blüms nieder. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1980 konnte er sich nicht gegen den damaligen Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau durchsetzen. 1984 wurde nicht Biedenkopf Präsident der Europäischen Kommission, sondern der französische Sozialist Jacques Delors. Ein Jahr vor der Wende hatte sich der politisch ambitionierte Hochschullehrer dann aus der Tagespolitik zurückgezogen, feierte aber nach zwei Jahren bei der sächsischen Landtagswahl ein überragendes Comeback. Am 14. Oktober 1990 holte er mit seiner CDU die absolute Mehrheit. 53,8 Prozent der Sachsen stimmten damals für den Mann, der seine Wurzeln in Osten des lang geteilten Deutschlands hatte. Die Bilanz von Biedenkopf in Sachsen ist mehr als eine Erfolgsgeschichte – bis heute regiert die CDU im Freistaat. Und das Biedenkopf dazu die Fundamente gelegt hat, steht außer Frage. Die Leistung, die der Politiker, der es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, seinem Land zu dienen, in der wiedervereinigten Republik erbrachte, lässt sich auch ob der Kritik an seinem Führungsstil und diverser Mietaffären nicht verleugnen.

Beim Atomausstieg folgte er nicht der Kanzlerin

Biedenkopf, der der CDU seine Karriere verdankte, ging nicht immer konform mit seiner Partei. 2011 forderte er zwei Tage vor der Abstimmung den Bundesrat auf, das Gesetz zum Atomausstieg abzulehnen. Buchstäblich zerpflückte er die Energiewende der Kanzlerin. Es sei ein politisches Abenteuer, „ohne Beteiligung der Partei einen neuen, angeblich alternativlosen und unumkehrbaren Weg einzuschlagen“ wetterte er 2011 und betonte das Merkels Energiewende „unbegreiflich“ sei. Damals hatte sich Biedenkopf auf die Seite des Bundespräsidenten Christian Wulff gestellt, der die Energiewende aus dem Kanzleramt harsch kritisierte. „Ich stimme mit dem Bundespräsidenten überein, dass es klug gewesen wäre, die Partei an diesem tiefgreifenden Kurswechsel zu beteiligen und sich für den neuen Weg deren Mandat zu sichern. Das gilt auch für die CSU. In Bayern werden 57 Prozent des Stroms durch Kernkraft erzeugt. Wie man nach dem Atomausstieg dieses Defizit aus eigener Kraft ausgleichen kann, muss intensiv diskutiert werden“, sagte Biedenkopf, der seit Januar 2011 eine Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung innehatte.

Biedenkopf plädiert für offene Grenzen und sieht in der Migration eine Chance

Insbesondere ein Satz des damaligen Ministerpräsidenten Biedenkopf kursierte während der Flüchtlingskrise 2015. Im Jahr 2000 attestierte der Landesvater, dass die Sachsen „immun“ gegen rechtsextremistische Tendenzen sein. Es war eine Art Persilschein, die Biedenkopf seinen Landeskindern ausstellte. Später hatte er sich revidiert und von der „Mehrheit der Sachsen“ gesprochen, denn ganz so rund lief es nach der Wende nie mit Rassenhass und Ausländerdiskriminierung im Freistaat.

Doch anstelle von Migrationsfeindlichkeit und Ausländerhass hatte Biedenkopf selbst immer versöhnlichere Töne angestimmt: Im vergangenen Jahr hatte er sich für offene Grenzen ausgesprochen. Die Entwicklung, dass Menschen Grenzen in beide Richtungen überschreiten, lässt sich nicht aufhalten. Biedenkopf betonte: „Ich halte insbesondere auf längere Sicht nichts von der Schließung von Grenzen. Wir müssen auch wegen der veränderten demografischen Entwicklung für Migration offen sein, wenn auch unter bestimmten Bedingungen.“ Im Gegensatz zu vielen seiner CDU-Kollegen hatte Biedenkopf schon früh den Klimakampf auf seine Agenda geschrieben und daher in den vergangenen Jahren keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Fridays for Future-Bewegung und die Klimaaktivistin Greta Thunberg „bemerkenswert“ findet.  Für den Wissenschaftler Biedenkopf, der mit dem Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel im Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft e.V. in Bonn war und der über die Leistungsfähigkeit europäischer Demokratien angesichts des demografischen Wandels forschte, birgt die Migration Chancen für das soziale Gefüge der deutschen Gesellschaft. „Die Zugewanderten und ihre Kinder bieten die Aussicht, das demografische Ungleichgewicht zwischen Jung und Alt längerfristig zu verringern“, betonte er 2016 und fügte hinzu: „Hier trifft sich unser langfristiges demografisches Interesse mit dem langfristigen ökonomischen Interesse der Flüchtlinge und ihrer Kinder.“ Der Jurist hatte die letzten Jahre Merkels Migrationskurs immer wieder unterstützt und zur schnellen Integration gemahnt. „Wir schaffen das, wenn wir uns alle gemeinsam anstrengen.“

Wir haben eine Verantwortung für unsere Enkel

Anstrengen, gemeinsam tragen – nicht aufgeben und kämpfen. Dafür steht letztendlich auch der gebürtige Pfälzer, der das vor der Wiedervereinigung wirtschaftliche blühende Industrieland Sachsen wieder auf Erfolgsspur geführt hat. Und auf die Frage, warum er bis ins hohe Alter so aktiv ist, schreibt er auf seiner Webseite: „In meinem Dresdner Arbeitszimmer hängt ein Foto. Es zeigt zwölf Erwachsene und zehn Kinder: meine Enkel und ihre Eltern. Fragen mich Besucher, warum ich fünfzehn Jahre nach dem üblichen Beginn des Rentnerlebens noch arbeite, der Hertie School of Governance in Berlin als Vorsitzender des Kuratoriums diene, Reden halte, Bücher schreibe und sonstigen Tätigkeiten nachgehe, dann deute ich auf das Foto: meiner Enkel wegen. Ich möchte nicht, dass sie eines Tages ihren Großvater in Haft nehmen für Entwicklungen, die sie unlösbaren Konflikten aussetzen, im eigenen Land und in Europa.“

Nun hat sich Kurt Biedenkopf verabschiedet, aber seine Enkel werden ihn mit Sicherheit nicht „in Haft“ nehmen.

Hubert Aiwanger lässt sich nicht verbiegen

Stefan Groß-Lobkowicz6.08.2021Medien, Politik

Der bundespolitische Wahlkampf plätschert vor sich hin. Wäre da nicht ein aufmüpfiger Niederbayer, der die ruhige See gewaltig in den Sturm peitscht. Hubert Aiwanger lässt sich nicht verbiegen und zeigt sich ungewöhnlich kampfesfreudig, wenn auch weiterhin impf-unwillig. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Hubert Aiwanger, bayerischer Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, spielt in Sachen Wahlkampf auf einer eigenwilligen Partitur. Während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mittlerweile als Inkarnation eines schwarzen Grünen Bäume umarmt, Bienenvölker beschützt und sich in Sachen Berliner Hauptstadtpolitik fast mit CDU-Chef und Kanzlerkandidat Armin Laschet ausgesöhnt hat, fährt sein Mit-Steuermann in Bayern einen anderen Kurs. Inmitten der Wogen einer hochgepeitschten See, wo die eine oder andere Welle an die Brandung schlägt, will Hubert Aiwanger eben nicht so wie das der CSU-Chef will. Der Eigenbrötler Aiwanger und der geschickt sich inszenierende, auf Harmonie und Versöhnung nunmehr bedachte Klimaretter Söder, passen irgendwie nicht zusammen. Fast nach dem Vorbild der US-amerikanischen Filmkomödie von Gene Saks aus dem Jahr 1968 mit dem Komiker-Duo Jack Lemmon und Walter Matthau, sind sie eines der ungleichesten Paare der Bundesrepublik.

Ganz bayerische Land- und Mundart

Hubert Aiwanger, Bundes- und bayerischer Landesvorsitzender der Freien Wähler, kommt aus dem beschaulichen Ergoldsbach im niederbayerischen Landkreis Landshut. Und Aiwanger verkörpert einerseits ganz die ländliche Idylle, andererseits auch den Eigensinn der ländlichen Bevölkerung. Aiwanger ist genaugenommen eine Mischung aus Cowboy und Oppositionellen, der mit seinem Niederbayrisch so ganz Kante, Aufruhr und Unverkennbarkeit in Personalunion verkörpert.

Aiwanger hat ihn, den kantigen Geist, das Gespür für das, was seine Wähler und seine Heimat wollen. Doch versprüht er dabei nicht den Charme eines Großintellektuellen, der gediegen formuliert, sondern Aiwanger prescht hervor, buchstäblich wie ein herzoffener Bauer, der gerade aus seinem Stall an die frei geschalteten Mikrofone der Öffentlichkeit tritt und seine Welt in klaren, nicht geschliffenen, aber irgendwie in liebenswürdigen und vor allem glaubhaften Worten erklärt.

Der CSU-Chef maßregelt ihn gern

Aiwanger, der aufgrund seiner burschikosen, aufmüpfigen und so gar nicht elegant daherkommenden Art eher wie ein polternder Güterzug daherkommt, während Söder im ICE beschaulich durch die Lande reist, hat Söder aber was voraus: Kampfeskraft, Rauflust und einen Tick von Widerstand, der den bayerischen Sturkopf in seinem oft ungeschickten Auftreten sympathisch macht – und die Söder einst auch auf sich vereinte. Während Aiwanger mit der ungestümen Art eher wie eine Walze daher rauscht, ist der geläuterte Söder so ganz moderat-sonorig und versprüht die Gediegenheit eines Landesvaters. Dass beide dabei nicht auf Augenhöhe spielen ist klar. Söder sieht in Aiwanger eher so etwas wie den kleinen Spielgefährten, den er mal väterlich umgreift, weil er sich „Sorgen um ihn macht“, meist aber im Oberlehrerton auf seinen Platz verweist. Aber gegen einen allesgewaltigen Steinbock Söder im Sternzeichen war der Wassermann Aiwanger lange eher ein Luftikus, den man wie einen Tennisball mal beliebig in die Höhe und dann wieder fallen lassen konnte. Doch während Söder Aiwanger oft maßregelt und ans Gängelband nimmt, ist der Niederbayer in den letzten Jahren im politischen Amt gewachsen, ja erwachsen geworden. Alles bieten lassen, tut er sich schon längst nicht mehr.

Aiwangers große politische Ambition – Sehnsuchtsort Berlin

Aiwanger hat Ambitionen, große sogar. Er will nach Berlin und das als Chef der Freien Wähler bundesweit. Im Gepäck hat er keine romantischen Ideen und Flunkereien mit den Grünen. Statt einen starken Bund setzt er auf mehr Föderalismus, statt Bundesnotbremse, rigiden Corona-Maßnahmen und einem instrumentellen Gebrauch von Vernunft in Form von Imperativen der Freiheit pocht er auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das im Artikel 2.2. des Grundgesetzes garantiert ist. Kritik prallt an Aiwanger derzeit wie ein warmer Sommerregen ab. Vielmehr begibt er sich in die Spiel- und Wahlkampfarena und das mit einer fast verblüffenden Siegessicherheit. „Traditionelle Werte finden ja in der CDU nicht mehr statt, sondern nur noch grüner Mainstream. Dazu bedarf es der Freien Wähler, um dies zu korrigieren,“ erklärte er im Interview mit „The European“.

Aiwanger macht jetzt den Söder 2015

Aiwanger bleibt – trotz aller Kritik – auf Krawall gebürstet. „Völlig egal, ob jetzt einer mehr oder weniger geimpft ist,“ raunte Aiwanger neulich in die Runde. Und dass er ein bekennender Impfverweigerer ist, wird ihm jetzt zum Problem. Zwar sind die Freien Wähler (FW) mittlerweile in drei Landtage eingezogen, auf Bundesebene stehen sie immerhin über drei Prozent, Tendenz steigend.

Söder, der 2015 inmitten der Flüchtlingskrise einen der damaligen Migrationspolitik der Bundesregierung kontrafaktischen Kurs fuhr und mit Parolen flunkerte, die manchen AfD-Wähler gut in Richtung CSU hätten stimmen können, ist jetzt so ganz Staatsmann, gediegen und der harte Mann in Sachen Corona. Das dieser Kurswechsel in Richtung grüne Anpassungsfähigkeit nicht alle in der alten Strauß-Partei lieb sein kann, steht auf einem anderen Blatt. Und das Aiwanger jetzt gegen die CSU opponiert und Impfunwillige zu den Freien Wählern ziehen will, passt wiederum dem starken Mann aus Franken nicht.

Bröckelt die bayerische Koalition?

Inmitten eines vor sich hin plätschernden Wahlkampfes macht Aiwanger eigene Politik. Und das nicht zur Freude des bayerischen Koalitionspartners CSU und der Freien Wähler. Der CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Thomas Kreuzer, der starke Mann aus Füssen, ist brüskiert, will gar die Koalition überdenken und forderte Aiwanger auf, seine Rolle als stellvertretender Ministerpräsident noch einmal zu prüfen. Aiwanger betreibe „billiges Kalkül“ für den Wahlkampf. „Er muss sich überlegen, ob er stellvertretender Ministerpräsident bleiben kann,“ heißt es aus dem Maximilianeum.

Doch Aiwanger bleibt eisern, ignoriert die Vorwürfe von Söder, aus der CSU und aus den eigenen Reihen. Vielmehr reagiert er „schockiert, dass Leute in führenden Positionen über eine Impfpflicht reden“ und setzt weiter darauf, sich selbst nicht impfen zu lassen: „Die Gesamtgefechtslage ist für mich noch nicht deutlich genug.“ Aiwanger pocht vielmehr darauf, Corona-Tests weiterhin als ebenbürtig zu Impfungen zu behandeln: „Wir müssen neben dem Impfen das Testen weiterhin als Maßnahme akzeptieren. Zu sagen, Impfen ist die einzige Lösung und Testen wäre plötzlich nicht mehr sicher genug, das trifft nicht ins Schwarze.“

Wirtschaftsminister will sich nicht impfen lassen

Aiwanger hat sich bislang nicht impfen lassen und sieht auch keinen Grund dazu. Schon gar nicht will er sich von der CSU unter Söder unter Druck setzen lassen. „Für mich wäre der Druck nur gerechtfertigt, wenn ein Geimpfter sagen könnte, der Ungeimpfte schadet mir unzumutbar.“ Und: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Apartheidsdiskussion kommen.“

Aus seinem privaten Umfeld habe er von Impfnebenwirkungen gehört, bei denen einem „die Spucke wegbleibe“. Überdies warnte er jüngst im Deutschlandfunk vor einer „Jagd“ auf Ungeimpfte. Die Bürger müssten „ohne Druck” und mit Fakten überzeugt werden. Bisher seien sie „teilweise nicht zu Unrecht verunsichert“.

Aiwanger schießt gegen die Grünen – Die machen „Mobbing gegen Männer“

Doch nicht nur in Sachen Impfverweigerung zieht der Ergoldsbacher einen Streifen am Horizont, der bei einer immerhin denkbaren schwarz-grünen Koalition, auf Missbehagen im politischen Berlin stößt. Den Grünen wirft er glattweg „Mobbing gegen Männer“ vor, ihre Gleichstellungspolitik sei selber diskriminierend. Und er fügte hinzu: Die Grünen sind zu einer Partei der Intoleranz geworden. „Bei denen muss man sich schon dafür entschuldigen, ein Mann zu sein.“ Und mehr noch: „Fleischessen verteufeln, kein Autofahren, Klima, Klima, Klima. Wir brauchen jedoch pragmatische Lösungen statt schlechtem Gewissen und Zukunftsangst.“ Auch gegen die Frauenquote poltert er und schlägt eine familiengezielte Förderung vor. Den Begriff „alte weiße Männer“ kolportiert er und bezeichnete diesen als „Rassismus in Reinform“.

Der Basta-Hubert

Während Armin Laschet im Schlafwagen nach Berlin rollt, der aber an immer mehr Baustellen halten muss, um überschwemmte Bahnstrecken und reparieren, und während Annalena Baerbock mit Schummeleien dennoch Punkte im Wahlkampf sammelt, ist Hubert Aiwanger derzeit einer, der Kante zeigt. Er will sich halt nicht impfen lassen – und Basta. Damit ist der Niederbayer im Konzert der Angepassten eine erfrischende Ausnahme, dessen Wesen es ist, „auch mal gegen den Strom zu schwimmen“ und Berlin so richtig aufzumischen.

Aiwanger bleibt Skeptiker

Eigentlich ist Aiwanger so etwas wie der junge Söder. Rebell, Aufrührer, Unangepasster, der irgendwie noch nicht zum Establishment gehört. Jetzt wirft ihm ausgerechnet Söder vor, dass er mit seinen Äußerungen am rechten Rand fischt. „Wer glaubt, sich bei rechten Gruppen und Querdenkern anbiedern zu können, verlässt die bürgerliche Mitte und nimmt am Ende selbst Schaden. Wer meint, in einem solchen Becken fischen zu können, der riskiert, darin zu ertrinken.“ Der Vorwurf, er sei ein Querdenker, der im leisen Ton die impfkritischen Parolen der AfD in den Wahlkampf schmeißt, ist ein Argument, das so nicht verfängt. Aiwanger ist vielmehr ein Naturbursche und so sozialisiert – und die setzen bekanntlich auf die Selbstheilungs- und Immunisierungskräfte der allgewaltigen Natur. Und aus Tradition ist Aiwanger in Sachen Impfen eher ein Skeptiker. Damit steht er letztendlich dann doch als Intellektueller – samt sprachlicher Hausmannskost – in einer großen Tradition. Die skeptische Sicht auf das Faktum ist eine ehrenwerte philosophische Denktradition, die alles erst einmal kritisch prüft, um dann möglichweise zuzustimmen. Von Xenophanes (567/2 bis ca. 480 vor Christus) über David Hume bis zu Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel reicht diese Tradition. Und Aiwanger, immerhin ein Mini-Philosoph, ist in Sachen Impfung bislang noch auf dem Pfad des Skeptikers. Sollten allerdings die Prämissen stimmen, wird auch er sich impfen lassen. Bis dahin aber macht er Opposition – und das ist die Einzige, die wir im ermüdenden Bundeswahlkampf haben. Dank Aiwanger führt zumindest der südliche Teil der Bundesrepublik so etwas wie einen Mini-Wahlkampf und das ausgerechnet in Bayern, wo Markus Söder den rigiden Hardliner in Sachen Impfung gibt. Dass das nicht in das Bild einer straken und unantastbaren CSU passt, ist klar. Aiwanger interessiert das nicht, der ist fast schon in Berlin. Seine Kritiker jedoch sehen das eher skeptisch.

Wissenschaftler: Corona wird nicht die letzte Pandemie in naher Zukunft sein

Stefan Groß-Lobkowicz4.08.2021Medien, Wissenschaft

„The European“ sprach mit dem Geschäftsführer Forschung & Entwicklung der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Jochen Maas, über Corona und über das pandemische Zeitalter. Wie der Wissenschaftler betonte, wird es nicht die letzte Pandemie sein.

Herr Professor Maas: Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter mit der Pandemie?

Wir werden die Pandemie mit Impfungen in den Griff bekommen. Ich glaube aber auch, dass wir wieder einen gleichen Anstieg der Inzidenzen bei Ungeimpften wie im vergangenen Herbst sehen werden. Dieser wird sicherlich im Oktober und November kommen, weil das Virus auch eine saisonale Prozessualität hat. Aber ich bin sicher, dass wir im Bereich Hospitalisierung und Todesfälle wahrscheinlich nicht mehr die Zahlen bekommen, die wir schon erreicht hatten. Dies liegt einfach daran, dass sich mittlerweile viele Menschen geimpft haben und damit auch zu über 90 Prozent vor schweren Krankheitsverläufen geschützt sind. Die Menschen werden seltener krank und stecken zu einem deutlich geringeren Maße andere an. Dieser Erfolg hängt aber davon ab, ob wir die Impfquote weiter erhöhen und die Impfskeptiker überzeugen. Und vor allem sollten wir die Jugendlichen einschließen. Nur so  kommen wir letztendlich auf die 80 bis 85 Prozent Impfquote. Vielleicht haben wir dann die Pandemie womöglich besiegt.

Woran liegt es, dass sich viele Menschen nicht impfen lassen wollen. Ist das ein politisches, ein wissenschaftliches oder gesellschaftliches Problem?

Von der Wissenschaft gesehen, gibt es keinen Grund an Impfungen zu zweifeln. Wenn man die ganzen Infektionskrankheiten betrachtet, vor allem die viralen, so hatte diese die Wissenschaft fast alle über Impfungen in den Griff bekommen. Das fängt bei Polio, Pocken und Hepatitis an und geht bis Covid-19. Es ist eher ein gesellschaftspolitischer Grund oder ein Umstandsphänomen nicht zum Impfen zu gehen. So haben wir beispielsweise in Afrika deutlich höhere Impfquoten als in Deutschland und Frankreich.

Leben wir in einem pandemischen Zeitalter? Was sind die Ursachen dafür?

Wir hatten in der Vergangenheit signifikante Pandemien wie die Spanische Grippe 1917/1918. Aber auch im letzten Jahrhundert gab es immer wieder viele virale Erkrankungen, die auf den Menschen übersprungen gesprungen sind, die aber fast immer Epidemien geblieben sind, also lokal wie Ebola und Hantavirus begrenzt waren. Mit Sars-Corv-2 haben wir nunmehr eine weltweite Pandemie. Und diese wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Vielleicht wird die nächste erst 2026 kommen, vielleicht aber auch schon früher. Dass jetzt Pandemien verstärkt auftreten, hat seine Gründe: Einer der wichtigsten dürfte der sein, dass wir immer weiter in unerforschte und unberührte Gebiete vordringen. In diesen Gebieten gibt es Kreisläufe, wo sich ein Virus und ein Wirt aufeinander angepasst und miteinander verzahnt haben. Das klassische Beispiel ist Covid-19 und die Fledermaus. Wenn wir immer weiter in diese Gebiete mit unseren Rindern und Schweinen vordringen, kann es immer öfters passieren, dass solche Viren Grenzen überschreiten und von der Fledermaus auf Haustiere und den Menschen überspringen. Mit Blick auf diese Möglichkeiten bleibt die Vorbereitung das A und O. Was wir dazu brauchen, sind Gentechnik zur Herstellung neuer Impfstoffe und vernünftige Digitalsysteme, um letztendlich Infektionsketten nachverfolgen zu können. Und wir benötigen Schutzausrüstungen, die tatsächlich in großer Stückzahl vorhanden sein müssen.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) prüft gerade einen Impfstoff von Sanofi. Wie hoch ist die Wirksamkeit?

Wir haben in der Phase zwei mit nur 670 Probanden eine Wirksamkeit zwischen 95 und 100 Prozent gesehen. Das macht mich sehr zuversichtlich für die Phase 3, die derzeit mit 35.000 Probanden läuft. Ich rechne mit einer ähnlichen Wirksamkeit in der Größenordnung von BioNTech.

Was würden Sie den Impfgegnern entgegenhalten. Was kann man dieser Gruppe, die derzeit in Berlin sehr aktiv gegen die Corona-Politik  der Bundesregierung protestiert und die ihre Anhänger quer durch alle Gesellschaftsschichten rekrutiert, entgegenhalten?

Die Impfgegner müssen drei Dinge im Kopf haben: Sie tun sich selber nichts Gutes, wenn sie sich nicht impfen lassen. Aber eigentlich handeln sie, um es hart zusagen, asozial. Zum Dritten sind sie mit verantwortlich, wenn das Virus sich verändert und wenn wir es nicht schaffen, die Virusausbreitung einzudämmen. Es gibt also drei Gründe, sich impfen zu lassen: a. der egoistische, man tut was Gutes für sich selbst, b. der soziale, man tut etwas Gutes für die anderen, und c. der wissenschaftliche: man verhindert die weitere Ausbreitung des Virus.

Sanofi ist ein Riesenkonzern mit über 100.000 Mitarbeitern. Welche Medikamente sind in ihrem Portfolio?

Das wichtigste Medikament, was wir gerade haben, ist Dupixent. Der Wirkstoff von Dupixent ist Dupilumab. Dupilumab ist ein monoklonaler Antikörper, der als Medikament zur Behandlung der atopischen Dermatitis angewendet wird. Wie haben aber auch nach wie vor unsere Insuline wie „Lispro“, die weltweit bekannt sind. Das sind unserer Blockbuster und sie werden es bleiben, weil es immer mehr Diabetiker weltweit gibt. Wir haben nach wie vor unsere Mittel gegen die Multiple Sklerose und unsere Impfstoffe gegen alle möglichen Viruserkrankungen sowie einen neuen Grippe-Impfstoff für Menschen über 60. Was uns auszeichnet, sind viele Medikamente gegen seltene Erkrankungen. Diese Erkrankungen sind oft außerhalb des Interesses anderer Pharmafirmen. Wir machen viel „Morbus Pompe“ für die Enzymersatztherapie und „Morbus Gaucher“ gegen Stoffwechselerkrankungen. Wir sind daher nicht unilateral aufgestellt.

Die Welt ist sehr differenziert in arm und reich. In vielen Teilen fehlen Medikamente. Was macht man von Seiten der Pharmaindustrie dagegen?

Was wir schon lange machen, sind Aids-Medikamente in Ländern, die besonders stark betroffen sind, zu ganz anderen Preisen abzugeben, als in Amerika oder Europa. Oft sogar zum Selbstkostenpreis. Auch bei Corona bleibt uns nichts anderes übrig, als alle vorhandenen Produktionskapazitäten zu 100 Prozent auszunutzen, um so schnell wie möglich 20 Milliarden Dosen Impfstoff produzieren zu können. Auch für künftige Pandemien wird es nötig sein, dass wir Industrien in diesen Ländern aufbauen. Sanofi hat bereits 30 Produktionsstätten in tropischen Ländern. Das ist gut. Aber was wir aber noch mehr brauchen, wäre ein Technologietransfer vor allem in diese Länder. Die Industrie ist auch bereit dazu. oft mangelt das Investment in diese Regionen aber an der  gewisse Investitionssicherheit. Wenn es Länder gibt, wo jedes Jahr das Regime wechselt und die Regierungen von Korruption zerfressen sind, wird es für uns schwer, dort zu investieren und dort Produktion hinzubringen. Aber trotz dieser Schwierigkeiten, glaube ich, dass die Industrie auf dem guten Weg ist.

Fragen: Stefan Groß

Der Baerbock-Jäger Weber: Die Grünen kennen keine Streitkultur

Stefan Groß-Lobkowicz1.08.2021Medien, Politik

Kaum hatte der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber sowohl Ungereimtheiten in der Vita von Annalena Baerbock als auch über 50 Plagiate in ihrem neuen Buch „Jetzt“ festgestellt, wurde er als „Rufmörder!“, „Frauenverfolger!“, „Rechtsaußen-Sympathisant!“ stigmatisiert. Wer ist eigentlich dieser Mann, den die die großen Medien für seine Arbeit kompromittieren? Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Sein Name ist mittlerweile in aller Munde. Stefan Weber ist in. Von den einen ob seiner exakten Arbeit verehrt, all denen ein Dorn im Auge, die allzu schnell die Copy and Paste-Taste drücken und fremdes Gedankengut als ihr eigenen Ausgeben. Ob Prominente wie Karl Theodor von und zu Guttenberg, die Vatikan-Botschafterin und ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan, die FDP-Politiker Jorgo Chatzimarkakis und Silvana Koch-Mehrin oder zuletzt SPD-Familienministerin Franziska Giffey – sie alle haben bewusst getäuscht und damit nicht nur die Wahrheit beschädigt, sondern auch den akademischen Titeln keinen Gefallen getan. Eine Promotion bleibt eine qualitativ wie quantitativ aufwendige Lebensleistung, die zumindest eines garantieren sollte: wissenschaftliche Glaubwürdigkeit, Ehrfurcht vor der Forschung und eigenständiges Denken.

Stefan Weber ist so etwas wie ein Perlentaucher. Nur was der 1970 geborene Kommunikationswissenschaftler, Publizist und Plagiatsgutachter meist findet, sind nicht Edelsteine, sondern Verschleierungen und Nebelkerzen. 1996 selbst zum Dr. phil. promoviert und am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien 2005 habilitiert, hatte er mehrere Lehraufträge im In- und Ausland inne. Doch so richtig zum Plagiatsjäger machte ihn buchstäblich das Abkupfern der eigenen Dissertation. Ausgerechnet ein Informatiker und Theologe der Universität Tübingen hatte weitgehend wörtlich aus Webers Dissertation von 1996 Passagen übernommen. Wenn es so etwas wie eine Initialzündung bei dem ebenfalls als Journalisten und Publizisten abreitenden Weber gab, war es dieses unerquickliche Plagiat. Daraufhin wurde der Wissenschaftler, der immer wieder kritisiert, dass die heutige Studentengeneration eine mangelnde Studierfähigkeit, auszeichne, zum Jäger, zum akribischen Detektiv mit dem feinsinnigen Gespür für das geschriebene und nicht gekennzeichnete Unrecht. Publikationen mit den klingenden Titeln wie: „Die Dualisierung des Erkennens. Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie“, „Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung“, „Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden“ oder „Die Medialisierungsfalle. Kritik des digitalen Zeitgeists“ stammen aus seiner Feder. Ein produktiver Geist – der Österreicher.

Etablierter Plagiatsjäger quer durch alle Parteien

Seit über zehn Jahren publiziert und kommentiert er in seinem Blog für wissenschaftliche Redlichkeit Plagiatsfälle, bietet kostenpflichtige „Lebenslauf-Screenings“ und „Plagiat-Checks“ an. Er begreift es als eine wissenschaftliche Verpflichtung, Täuschungen offenzulegen – da macht auch eine Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock keine Ausnahme. So war es Weber, der die Schummeleien bei Vita und Studienabschlüssen der Grünen-Politikerin als erster offenlegte.  Ohne die akribische Leistung hätte Baerbock ihren Siegeszug ins Kanzleramt fortsetzen können. Doch Weber machte der im Frühling noch aussichtsreichen Kandidatin einen Strich durch die Rechnung – und wie er ausdrücklich betonte, ohne politisches Interesse oder eine Kampagne gegen die Partei zu fahren. Seitdem gilt er nicht nur in grünen Kreisen als Persona non grata, auch Teile der deutschen Presse haben ihn auf dem Kicker und wollen ihn abschießen.

In Österreich ist Weber hingegen kein Unbekannter. Dort stöberte der gebürtige Salzburger quer durch alle politischen Lager hinweg und entzauberte ganze Generationen mit Plagiatsvorwürfen. Ob Johannes Hahn (ÖVP), Grünen-Politiker Peter Pilz, ÖVP-Landesrat Christian Buchmann, SPÖ-Politiker Thomas Drozda – sie alle hat Weber quasi durchleuchtet. Ex-Ministerin Christine Aschbacher und zuletzt Peter Weidinger (beide ÖVP) wies er Ungereimtheiten oder „wiederholt geschickte Täuschung“ in ihren Diplomarbeiten nach. Viele von ihnen haben die Vorwürfe politisch nicht überlebt

Aber auch Institutionen standen im Visier des Jägers, sei es der Afghanistan-Gerichtsgutachter Österreichs wegen mangelnder Wissenschaftlichkeit oder das Bundesinstitut für Risikobewertung „wegen seines Beitrags zum Wiederzulassungsbericht für Glyphosat in Europa“. Diesen Auftrag hatte der Plagiatsjäger sogar von der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament erhalten. Auch den Endbericht der Historikerkommission der FPÖ bezichtigte er 2019 als Plagiat.

Dass er sich mit seinen Plagiatsvorwürfen wenig Freunde macht, ist klar. Es ist ein undankbarer Job, eine Gratwanderung auf den Klippen, der Fall in die Tiefe und Einsamkeit vielleicht ein hoher Preis. Doch Weber macht weiter – Passion, Leidenschaft? Eher Wahrheitssucher a priori. Er weiß, er sitzt immer irgendwie zwischen den Stühlen. Ist er zu nachgiebig, rettet er möglicherweise Personen und Leben, aber verrät damit zugleich seine wissenschaftlichen Ideale. Aber er hat eine Mission und diese bleibt die Ehrlichkeit des Textes“ Daran will er nicht rütteln. Und wie Weber betont, sollte seine Arbeit honoriert werden und nicht mit Pauschalurteilen kritisiert und seine Arbeit als Wissenschaftler diskreditiert werden.

Die Grünen reagieren nicht wie eine Fortschrittspartei, sondern wie ein alter Parteiapparat

Im Fall, wie die Grünen und ihre Presseabteilungen mit den Plagiatsvorwürfen umgehen, sieht Weber das größte Problem des freiheitlichen Diskurses. Anstelle von Diskursfähigkeit reagierte man mit einer inbrünstigen Angriffslust und einer Diffamierungskampagne gegen die Arbeit des Plagiatssuchers. Anstatt Fehler bei der Kanzlerkandidatin selbst einzuräumen wurde Weber selbst mit eingeschliffenen Stereotypen bombardiert, ein regelrechter Kreuzzug gegen den Österreicher eingeläutet. Weber spricht von einer Arroganz der Macht, die nichts mit Kritik anzufangen weiß. Dialogunfähigkeit einerseits und Vokabeln wie „bösartig“, „Rufmord“, „falsche Anschuldigungen“ und „Desinformationskampagne“ andererseits stehen statt Selbstkritik im Raum. Damit ist für den Wissenschaftler klar: Die Grünen reagieren „nicht wie eine Fortschrittspartei (…), sondern sie „schossen zurück“, eher wie ein steifer, alter, beleidigter Parteiapparat.“ Auch gegen Vorwürfe, dass er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit den Feminismus attackiere, weist er zurück. „Wenn Feminismus heißt, einer Frau den Vortritt zu lassen, nur weil sie eine Frau ist und die Frau gleichzeitig weniger qualifiziert ist als der Mann, so ist das kein Feminismus, sondern nur ein Echo jener Männergesellschaft, die dieser falsch verstandene Feminismus bekämpfen will“, schrieb Weber in der „Die Presse.“ Und er fügt hinzu: „Warum wurde das „Frauenstatut“ offenbar zum Dogma?“

Wer Grüner ist, hat schon einen Vorteil

Weber ging es nicht um eine Negativ-Kampagne „gegen eine Frau, weil sie Frau ist“, sondern dagegen, dass Baerbock vom „Der Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“ quasi als Säulenheilige verehrt wird, die für unantastbar erklärt wird, nur weil sie eine Grüne ist und linke und ökologische Ideale teilt, die in das ideologische Programm dieser Leitmedien passen. Was Weber stört, ist die ganz bewusste Inszenierung, die eine Kandidatin dann medial aufbauschen und jegliche kritische Recherche ausblenden. Es geht, so der Vorwurf, um einen idealisierten Kandidaten, wo es keine Rolle spielt, ob in ihrem Buch über 50 Textstellen geklaut wurden, wo es egal scheint, dass große Erklärungsnöte in Sachen Nebeneinkünften und einem unabgeschlossenen Promotionsstipendium gibt.

Daraus zieht Weber den Schluss: Wer als unabhängiger Wissenschaftler mediale Ikonen aus dem links-grünen Lager einer kritisch-objektiven Prüfung unterzieht, wird verdächtigt und angeprangert. Im Falle des habilitierten Wissenschaftlers ging das soweit, dass man ihn gleich auf die Seite der Verschwörungstheoretiker geschlagen hatte. Vorwürfe, dass er aus dem rechten Lager stamme, mit den Russen sympathisiere und ein „von der SPD finanzierter Troll“ sei, waren dabei mit inklusive.

Ein Teil der Massenmedien verbreitet selbst Verschwörungstheorien

Mit ihrer Kampagne pro Baerbock contra Weber haben „Der Spiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“, wie der Plagiatsjäger betonte, eines gezeigt: Sie verbreiten selbst Verschwörungstheorien. Und das ist neu. Waren früher Blogger, das Internet und die Sozialen Medien als Teil der kritischen Öffentlichkeit oft im Generalverdacht gegen die offene Gesellschaft anzuschreiben, zeigt sich nun das Gegenteil. Genau in dieser Wahrheitsverschiebung sieht Weber ein Problem für den Journalismus, für den er wieder mehr kritische Distanz und vor allem ein deutliches liberaleres Herangehen fordert. „Eigentlich sollten auch Massenmedien aus dem Fall Baerbock lernen, dass sie Beschreibungen kritisch hinterfragen müssen, bevor sie jemanden über den grünen Klee loben und hochschreiben. Die Enttarnung von Blendern wäre eigentlich Aufgabe der ‚vierten Gewalt‘. Sie hat im Fall Baerbock nicht nur versagt, sie hat sogar eine Gegen- und Scheinwirklichkeit konstruiert“, so Weber in der „Die Presse“.

„Den Kampf um die Ehrlichkeit glauben mir häufig jene nicht, die selbst unehrlich sind“, schreibt Weber. Diese Aussage gilt für den Plagiatsforscher unabhängig von Person und Partei. Wissenschaftliche Arbeit, und sei es das Erforschen von Plagiaten, darf nicht unter das politische Kuratel fallen, einer politischen Korrektheit geopfert werden, sondern gehört als ein Procedere der Wahrheitssuche und -findung zutiefst zum akademischen Diskurs. Damit es aber im Worst Case dazu gar nicht kommt, schlägt Weber einen „Ehrenkodex von politischen Parteien“ vor, „wonach sich Kandidaten zu ausnahmslos wahrheitsgetreuen Angaben in Lebensläufen verpflichten, ihre Nebeneinkünfte transparent machen und ihre akademischen Abschlüsse und Schriften offenlegen.“ Sollte dies dennoch nicht der Fall sein, muss die Wissenschaft Unrecht aufdecken. Das bleibt ihre Aufgabe im Dienst der freiheitlich-liberalen Werteordnung und letztendlich auch für das Staatswohl. Schummeleien zu kaschieren und schön zu reden, darf nicht zum Standard eines Journalismus werden, dem grüne Themen und Klimaschutz wichtiger als die Wahrheit sind.

„Blaue Moschee“: Hamburger Islamisten verklagen Verfassungsschutz

Stefan Groß-Lobkowicz1.08.2021Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Das „Islamische Zentrum Hamburg“ steht unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Doch das mögen die Verfassungsfeinde nicht. Jetzt nutzen sie die Mittel des Rechtsstaates, um sich der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu entziehen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Äußerlich ist sie Blaue Moschee an der Außenalster ein Juwel- Zeichen sakraler Baukunst und ästhetischem Esprit. Die Adresse ist renommiert, gleich gegenüber dem Ruderclub thront die Iman-Ali Moschee in der Straße mit dem klangvollen Namen „Schöne Aussicht.“ Zu Beginn der Sechzigerjahre wurde die Imam-Ali-Moschee alias Blaue Moschee in Hamburg gebaut. Finanziert hatten sie damals iranische Geschäftsleute aus der Hansestadt.

Draußen wirbt man im Schaufenster mit einem Plakat „60 Jahre Dialog und Freundschaft“. Offiziell steht das „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH), das seinen Sitz in der Moschee hat, für Dialog und Freundschaft – doch das ist alles Fassade. Denn was sich hinter den Mauern des Gotteshauses abspielt, wo sich bis zu 1500 schiitische Moslems zum Gebet versammeln, ist nicht ganz so demokratisch. In Hamburg regiert das Mullah-Regime kräftig mit und fährt einen rigiden antiwestlichen und islamistischen Kurs.

Seit Jahren unter Beobachtung des Verfassungsschutzes

Seit Jahren bereits gilt das IZH als langer Arm der Ayatollahs im Iran. Und der Verfassungsschutz schaut genau hin, was sich um und in der Blauen Moschee abspielt. Lange bemühte man sich von Seiten der Moschee um ein liberales Image, betonte die Unabhängigkeit. Doch neueste Erkenntnisse des Verfassungsschutzamtes in Hamburg weisen eindeutig darauf hin, dass die „Imam Ali“- Moschee weiterhin eine Repräsentanz des iranischen Gottesstaates ist. Und schlimmer noch: Man pflegt dort auch noch Kontakte zur Terrororganisation Hisbollah. Seit der sogenannten „islamischen Revolution“, damals initiiert von Ayatollah Ruhollah Musawi Khomeini, versucht der Iran durch das IZH sowohl religiösen als auch politischen Einfluss auf die in Deutschland wohnenden Schiiten zu nehmen. Das zuständige Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) nennt die Einrichtung daher auch einen ideologischen, organisatorischen und personellen Außenposten Teherans.

Schon im Jahr 1993 war die Blaue Moschee im Verfassungsschutz-Bericht aufgetaucht, bereits damals verfestigten sich Spuren in den Iran. Und trotz der Vorwürfe der Fahnder ist sie bis heute Teil der Islam-Verträge zwischen der Stadt und der Schura (Rat der islamischen Gemeinden). Versuche, den Ausschluss des IZH durchzusetzen, schlugen bis jetzt fehl.

Mitte Juli 2021 hatten sich die Verfassungsschützer in ihrem Bericht zu einem offiziellen Schreiben der iranischen Staatsführung an IZH-Leiter Mohammad Hadi Mofatteh geäußert. Dabei wurde deutlich: Mofatteh ist als offizieller Stellvertreter des Khomeini-Nachfolgers Ajatollah Chamenei anzusehen, der als geistliches und politisches Oberhaupt des Iran fungiert. Auch der stellvertretende IZH-Leiter des Zentrums, Seyed Mousavifar, so machen Fotoaufnahmen deutlich, redet von einem Rednerpult, das mit der Fahne des verbotenen Hisbollah-Vereins „Menschen für Menschen“ geschmückt ist. Doch die Hisbollah, die „Partei Gottes“ ist seit April 2020 in der Bundesrepublik verboten. „Dabei besteht das besondere Gewicht des IZH als verfassungsfeindliche Bestrebung darin, dass sie nicht offen erkennbar islamistisch auftritt“, heißt es in einem am 16. Juli erschienenen Bericht des LfV. Nach Außen geben sich die eingeschworenen Gotteskrieger als interkulturelle und interreligiöse Begegnungsstätte, um als Gesprächspartner in Politik, Kultur und Gesellschaft akzeptiert zu werden.

Die Vize-Chefin der Hamburger Verfassungsschützer Anja Domres betont die unseriösen und demokratiefeindlichen Strukturen der Islamisten: „Das IZH ist nach wie vor der verlängerte Arm des Teheraner Regimes in Deutschland und Europa. Zudem stellen wir persönliche und ideologische Beziehungen zur Terrororganisation Hizb Allah fest.“ „Die ‘Blaue Moschee’ ist keine harmlose religiöse Einrichtung, sondern repräsentiert einen antiwestlichen und islamistischen Kurs.“

Islamisten wollen Verfassungsschutz verklagen

Die Arbeit der Verfassungsschützer ist Mohammad Hadi Mofatteh und Co natürlich ein Dorn im Auge. Man will nicht beobachtet und ausspioniert sein, während man Terrorgruppen unterstützt und den Islamismus gegen die Demokratie weiter stärkt.

Mohammad Mofatteh, der das IZH seit 2019 leitet und den Ehrentitel „Hojjatulislam“, wörtlich übersetzt: „Beweis des Islam“, will den Bundesverfassungsschutz verklagen. Unter dem Aktenzeichen 17 K 5081/20 läuft seit 9. Dezember 2020 ein Verfahren am Verwaltungsgericht. Gegenstand der Klage sind „verschiedene Einzelaussagen des Verfassungsschutzes über das IZH und die Einstufung als Verdachtsfall“, so das Verwaltungsgericht. Wann jedoch eine endgültige Entscheidung im Gerichtsverfahren erwartet werden kann, könne das Verwaltungsgericht zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch nicht einschätzen.

IZH-Chef ist ein radikaler Islamist

IZH-Chef Muhammad Mofatteh gilt als radikaler Islamist, er war Mitglied der radikalen „Revolutionsgarden“. Und als „Vertreter des Obersten Führers (Religionsführer Ayatollah Ali Chamenei) ist der Leiter des „Islamischen Zentrums Hamburg“ von Teheran abhängig und muss die Anweisungen von dort direkt befolgen; er ist „berichtspflichtig“. Als Weisungsempfänger vermag Mofatteh nur sehr eingeschränkt eigenständig zu agieren. Zudem erhält der 55-Jährige Mofatteh vertrauliche Briefe von Groß-Ayatolla Makarem Schirazi, der in Verfassungsschutzkreisen als Holocaust-Leugner gilt. Weisungsbedingt und „berichtspflichtig“ macht der radikale Moslem fast alles, um den Herzenswünschen aus Nah-Ost zu entsprechen. Das IZH Bücher bringt Bücher wie Ruhollah Chomeinis „Der Islamische Staat“ heraus, das staatliches Handeln der Scharia unterwirft. Passagen sprechen von rigiden Strafen gegen jedwede Kritiker des Regimes. Es geht um Steinigungen und Peitschenhiebe – auch gegen Homosexuelle, die nach wie vor im Iran hingerichtet werden. Das man in der Blauen Moschee nichts von westlichen Werten und dem amerikanischen Way of Life hält, gehört zu den Grundfesten der Fundamentalisten.

Dass Mofatteh aus Teheran hofiert und ausgestattet wird, liegt im politischen-religiösen Selbstverständnis des Iran begründet. Teheran versteht sich immerhin als die große Schutz- und Führungsmacht der 160 bis 210 Millionen Schiiten weltweit. Und das Regime weiß wie man systematisch kulturelle und religiöse Einrichtungen dazu missbrauchen kann, um Glaubensansichten und die Ideologie der Islamischen Republik zu verbreiten. Schließlich war es Revolutionsführer Ruhollah Chomeini selbst, der das Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten (Velajat-e Faqih) entwickelte, dass die höchste Staatsgewalt in die Hand der Kleriker legt und deren Herrschaftsanspruch aus dem Islam ableitet. Genau nach dieser Handlungsanweisung verfährt das IZH und zeigt sich in dieser Funktion zugleich als „ein bedeutendes Propagandazentrum“.

Politiker fordern: Keinen Nährboden in Deutschland für Israel-Hetze

Inmitten der liberalen Demokratie, in Deutschlands weltoffener Hansestadt, kann Chamenei fast mit freier Hand diktieren und seine ideologische Ausrichtung im Westen manifestieren. Ausgerechnet in der Bundesrepublik entsteht so der Nährboden für Israel- und Anti-Amerika-Hetze.

Das nun ausgerechnet der islamische Gottesstaat gegen die liberale Demokratie auf dem Rechtsweg schreitet, kommt einer verkehrten Welt gleich. Das sieht auch der innenpolitische Sprecher der CDU, Dennis Gladiator, so „Grotesk: Verfassungsfeinde nutzen Mittel des Rechtsstaats, um sich der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu entziehen. Das IZH ist klar als verfassungsfeindlich eingestuft, da benötigt es keine weitere Interpretation. Die CDU-Fraktion fordert die sofortige Aussetzung der Islamverträge mit der Stadt Hamburg. Radikale Verfassungsfeinde passen nicht in unser weltoffenes Hamburg.“ Doch nicht nur in der CDU greift der Unmut, auch die FDP-Abgeordnete Anna von Treuenfels versteht das Vorgehen des IZH als eine Dreistigkeit, die ihresgleichen sucht: „Klagerechte stehen in Deutschland jedem zu, aber was das IZH hier treibt, ist dreist. Ich hoffe auf ein kluges Urteil.“ Zusammen mit der CDU hatte die AfD im Hamburger Senat wegen einer antisemitischen Demo im Juni, den Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden auszusetzen versucht. Vergebens. Damals sprach der islamische Rat Schura von „islamophober Hetze“. Und IZH-Imam Mofatteh erklärte im Juli in einer Stellungnahme, dass die neuen Erkenntnisse des Verfassungsschutzes unsachlich und unwahr sein. Sein Zentrum habe niemals „staatspolitische Ziele verfolgt“.

Interview mit Frank Walthes: Unsere Kundengelder setzen wir auf energieeffiziente Infrastrukturanlagen

Stefan Groß-Lobkowicz28.07.2021Medien, Wirtschaft

The European traf den Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskammer Bayern zum Interview. Wie Frank Walthes gegenüber dem Debattenmagazin betonte, können die Versicherer die Folgen des Klimawandels nicht beherrschen. „Aber wir können dafür sorgen, dass die finanziellen Folgen, die solche Ereignisse für den Einzelnen oft nach sich ziehen, für ihn überschaubar bleiben.”

  1. Was sind die größten Herausforderungen der Pandemie für Versicherer und Versicherte?

Für uns als Versicherer sehe ich, so überraschend das klingen mag, nach der Pandemie mehr Chancen als Problemlöser für die bestehenden Herausforderungen. Oder anders gesagt, die Pandemie war für uns in vielen Bereichen ein Beschleuniger für die Bewältigung bestehender und neuer Herausforderungen. Etwa in der Digitalisierung, oder im Hinblick auf die Etablierung neuer Arbeitswelten. Während wir die einzelnen Schritte bei der Digitalisierung auch ohne Pandemie nach und nach gegangen wären, haben wir nun einen Sprint hingelegt. Ein Großteil unserer Belegschaft ist – heute noch – im Homeoffice. Unsere Mitarbeitenden erledigen ihren Job von dort aus ohne jegliche qualitative Einschränkungen. Diese positiven Erkenntnisse setzen wir nun zum weiteren Nutzen der Belegschaft und des Unternehmens weiter um.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist Vertrauen. Versicherte brauchen gerade in Ausnahmesituationen, wie eben der Pandemie, einen Partner, bei dem sie sich gut und sicher aufgehoben fühlen und auf den sie sich jederzeit verlassen können. Mit Beginn der Pandemie hatten wir die Chance, das unseren Kunden zu beweisen. Genau das ist uns gut gelungen. Sie sehen es an unseren Geschäfts- und Kennzahlen, insbesondere aber an einer Reihe von Maßnahmen, mit denen wir unseren Versicherten entgegen gekommen sind. Beispielsweise haben wir den Versicherungsschutz für Hilfsfahrten ausgeweitet, die im Auftrag einer Kommune stattfanden. Oder wir haben temporär die Stilllegung von Fuhrpark-Flotten vereinfacht, da deren Fahrten im Lockdown pausieren mussten. In der privaten Krankenversicherung haben wir den vorübergehenden Wechsel in einen günstigeren Tarif ermöglicht, ohne dass die Betreffenden bei Rückkehr in den ursprünglichen Tarif eine erneute Gesundheitsprüfung hätten absolvieren müssen. Dies sind aber wirklich nur drei Beispiele aus einer umfangreichen Palette von Unterstützungsmaßnahmen.

  1. Eine Pandemie, wie wir sie jetzt erleben, kann privatwirtschaftlich nicht versichert und bezahlt werden, heißt es …

Ja, dem ist so. Das Versicherungsprinzip, dass die Gemeinschaft die Schäden Einzelner trägt, wird bei Pandemien schlicht außer Kraft gesetzt. Deshalb haben wir uns gemeinsam mit dem Gesamtverband der Versicherungswirtschaft Gedanken über eine künftige Lösung gemacht und bereits im Sommer 2020 ein mehrstufiges Absicherungssystem durch ein öffentlich-privates Modell vorgeschlagen, das neben den Versicherern auch den Kapitalmarkt mit einbezieht und in der letzten Eskalationsstufe zusätzlich auf staatliche Hilfen zurückgreifen würde. Dieser Vorschlag stößt bei der Politik grundsätzlich auf breites Interesse, muss aber natürlich noch weiter detailliert werden.

  1. Welche Konsequenzen müssen Versicherte möglicherweise nach Corona befürchten? Überall steigen die Preise, auch bei den Versicherungen?

Die Corona-Pandemie als solche hat noch keinen Einfluss auf steigende Preise bei uns in der Versicherungskammer. Im Gegenteil: In der Kraftfahrt-Versicherung kann es temporär sogar zu günstigeren Prämien kommen, da die Fahrleistung geringer war und jährlich angepasst werden kann. Ob sich erhöhte Leistungsausgaben wegen Corona-Erkrankungen, akut oder durch Long-Covid-Symptome, in den Tarifen der privaten Krankenversicherung bemerkbar machen, ist noch nicht abzusehen, da die Zeit noch zu kurz ist, um bereits hier ausreichende Erfahrungen zu sammeln. Aber wir konnten, trotz unserer Beteiligung an Corona-Rettungsschirmen und der Übernahme von Kosten für Hygienemaßnahmen bei ärztlichen und therapeutischen Leistungen im ersten Jahr der Pandemie noch keine Steigerung bei den gesamten Leistungsausgaben verzeichnen, was aber natürlich auch daran lag, dass andere Behandlungen teilweise verschoben oder pandemiebedingt gar ausgesetzt wurden.

  1. Wie stellt sich die Versicherungskammer auf mögliche weitere Pandemien ein?

Ich habe im vergangenen Jahr wieder erlebt, dass man sich im Leben niemals auf alles vorbereiten kann, aber man kann sehr schnell lernen, sich auf unerwartete und nie geglaubte Situationen einzustellen. Es gibt wohl in den meisten Fällen einen Weg, selbst dem noch etwas Gutes abzugewinnen. Seit Beginn der Pandemie haben wir viele Chancen genutzt und eine Reihe von Maßnahmen, die wir im März 2020 ad hoc umsetzen mussten, zwischenzeitlich professionalisiert. Darauf können wir weiter aufbauen. Unser großer Vorteil ist, dass wir bei uns im Konzern Versicherungskammer schon seit Jahren professionell auf unterschiedliche Krisenszenarien vorbereiten und regelmäßig Krisenstabsübungen durchführen. Mit Beginn der Corona-Pandemie haben wir ein Business Continuity Management Team (BCM) etabliert, in dem alle für diesen Fall notwendigen Funktionen vertreten sind. Unsere Aufgabe war es, den Geschäftsbetrieb zugunsten unserer Kunden und Vertriebspartner während  einer gesellschaftlichen Krise am Laufen zu halten, die medizinische Lage für unsere Mitarbeitenden zu bewerten, entsprechende Handlungsoptionen daraus abzuleiten sowie die Fragen unserer Mitarbeitenden zu beantworten und sie bestmöglich für das mobile Arbeiten auszustatten. Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir bei diesem Zusammenhalt im Konzern auch weitere, unvorhergesehene Ereignisse gut bewältigen werden.

  1. Wie geht der Konzern derzeit mit den Unsicherheiten volatiler Märkte um?

Die volatilen Kapitalmärkte, geprägt insbesondere von einer bereits sehr lange anhaltenden Niedrigzinsphase, begleiten uns schon sehr lange. Sie sind keine explizite Erscheinung aus der Pandemie; diese hat die Bewegungen zeitweise zwar noch verstärkt, aber ähnliche Ausmaße sehen wir seit vielen Jahren. Unsere Kapitalanlagestrategie ist darauf ausgerichtet, dass wir die Verpflichtungen gegenüber unseren Kundinnen und Kunden langfristig und nachhaltig erfüllen können. Dabei nehmen Investitionen in Infrastrukturprojekte einen zunehmend größeren Anteil ein, wenn auch noch immer auf niedrigem Niveau. Da wird sich in den kommenden Jahren sicher einiges tun und als öffentlich-rechtlicher Versicherer sind wir hier, gemeinsam mit den Sparkassen, gerne gesehene Partner. Wir stehen für Stabilität und sind verlässlicher Langfristinvestor.

  1. Der Klimaschutz wird immer wichtiger und führt zu einer Transformation der Wirtschaft. Grund für den Anstieg der CO-2-Emmissonen sind Benziner und Diesel! Rüsten Sie Ihre Flotte um und wie viele Ihrer Angestellten fahren bereits mit Ökostrom?

Unser Fuhrpark ist im Rahmen unseres Nachhaltigkeitsengagements natürlich ebenfalls ein relevantes Thema. Nur ist es nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick oft scheint. Zwar wird der CO-2-Ausstoß eines Autos mit Elektromotor deutlich reduziert oder sogar ganz vermieden – aber nur, wenn grüner Strom genutzt wird. Der in Deutschland verfügbare Strommix ist heute aber noch stark CO-2 belastet. Auch bei der Produktion von E-Autos werden hohe CO-2-Emissionen erzeugt. Das ist in Gänze noch unbefriedigend. Deshalb versuchen wir vor dem Hintergrund dieser mehrdimensionalen Situation unseren Fuhrpark umweltschonend umzurüsten. Innerhalb Münchens verwenden wir für Botenfahrten zwischen unseren Standorten beispielsweise Elektrofahrzeuge zur Vermeidung von CO-2-Ausstoß. Hier können wir mit gutem Gewissen sagen, dass die Emissionen, die durch die Produktion entstehen, wegen des langfristigen Gebrauchs klar überkompensiert werden. Darüber hinaus stellen wir unseren Mitarbeitenden in München E-Fahrräder für Kurzstrecken zur Verfügung, die rege genutzt werden. Bei unseren Geschäftsfahrzeugen wägen wir verschiedene Kriterien wie beispielsweise Distanzen, überwiegend Überland- oder Stadtfahrten etc. ab, um eine aus heutiger Sicht sachgerechte Entscheidung zu treffen. Und nicht zuletzt sparen wir durch die vermehrte Nutzung von Video-Konferenzen eine Menge an Emissionen ein. Das darf man nicht außer Acht lassen und dieser Effekt wirkt unmittelbar.

  1. Investieren Sie in Solaranlagen?

Erst in diesem Jahr haben wir unser Engagement in diesem Bereich über die Investition in unseren Spezialfonds deutlich aufgestockt. Der Fonds, mit einem Zielvolumen im mittleren dreistelligen Millionenbereich, ist derzeit in ein ausgewogenes Portfolio aus Wind- und Solarparks in Deutschland, Frankreich, Österreich und Finnland investiert. Neu in diesem Portfolio ist ein Solarpark in den Niederlanden,  in einer Gemeinde, die an Niedersachsen angrenzt. Zum Solarpark gehören Flächen für Blaubeeren und Blumen womit wir die Biodiversivität unterstützen.

  1. Die Menschen werden immer älter. Die Jungen haben oft weniger Geld in Versicherungen einzuzahlen. Wie sieht aber dann die Zukunft der Versicherung aus? Bei der Rente wird über eine Erhöhung des Eintrittsalters oder über kürzere Rentenbezüge nachgedacht! Gilt für Versicherer Ähnliches?

Sich für die Rente abzusichern und vorzusorgen, ist in der Tat kein sehr dringendes Bedürfnis von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Doch die Notwendigkeit, dass sie privat vorsorgen, besteht mehr denn je. Der demografische Wandel und die niedrigen Zinsen, kombiniert mit steigenden Lebenserwartungen erfordert sogar einen erhöhten Bedarf, für das Alter vorzusorgen. Auch wenn die meisten jungen Menschen es nicht hören mögen, ich kann nur appellieren: Je früher, desto besser ist es, sich eine private Altersvorsorge aufzubauen. Sinnvoll ist zudem, nicht nur auf eine Karte zu setzen, sondern im Laufe der Zeit, wenn jemand schon ein wenig mehr verdient, eine breite Diversifikation anzustreben. Sich frühzeitig mit dem Thema auseinanderzusetzen ist unvermeidbar, um, wie Sie schon sagen, die gesetzlichen Ansprüche auszugleichen oder zu kompensieren. Als Assekuranz ist es unsere Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen in unseren Produkten abzubilden und unseren Kunden eine möglichst hohe Sicherheit zu bieten.

  1. Corona hat digitale Prozesse weiter beschleunigt. Während des Lockdowns waren auch viele ihrer Mitarbeiter im Home Office. Hat sich das bewährt und wird es ein Modell für die Zukunft bleiben, dass Mitarbeiter von Ihnen vielleicht zwei Tage von zu Haus aus arbeiten können?

Ganz klar, ja. Die überaus positiven Erfahrungen die wir mit dem Mobilen Arbeiten bisher gemacht haben, ebenso wie die enormen Zustimmungsraten unserer Belegschaft dazu, werden wir nutzen. Auch nach Corona wird ein großer Teil unserer Mitarbeitenden nur noch einen Teil seiner Arbeitszeit im Büro verbringen. Und deshalb werden wir die Raumkonzepte intelligent darauf anpassen. Smart Working ist hier das Stichwort.

  1. Die Kommunikation zwischen der Versicherung und den Versicherten soll in Zukunft vereinfacht werden. Dabei spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle wie man Kunden erreicht. Was wird sich mit Blick auf die Kommunikation an der Kundenbetreuung verändern und welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien, die immer wichtiger als direkte Kommunikationsportale werden?

Wir haben bereits heute vielfältige Wege und Beratungstools, um mit unseren Versicherten in Kontakt zu treten. Nach wie vor schätzen wir und viele unserer Kundinnen und Kunden den persönlichen Kontakt in einer Sparkasse, Agentur oder einer unserer Geschäftsstellen. Der Kunde kann, wenn er das möchte, auch über digitale Wege mit uns in Kontakt treten. Gerade in den letzten 15 Monaten haben wir gelernt, wie komfortabel das sein kann. Wir können am Bildschirm eine 1:1 Beratung anbieten und alle für den Kunden in Frage kommenden Angebote mit ihm durchgehen, bis zu dem Punkt, dass er den Vertrag digital unterschreiben kann. Darüber hinaus, Sie sprechen es an, werden die diversen Social Media Kanäle immer wichtiger. Auch diese digitalen Anlaufstellen können unsere Kunden nutzen. Durch unsere Präsenz auf den wichtigsten Plattformen sind wir als Marke gut sichtbar und bieten den Kunden damit vielfältige Wege, um Kontakt mit uns aufzunehmen. Sie nutzen den Kanal, der am einfachsten für sie zugänglich ist oder gerade zur Verfügung steht.. Mit Social Media ergänzen wir unsere klassischen Kanäle und profitieren dadurch von mehr Möglichkeiten für den Kundenkontakt und der Ansprache neuer Zielgruppen.

  1. Wie legt die Versicherungskammer ihr Geld an. Grüne Geldanlage ist das Trendthema schlechthin. Zunehmend hinterfragen Verbraucher nicht nur ihre Aktiendepots, sondern auch die Versicherungen, denen sie ihr Geld anvertrauen. Viele Menschen wollen grüne und nachhaltige Anlagen, um etwas gegen den Klimawandel tun. Und Sie?

Nachhaltigkeit ist aktuell ein großes gesellschaftliches und politisches Thema, und ganz sicher derzeit auch ein populäres. Dazu zählt gleichermaßen die grüne Geldanlage. Damit beschäftigen wir uns in vielen Facetten und sehr intensiv. Als Versicherungsbranche haben wir ein großes Interesse und uns gemeinsam darauf verpflichtet, unseren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele zu erreichen. Bei der Versicherungskammer spielt Nachhaltigkeit schon seit vielen Jahren eine große Rolle. Zum einen in unserem gesellschaftlichen Engagement, aber ebenso bei einer Vielzahl von Aktivitäten und Prozessen im Haus. Angefangen bei unseren Immobilien in nachhaltiger Bauweise bis hin zu eigenen Bienenvölkern auf dem Dach unseres Zentrale in München-Giesing. Auch bei der Anlage unserer Kundengelder setzen wir vermehrt auf nachhaltige und energieeffiziente Infrastrukturanlagen.

  1. Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit sind drei Säulen, auf die der Konzern aufbaut. Mit welchen Projekten fördern Sie soziale Kompetenz?

Gerade im Hinblick auf die Förderung der sozialen Kompetenz haben wir schon heute vielfältige Aktivitäten. Ein wesentliches Projekt der vergangenen Jahre ist unser Diversity-Engagement, mit dem wir nicht nur für Vielfalt sensibilisieren, sondern auch aufzeigen möchten, welch‘ positive ökonomische Auswirkungen sich dadurch für den Konzern ergeben. An Bedeutung gewonnen hat für uns in den vergangenen Jahren die Etablierung von Generationen-Tandems oder Reverse-Mentoring-Programmen, indem beispielsweise Azubis erfahrende ältere Mitarbeitende und Führungskräfte in Fähigkeiten coachen, die sie sonst deutlich mühsamer erlernen müssten. In den Bereich der sozialen Kompetenz fällt zudem unser wirklich sehr breites ehrenamtliches Engagement, das wir nicht zuletzt sogar mit einer eigenen Stiftung bekräftigen.

  1. Die Klimakrise erzeugt selbst Druck durch irrwitzige Temperaturausschläge, Starkregen, Wirbelstürme oder Dürren. Die Folgeschäden der globalen Erhitzung belasten das Geschäftsmodell der Versicherer. Wie werden Sie darauf reagieren?

Was Sie ansprechen, haben wir gerade in den vergangenen Wochen und Tagen  besonders stark erlebt. Man hat den Eindruck, die Intensität und die Frequenz der Ausschläge nehmen immer weiter zu. Diese Folgen des Klimawandels können wir als Versicherer nicht beherrschen. Aber wir können dafür sorgen, dass die finanziellen Folgen, die solche Ereignisse für den Einzelnen oft nach sich ziehen, für ihn überschaubar bleiben. Wir sind hier, gemeinsam mit der gesamten Versicherungswirtschaft, schon sehr lange aktiv. Die Notwendigkeit  Elementarereignisse abzusichern ist ein stetes Thema in unseren Beratungsgesprächen. Denn nicht selten ist mit einem schweren Unwetter die gesamte Existenz bedroht. Und, entgegen häufiger Annahmen, dass eine Vielzahl von Gebäuden nicht versicherbar wäre, ist genau das Gegenteil der Fall. In Bayern können wir bspw. über 99 Prozent problemlos versichern. Das Bewusstsein für diese notwendige Absicherung ist in den vergangenen Jahren schon deutlich gestiegen. Mehr als jeder Zweite, der sein Gebäude bei uns versichert, schließt diesen wichtigen Schutz mit ein. Dennoch – hier gilt es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten und wir werden nicht nachlassen, die Bürgerinnen und Bürger zu sensibilisieren.

Fragen: Dr. Dr. Stefan Groß

Jede fünfte Zigarette wird nicht in Deutschland versteuert

Stefan Groß-Lobkowicz27.07.2021Medien, Wirtschaft

Mit dem Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Tabakwirtschaft, Jan Mücke, sprachen wir über die Lust am Rauchen, über Innovationen in der Tabakindustrie, über Klimaschutz und warum die Verbraucher trotz sehr hoher Steuern weiter rauchen.

Herr Mücke, Sie sind Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse (BVTE). Nun ist die Gründung des Verbands erst vor eineinhalb Jahren erfolgt. Was hat sich in der Branche geändert, und was sind die „neuartigen Erzeugnisse“?

Jan Mücke: Geändert hat sich viel. Wir sind als deutsche Tabakwirtschaft auf einer längeren Transformationsreise. 24 Prozent der Deutschen rauchen. Wir haben zwei Trends, einerseits hin zu einer gesünderen Lebensweise und andererseits den Hedo­nismus, den es schon seit Jahrtausenden gibt. Die ­Zigarette ist nach wie vor das beliebteste Genussmittel. Doch wir und viele der Konsumenten suchen nach potenziell weniger schädlichen Alternativen. Mit der E-Zigarette haben wir ein Produkt, das gar keinen Tabak mehr enthält. Ein weiteres Nikotinprodukt, das, obgleich es Tabak enthält, geringere Gesundheitsrisiken birgt, ist der Tabakerhitzer. ­Dabei wird der Tabak erhitzt, aber nicht verbrannt. So kann der Raucher den Tabakgeschmack genießen – inhaliert aber deutlich weniger Schadstoffe. Die allerneueste Kategorie sind rauch- und tabakfreie Nikotinbeutel, die noch weniger schädlich sind. Für viele Menschen sind das sehr gute Alternativen – ohne auf ihren Tabak- und Nikotingenuss verzichten zu müssen.

Das traditionelle Zigaretterauchen hat durch eine ­rigide Verbotskultur und Reglementierung vonseiten der Bundesregierung, aber auch international und durch medizinische Erkenntnisse unterfüttert, den Raucher letztendlich zu einem Fossil werden lassen, oder?

Bei Kindern und Jugendlichen bin ich froh, dass es so ist. Und das ist auch ein Erfolg der Arbeit im Handel. Das Thema Kinder- und Jugendschutz ist eines der wichtigsten der gesamten Industrie. Dafür bieten wir Onlinetools zu Schulungszwecken zum Jugendschutz an. Der effektivste Kinder- und Jugendschutz ist die Durchsetzung des strikten Abgabeverbots von Tabak an diese Gruppe.

An das Rauchverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants et cetera. haben wir uns gewöhnt – und das wurde in den Medien auch sehr stark als der richtige Weg interpretiert. Was hat sich in den letzten 30 ­Jahren bezüglich der Kultur des Rauchens verändert und wie kann man das Rauchen überhaupt noch attraktiv machen, ohne politisch unkorrekt zu werden?

Die Kultur des Rauchens ändert sich alle hundert Jahre. Das 18. Jahrhundert war das der Pfeife. Friedrichs II. Tabakskollegium war legendär. Das 19. Jahrhundert war von der Zigarre geprägt. Die Zigarette passte hingegen in das Zeitalter der ­Industrialisierung, die auf den massenhaften Konsum einging. Daher ist die Zigarette das ideale Produkt für das 20. Jahrhundert – in einer immer hektischer werdenden Zeit. Im 21. Jahrhundert sind wir in einer Zeit angelangt, wo gesundheitliche Aspekte eine große Rolle spielen. Der Ansatz der „Schadensminimierung“ wird die Grundmelodie aller zukünftigen Regulierungs- und Besteuerungsdiskussionen sein. Wie also kann man sicherstellen, dass die Menschen, die rauchen wollen, dies weiterhin tun können, ohne ihre Gesundheit übermäßig zu schädigen? Also die Transformationsreise geht weiter – und sie soll so verlaufen, dass niemand bevormundet oder das Rauchen ganz verboten wird. Von Prohibition halten wir nichts, die Folgen einer prohibitiven Regulierung sind oft sehr negativ, wie das Entstehen der organisierten Kriminalität während der Alkoholprohibition in den USA vor hundert Jahren gezeigt hat. Es kommt darauf an, mit Verstand und ohne Bevormundung zu regulieren.

Das Thema Nachhaltigkeit wird auch bei der Tabakindustrie immer wichtiger. Hier will vor allem die ­Regierung mit dem „Kreislaufwirtschaftsgesetz“ die ­Tabakhersteller in die Pflicht nehmen. Herr Mücke, was versteht man (a) darunter und was bedeutet das (b) für Ihren Verband?

Das Kreislaufwirtschaftsgesetz steht auch in Verbindung mit dem Verpackungsgesetz. Dahinter steht die Frage, wie Verbraucher die Umwelt weniger durch das Wegwerfen von Zigarettenkippen schädigen. Unser Verband will durch viele Maßnahmen dazu beitragen, den Raucher zu sensibilisieren, achtsam zu sein. Wir arbeiten mit Partnern aus anderen Industrieverbänden, die diese Kunststoffprodukte herstellen, daran, gute Entsorgungskonzepte für Einwegplastikabfälle zu finden. Es bleibt dabei: Rauchabfälle gehören nicht auf Plätze und Straßen, sondern in Abfallbehälter und dort, wo diese fehlen, in einen Taschenaschenbecher. An der Nord- oder Ostsee arbeiten wir mit den Strandkorbvermietern zusammen, damit Zigarettenabfälle nicht am Strand landen.

Nicht nur dass viele Raucher ihre Zigarettenkippen einfach wegwerfen und damit eine Ordnungswidrigkeit begehen, ist ein Problem, sondern auch die Thematik mit den Filtern, die dazu da sind, die gesetzlich zulässigen Höchstwerte an Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid im Rauch einzuhalten. Diese bestehen zwar aus einem Material, das sich vollständig biologisch abbauen lässt, der Vorwurf ist aber, dies geschehe zu langsam und sei ein Problem für den Umweltschutz. Wie also geht es mit den Filtern weiter?

Hier ist man bei der Entwicklung von neuen Filtern sehr weit. Es gibt schon Produkte, wo sich die Filter nach 60 Tagen biologisch abbauen. Aber wichtiger als dieser Abbau bleibt, dass der Verbraucher seine Abfälle verantwortungsvoll entsorgt. Auch ein Filter, der nur 60 Tage in der Natur liegt, verschmutzt die Umwelt. Wir alle können Verantwortung für die Umwelt übernehmen.

Apropos Steuern. Seit den letzten Jahren werden die Preise für Zigaretten immer höher, die Steuern steigen. Woran liegt das? Verdient da nur der Staat daran und ist das der richtige Weg, um den Menschen das Rauchen abzugewöhnen?

Natürlich verdient in erster Linie der Staat. Im Schnitt gehen bei einer Packung Zigaretten zum Preis von 7 Euro bereits 70 bis 75 Prozent an den Fiskus, das sind circa 5 Euro an Tabak- und Umsatzsteuer. Was dann noch übrig ist, teilt sich in etwa zu zwei und einem Drittel zwischen Handel und Industrie auf. Der Staat bleibt der große Gewinner. Allein 2020 hat der Bund aus der Tabaksteuer und der Umsatzsteuer über 19 ­Milliarden Euro durch Tabak­erzeugnisse eingenommen.

Werden die Zigaretten in den nächsten Jahren noch teurer?

Aufgrund von erhöhten Energie-, zusätzlichen Lieferkosten, steigenden Tarifen und Arbeitslöhnen wird das Rauchen auch in Zukunft nicht billiger. Die Tabakprodukte werden aber in erster Linie durch immer mehr und höhere öffentliche Abgaben belastet und damit teurer.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte die Bundesregierung die Tabaksteuer massiv erhöht und seitdem haben wir einen konstant hohen Anteil zwischen 17 und 21 Prozent von nicht in Deutschland versteuerten Zigaretten. Wir müssen also aufpassen, dass die Kriminalität hier nicht weiter ansteigt und der Schwarzmarkt noch ­größer wird. Es ist mittlerweile ein einträgliches Geschäft für die organisierte Kriminalität geworden. Deshalb warnen wir die Politik immer, es mit Steuererhöhungen zu überziehen. Immer dann, wenn Produkte erheblich verteuert werden, versuchen die Konsumenten auf preisgünstigere Alternativen auszuweichen – aber sie hören nicht auf zu rauchen. Die Gefahr sehen wir gerade aktuell beim Entwurf des Tabaksteuergesetzes, das im Juni verabschiedet wurde. Der Ansatz der kontinuierlichen Erhöhung sollte auch auf die E-Zigaretten und Erhitzer übertragen werden, aber bitte mit Augenmaß, damit sich Verbraucher nicht auf dem Schwarzmarkt versorgen.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Wir Gendern uns zu Tode

Stefan Groß-Lobkowicz25.07.2021Medien, Wissenschaft

Fast zwei Drittel der Bundesbürger hält nicht viel vom Gendern. Dennoch streicht die Bundeswehr ein altbewährtes Wort und die Stadt Bonn legt einen Leitfaden für korrektes Sprechen vor. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Ein Gespenst geht um – der Genderwahn. Dass wir inmitten der größten Pandemie der Weltgeschichte keine anderen Probleme haben, unterstreicht der ganze Irrsinn der angestachelten Debatte. Auch die Bundeswehr gendert, was das Zeug hält. Nun soll ein Begriff geopfert werden, der den Soldaten lieb und teuer ist. Seit Jahren bekommen diese ihre Marsch- und Feld-Verpflegung in der sogenannten „Einmannverpackung“, einer Tagesration, die aus Fertiggerichten und Instantkaffe besteht. Doch auf Rücksicht auf die Soldatinnen muss ein neues Wort her, das in Zukunft für das kulinarische Glück der Truppe steht. Bis zum 30. September hat die Armee jetzt Zeit, Ersatz für das unliebsam gewordene Wort zu finden.

Die Stadt Bonn, einst das mächtige politische Zentrum der Republik, hat einen neuen Leitfaden mit dem Titel „Geschlechtergerechte Sprache in der Stadtverwaltung“ vorgelegt, der den Mitarbeitern vorschreibt, welche Begriff sie verwenden dürfen. Zulässig sind danach nur noch gendergerechte Formulierungen. Seit Jahren hat sich die ehemalige Bundeshauptstadt den Neusprech auf die Fahnen geschrieben, „Geschlechtergerechtigkeit (Gender Mainstreaming) wird hier als integrierender Prozess verstanden, der hinterfragt, inwieweit „politische Entscheidungen und Verwaltungshandeln eine echte Chancengleichheit der Geschlechter erreichen.“ Wohin die neue Sprachideologie führt, zeigt sich schon exemplarisch in Köln. Dort muss die Kölner Verwaltung statt „jeder“ künftig „alle“ sagen, „weil jeder – Bürger, Kölner, Jeck – ja nur Männer anspreche“. Und aus den Fußgängern und Fußgängerinnen würden demnächst Zufußgehende.

Das Gendern wird zum Religionsersatz

Was sich einst als eine harmlose linguistisch anmutende Debatte über das Geschlecht nach dem Linguistic Turn entwickelte, der maßgebende Impulse dem postmodernen, poststrukturalistischen Diskurs von Jaques Derrida verdankte, ist zu einer radikalen Programmatik geworden, absoluter Wahrheitsanspruch inkludiert. „Nun sag’, wie hast du’s” mit dem Gendern – dann ich sage Dir, wer Du bist – so zumindest könnte man Goethes Gretchenfrage zur Religion aus dem „Faust“ zum Glaubensbekenntnis des 21. Jahrhunderts transformieren. Denn das Gendern trägt heutzutage – und dies immer mehr – fast religiöse Züge. Wie einst im Mittelalter Wahrheit, Rechtgläubigkeit und Dogma der katholischen Kirche das Leben der Menschen justierten, so ist es heute das Gendern. Wer damals nicht an die ewige Wahrheit, Offenbarung und an das Dogma glaubte, wurde der Ketzerei bezichtigt und auf das mediale Schafott geführt, entmündigt und totgeschwiegen. Wer heute an der neuen Religion und Deutungshoheit zweifelt, dass Mannsein und Frausein eine „gesellschaftliche Konstruktion“ sind, wer Alternativen zu Homo und Hetero nicht aufheben will, wer Begriffe wie „Mann“ und „Frau“ unkritisch seinem Seelenhaushalt verordnet, gehört einer Welt oder Generation buchstäblich im Sinne Stefan Zweigs von Gestern an. Das moderne Autodafé dreht sich weiter, es ist zwar antimetaphysisch, aber das Dogmatische bleibt, als transzendenzlose Metaphysik. Heute geht es nur noch um die beweglichen Formen von Geschlechtlichkeit – oder eben um den Abschied vom Prinzipiellen, von der tradierten Überlieferung von Mann und Frau, von traditionellen Geschlechterrollen, also davon, dass Mannsein und Frausein nicht biologische, sondern vielmehr „gesellschaftliche Konstruktion“ sind.

Schon längst hat die Gendertheorie, Gender Studies und Gender-Mainstreaming die Welt des Wissens erobert. Die Universitäten, einst Kathedralen des Wissens, sind zu Sprechröhren der neuen politischen Korrektheit geworden, zu regelrechten Blasen des Gender-Jargons, die die neue „Wissenschaft“ mit hunderten von Lehrstühlen und mit Millionen Unsummen finanzieren. Aber beim Gendern handelt es sich nach wie vor um eine Religionswerdung qualitativ schwacher Kraft, die zwar den Anspruch auf eine Mehrheitsdoktrin mit gewaltigen Sanktionsmechanismen für sich in Anspruch nimmt, letztendlich aber nichts anderes als ein neues Glaubensbekenntnis ist, das Kritiker vor den Richterstuhl zieht und knechtend beugt bis sie sich zum neuen Glauben bekennen.

Dabei sind zwei Drittel, wenn nicht fast 90 Prozent der Deutschen, nicht mit der Umformatierung der Sprache einverstanden, wie eine neuere Umfrage von Infratest ergab. Hierzulande hält sich die Begeisterung in Grenzen, wenn es um einen Neusprech geht, der die Sprache verunglimpft und geradezu verhunzt, wo der Begriff des Bäckerhandwerks durch Backendenhandwerk ersetzt werden soll, wo von im Biergarten sitzenden Radfahrenden statt von dort sich erholenden Radfahrern die Rede ist. Die Corona-geschüttelten deutschen Bundesbürger wollen keine Elter 1 oder Elter 2. Man trägt ein großes Unbehagen an den Sprach- und Schreibmonstern wie Bürger*innen, BürgerInnen, Bürger:innen, Bürger/innen und Bürger_innen.

Wer die Sprache transformiert, legt das Hackebeil an die tradierte Gesellschaft, an einen Wertkanon, der sich über Jahrhunderte formte, nimmt die Zerstörung kultureller Traditionen leichtfertig in Kauf. Denn wer seine Sprache zerstört, cancelt sich selbst.

Australische Universität gibt neue Richtlinie, die die Wörter „Mutter“ und „Vater“ geschlechtsneutral machen

Die Amputation der Sprache wird aber in Australien ganz anders gesehen. Dort wird akribisch transformiert und das Halteseil traditioneller Begriffe zerschnitten. Die „Australian National University“, keineswegs eine Eliteuniversität, und speziell ihr Gender-Institut sind es, das sich eine gerechtere, menschlichere, nicht rassistische und nichtdiskriminierende Sprache auf die Agenda geschrieben haben. Und das wollen sie so genau und akkurat machen, dass sie Wörter wie „Mutter“ und „Vater“ zwar nicht gleich aus dem kulturellen Gedächtnis tilgen wollen, aber zumindest perspektivisch durch geschlechtsneutrale Wörter zu ersetzen suchen. Richtlinie hin und her, es bleibt dem Duktus nach eine unverbindliche Verbindlichkeit, die hier im Namen einer selbst aufgeplusterten „Wissenschaft“ aufgerichtet wird und damit letztendlich kein Angebot der intellektuellen Freiheit mehr ist, sondern selbst zur Doktrin avanciert. Man kann am Sinn und vor allem am Verstand der „Macher“ zweifeln, ausgerechnet bei Wörtern wie „Mutter“ und „Vater“ den Rotstift anzusetzen. Denn den Initiatoren geht es um nichts Geringeres als peu à peu eine genderspezifische Sprache quasi durch die Hintertür hindurchzuwinken, da im Handbuch erklärt wird: „Sprachgewohnheiten brauchen Übung, um sie zu überwinden, und die Studenten erkennen die Bemühungen an, die Sie machen, um sich inklusiv auszudrücken.“

Der genderneutrale Wort-Schatz beinhaltet unter anderem neue Begriffe für die Eltern. So sollen die Lehrenden und Studenten zur Mutter zukünftig „Austragendes Elternteil“ und zum Vater „Nicht-gebärendes Elternteil“ sagen. Gleiche Umbenennung soll, rein akademisch und unverbindlich, als „wissenschaftlich gender-integrative Lehre auch für den Begriff des Stillens gelten. Anstelle der „Muttermilch“ wollen die Macher künftig den Ausdruck „Menschliche Milch“ oder „Elternmilch“ setzen.

Auch in England wird gegendert, was das Zeug hält. Hier will man die historische Ausgrenzung von trans- und nichtbinären Menschen auf den Geburtsstationen beenden und setzt auf geschlechtsneutrale Begriffe. So legten die Universitätskliniken von Sussex und Brighton, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nahe, neutrale Worte zu verwenden. Man will, so die neue Maxime, der Vielfalt ihrer Patientinnen und Patienten gerecht werden – und da es nun auch transsexuelle Schwangere gibt, müssen neue Begriffe kodifiziert werden. „Person” statt „Frau”, „Geburtselternteil” statt „Mutter” oder eben auch „Menschenmilch” oder „Milch des stillenden Elternteils” soll die Bezeichnung „Muttermilch” ersetzen. Und statt „Vater” gelte es eher „Elternteil” oder „Co-Elternteil” zu sagen. Diese neu erschaffene Sprache soll dann frei von Diskriminierung sein und auch in den Geburtsvorbereitungskursen oder bei anderen Terminen, an denen beide Elternteile teilnehmen, verwendet werden. Schließlich beginne Ausgrenzung bei der Sprache. Trotz der geschlechtsneutralen Begriffe soll aber auch weiterhin die übliche Sprache für (CIS-) Frauen verwendet werden, hieß es.

Für einen religiös Musikalischen ist der Neusprech, die postulierte Aufhebung von sprachlicher Diskriminierung, aber nichts anderes als eine neue Form einer sprachlichen Apartheid, die nicht nur Sprachmonster generiert, sondern in ihrer medialen Diktion und im Tenor erschreckend einseitig, intolerant und aggressiv sind. Anstatt die ohnehin brüchige Gesellschaft im Geist der Versöhnung harmonisch zu befrieden, befeuert das Gendern einen kontraproduktiven Diskurs, der mehr zerstört.

Christian Lindner: Wir dürfen den Grünen nicht die Staatsfinanzen überlassen

Stefan Groß-Lobkowicz1.07.2021Medien, Politik

Die FDP um Christian Lindner holt in den Umfragen zur Bundestagswahl weiter auf. Im Gespräch mit Verleger Wolfram Weimer bei Microsoft in Berlin unterstreicht der Parteichef seine Ambitionen für eine Regierungsbeteiligung, allerdings nur wenn die Inhalte stimmen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Auch wenn Deutschland seine Fußballhoffnungen für dieses Jahr begraben musste, Christian Lindner hat allen Grund optimistisch in die Zukunft zu schauen. Beim Microsoft-Townhall-Meeting in Berlin schaltete der Stratege und erfahrene Berufspolitiker dann auch gleich in den Wahlkampfmodus. Und Lindner kann sich das leisten. Immerhin stehen 70.000 Mitglieder und darunter vor allem junge Wähler zwischen 16- und 18 Jahren hinter ihm, so viele wie zuletzt im Jahr 1981. Tendenz kontinuierlich steigend. Weimers Vorschlag, dass es beim derzeitigen Umfragehoch auch zu einer gelben Ampel kommen könnte, wo Grüne bei 17 Prozent, die SPD bei 16 Prozent und die FDP bei 18 Prozent läge, goutierte Lindner zumindest als eine spannende Spekulation.

Die FDP hat in Coronazeiten überzeugt

Die starken Umfragewerte seien, wiederholt der Parteichef, aber nicht einem schwachen Wirtschaftslenker Armin Laschet geschuldet, sondern einer demokratischen Politik, die die FPD gerade in Zeiten der Coronakrise ausgezeichnet habe. Die Pandemie habe den Markenkern der Partei offenbart. Denn ohne die Gefahren von Corona zu leugnen, zogen die Liberalen bei der Frage der Eingriffe in die Freiheit andere Schlüsse als CDU, CSU, SPD und Grüne. Die FPD hat gezeigt, dass sie im demokratischen Zentrum der politischen Kultur für Sensitivität und Bürgerrechte steht. „Und das hat manchen in Erinnerung gerufen, dass es eine liberale Stimme in den Parlamenten gibt.“

Das Comeback der Partei – Alles anders als 2017

In der Tat feiert die FDP, die viele Kritiker in den vergangenen Jahren für mausetot erklärten, ein politisches Comeback. Mit dem „Projekt 18“ startete sie einst unter Guido Westerwelle 2002 in die Bundestagswahl – und Lindner ist fast dabei die magische Hürde zu knacken. Seit Tagen steigen die Liberalen in der Wählergunst und nähern sich SPD und Grünen kontinuierlich an. Glänzende Aussichten für eine Partei, die auch die Mühen der Ebene kennt.

2017 hatte Lindner Jamaika noch für gescheitert erklärt. Fast legendär die Worte, die damals aus dem Mund des ambitionierten wie intellektuellen Wirtschaftsliberalen kamen: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“. Aber die Zeiten haben sich verändert, der Wahlkampf ist qualitativ ein anderer als damals unter Angela Merkel und Peter Altmaier. Die neuen Architekten der Union, Armin Laschet und Friedrich Merz, sind aus anderem Holz geschnitzt und stehen für eine frischere CDU, die daher als möglicher Koalitionspartner gar nicht weit weg von der FDP agiert.

Wie Lindner im Talk mit Weimer erklärte, sei die FDP damals wie heute bereit zur Verantwortungsübernahme – doch pauschal will er auch zur Stunde keine Koalitionen im Blindflug schließen. Es ist vielmehr wie ein Mantra, wenn der FDPler wiederholt, dass es um Inhalte gehe. Stimmen diese wie mit der Union überein, sei fast alles möglich. Doch ob es ein Jamaika 2.0, eine Ampel oder eine Deutschlandkoalition geben könnte, darauf will sich Lindner nicht festlegen und zitiert lieber den Unionskandidaten Armin Laschet: „Jede Regierung mit der FDP ist besser als eine Regierung ohne FDP. Ich finde, man soll Armin Laschet seinen Wunsch erfüllen.“

Baerbock kann sich nicht auf die FDP verlassen, sie zur Kanzlerin zu küren

Keinen Hehl macht Lindner allerdings aus einer gewissen Distanz zu den Grünen. Umverteilung, höhere Steuern, bedingungsloses Grundeinkommen und der stark lenkende Eingriff in die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sind einfach seine Sache nicht. Es bleiben die klassischen Werte der Liberalen wie Eigenverantwortung, Freiheit und eine liberale Wirtschaft, die den Mittelstand stärkt, auf die der Parteichef setzt. Klar warnt der 42-Jährige auch davor, in die grüne Wahlkampffalle zu stolpern. Lindners Credo vor dem alles entscheidenden 26. September 2021 bleibt daher: „Unser Wahlkampf ist darauf gerichtet, das es keine schwarz-grüne Mehrheit gibt. Weder Schwarz noch Grün allein sei keine gute Vorstellung für das Land“. Und Lindner, der mit dem Landeschef in Nordrhein-Westfalen schon seit Jahren in einer schwarz-gelben Koalition gut regiert, offenbart, dass sich Annalena Baerbock nicht der FDP versichern könne, sie auch zur Kanzlerin zu machen.

Wir dürfen den Grünen nicht das Finanzministerium überlassen

Das klingt alles dann doch nicht nach Ampel, sondern läuft irgendwie auf Jamaika oder auf eine Deutschlandkoalition hinaus. Dass der Regierungsauftrag an Laschet geht, sei fast so sicher wie das Amen in der Kirche, bekennt Lindner – und das es nicht unbedingt eine Ampel sein muss, liegt auch irgendwie in den Genen des FDP-Chefs. Die inhaltlichen Schnittmengen zu den Sozialdemokraten seien zwar da, auf Länderebene durchaus tragbar und weitaus größer als zur Linkspartei und zu den Grünen, die unter ihrem Zugpferd Baerbock bislang eine Koalition mit linken Ultras wie Hennig-Wellsow und Wissler nicht ausgeschlossen haben. Was aber Lindner für völlig ad absurdum erklärt, ist ein irgendwie geartetes Spiel mit der Partei um Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali.

Und dass Lindner – zumindest bei den Finanzen – nicht ganz so grün angehaucht oder von der Kompetenzstärke in Sachen überzeugt ist, selbst wenn er sich eine Koalition mit Habeck und Co offen hält, hatte er jüngst in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unterstrichen. Ehe die Grünen das Finanzministerium übernehmen, dann doch lieber die FDP unter einem Finanzminister Lindner – allein zur Schadensbegrenzung. Man darf aus Gründen der Vernunft die Staatsfinanzen der Ökopartei nicht überlassen. Eine Aushebelung der Schuldenbremse des Grundgesetzes, Steuererhöhungen und ein Spitzensteuersatz belaste vielmehr den deutschen Mittelstand und macht das Land für Ingenieure nicht attraktiver. Sorge bereitet Lindner auch, dass die Grünen in Europa das Prinzip der finanzpolitischen Eigenverantwortung aufweichen würden. Dagegen plädiert der langjährige Politprofi, der seit Dezember 2013 der vierzehnte Bundesvorsitzende ist, dafür, dass die Bürger individuell Verantwortung für ihre Finanzen selber tragen sollten, ohne von der Bevormundungspolitik grüner Ambitionen blind gesteuert zu werden. Weder sei es akzeptabel „das Baden-Württemberg die Schulden von Hamburg tragen sollte.“ Für ebenso absurd erklärt Lindner, dass der Staat in Verantwortung für private Banken gehen darf. Wenn dort spekuliert wird, müssen diese Finanzakteure und Spekulanten abgewickelt und nicht auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden. Und für ebenso falsch erklärte er grüne Ambitionen, die darauf hinauslaufen, dass Deutschland die finanzpolitische Verantwortung für andere Mitglieder der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion übernehmen kann. Denn: „Ein solches Prinzip“, so Lindner, „würde die natürliche Risikobremse der Haftung aushebeln und wenn Haftung nicht mehr besteht, gehen Menschen, Unternehmen, Banken und Staaten Risiken ein, die nicht verantwortbar sind“. „Haftung ist die natürliche Risikogrenze“ – und Lindner hat die Befürchtung, dass diese bei den Grünen gelockert würde.

Der Wahlkampf entscheidet, ob ein Politiker für das höchste Amt taugt

Der politisch angeschlagenen Baerbock, die einst mit Vorschusslorbeeren gesegnet auf die Überholspur wechselte und sogar die Union in den Umfragen überholte und nun wegen ihrer geschönten Vita und ob Plagiatsvorwürfen im medialen Rampenlicht steht, gibt Lindner den keineswegs gönnerhaften Rat: „Wer ein Spitzenamt wie die Kanzlerschaft anstrebt, muss damit rechnen, dass es auch rustikal zugeht. Vielmehr gehöre es dazu, der kritischen Begleitung durch die Medien ausgesetzt zu sein. Und das sei auch zwingend erforderlich, denn man bewirbt sich auf höchste Staatsämter und hat danach die Interessen der Bundesrepublik gegenüber schwierigen internationalen Gesprächpartnern, gegen organisierte Interessen aus Wirtschaft und Gesellschaft, zu vertreten. Und da ist der Wahlkampf eine Prüfung, ob man wie Egon Bahr gesagt hat, das innere Geländer hat, die Werte, und ob man über die Durchhaltefähigkeit für ein späteres Spitzenamt verfügt.“

Fazit: Lindner scheut sich keineswegs davor politische Verantwortung zu übernehmen, denn er sei nicht in die Politik gegangen, um auf Dauer Opposition zu machen. Dennoch hat ihn immer wieder gewundert, dass „der Verzicht auf Macht und auf einflussreiche Positionen in Deutschland immer unter dem Gesichtspunkt der Flucht und nicht der Prinzipientreue betrachtet wird“ – und gerade dies habe sich auch in den letzten vier Jahren nicht geändert. Aber wenn man Verantwortung übernehmen kann und es eine faire Zusammenarbeit gibt, in die man faire Inhalte einbringen kann, steht Lindner zur Verfügung. Und er fügt hinzu: „Markus Söder wäre im Wahlkampf das leichtere Ziel gewesen, aber im Regieren ist später Armin Laschet der angenehmere Gesprächspartner.“ Und er stellt zugleich ein neues Motto auf: „Wenn man gut regieren kann, soll man das Land nicht anderen überlassen.“

Michael Kellner steht für den Erfolg der Grünen

Stefan Groß-Lobkowicz29.06.2021Medien, Politik

Die Grünen sind auf Erfolgskurs. Seit Monaten treiben sie die Union vor sich her. Ein Kopf an der grünen Spitze, der für den Erfolg seiner Partei maßgeblich Verantwortung trägt, ist Michael Kellner. Der hat extra eine Agentur gegründet, die den programmatischen Namen „Neues Tor 1“ trägt. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Die neuen Grünen sind anders als die alten Revoluzzer um Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Jutta Ditfurth, die als Enfant terribles für Schrecken im bürgerlichen Deutschland der Nachkriegszeit sorgten. Die neue Generation mag es bescheidener, verpackt ihre Wahlprogramme in geschickt inszenierte Erzählungen, setzt auf Neuanfang und Gewissensappelle. Und hinter jeder Kampagne steckt nicht mehr die Wildheit und Unbefangenheit der Gründungsjahre, die Happenings, Straßenkämpfe und der pure Protest, sondern Annalena Baerbock und Robert Habeck können auf professionelle Hilfe im Wahlkampf zurückgreifen. Bei ihren hegemonialen Bestrebungen an die Spitze des Landes zu treten, setzt die Partei immer mehr auf Kalkül und Taktik, auf eine komplexe Machtmaschine von Aufpassern und Strippenziehern.

Der unprätentiöse Mann aus Gera

Einer der neuen Generation ist der gebürtige Geraer Michael Kellner, der Kampagnenorganisator und Geschäftsführer. „Habecks Mastermind“ nennen sie ihn. Das Herz des 43-Jährigen schlägt einerseits im urbanen Schicki-Micki- und Insiderviertel Prenzlauer Berg als auch der beschaulichen und natur belassenen Uckermark. Kellner, der nach Außen hin den bodenständigen Macher gibt, den nahbaren Erklärbär, agiert innenparteilich knallhart auf der Klaviatur der Macht. Er hat nicht nur die Idee der hauseigenen PR-Agentur in der Grünenzentrale durchgesetzt, sondern ohne die Arkusaugen des studierten Politikwissenschaftlers verlässt kein Plakat und Slogan die Schaltzentrale. Dass Kellner, Sohn eines Schuldirektors und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, im Wahljahr 2021 deutlich höher pokern und die Wahlkampfmaschinerie auf Hochtour laufen lassen kann, verdankt sich nicht nur hohen Parteispenden und der deutlich angestiegenen Zahl an Mitgliedern, sondern einem Wahlkampfetat, der in der Geschichte der Grünen fast rekordverdächtig ist. Waren es 2017 noch sechs Millionen Euro, die Kellner in die Wahlkampf-Arena werfen mochte, lässt sich mit den zehn Millionen Euro 2021 solide wirtschaften und ein Wahlkampffeuer geradezu entfachen.

Kellner setzt die Meßlatte hoch an

Ob Europa oder Landtagswahl – Kellner kann einen Sieg nach dem anderen für die Partei einfahren. Der digitale Grüne, der die strategische Bedeutung des Internet für die politische Kommunikation und die Wirkmechanismen der sozialen Netzwerke als neuer Plattformen des Wahlkampfes geschickt bespielt, ist mit seinen zwei Metern ein Riese. Mit seiner Partei will er noch höher und legt die Messlatte weit oben an. Doch schon jetzt liegt die Erfolgsquote des Partei-Modernisierers bei 100 Prozent. Dem Mann, der drei Jobs als Entwickler, Controller und Vertriebler in Personalunion auf sich vereinigt, ist es zu verdanken, dass die Grünen bei den Landtagswahlen in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg Rekordergebnisse einfuhren. Kellner, der gern im Hintergrund die Strippen zieht, baut die Erfolgsbühne auf der das grüne Chefduo Robert Habeck und Annalena Baerbock steht. Der ehemalige Büroleiter von Claudia Roth hat mit seiner Taktik nicht nur bei der SPD indirekt für einen beispiellosen Absturz gesorgt, sondern seine eigene Partei nach dem Abgang des Übervaters Joschka Fischer 2005 aus der inhaltlichen Sklerose befreit. Aus einer Spießerpartei formte er kurzerhand eine neue Avantgarde.

Der Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, der während des Politikstudiums in Potsdam zur Partei kam und dort zum linken Parteiflügel zählt, spricht im Superwahljahr schon von einer „Zeitenwende in der deutschen Politiklandschaft.“ Und auch dass man im Wahljahr nicht an den Grünen vorbeikommt, daran lässt er keinen Zweifel. „Deutschland erlebt nicht nur erstmals einen Wahlkampf ohne amtierende Kanzler*in, sondern auch mit den Grünen als führende progressive Kraft eine neue Form der Auseinandersetzung fernab der alten Denkmuster von Volksparteien und Lagerdenken.“ Und gerade deshalb zielt das Programm der Grünen auf eine breite Zielgruppe. Die Parole heißt nun Einigkeit: „Wir sind dafür vorbereitet, wir ziehen alle an einem Strang.“

Schaltzentrale der Macht – Die Agentur „Neues Tor 1“

Um den Dampf im politischen Kessel richtig anzuheizen, war es wiederum Kellner, der zur strategischen Unterstützung der Parteigranden die neue Agentur „Neues Tor 1“ aus der Taufe hob. Der Agenturname steht nicht nur programmatisch für die Adresse der Parteizentrale in Berlin-Mitte, sondern fungiert auch als Kampfansage an die Union um Platz eins im Rennen um das Bundeskanzleramt. „Vom zweiten Platz aus kämpft man klar um das entscheidende Tor zum Sieg“, so Kellner. Mit der Projektagentur, die allein für die Kampagnenaktivitäten für den Bundestagswahlkampf 2021 gegründet wurde, steht Kellner ein kampferprobtes achtköpfige Kernteam zu Seite, in dem erfahrene Campaigner und Beraterinnen sowie Digitalexperten und Kreative aus den verschiedensten Agentur- und Organisationshintergründen arbeiten. Mit im Team ist Kurt Georg Dieckert, Chef der Berliner Agentur Dieckertschmidt, der bereits die Europawahlkampfkampagne erfolgreich verantwortete. Mit Matthias Riegel ist einer der strategisch einflussreichsten PR-Berater mit an Bord, der Winfried Kretschmann zum wiederholten Sieg in Baden-Württemberg verholfen hatte. Der Bundeswahlkampf 2017 war ohne Riegel nicht denkbar. Unter dem Label „Ziemlich beste Antworten“ rekrutierten die Grünen bereits damals ein Team aus der Partei nahe stehenden Werbefachleuten. Nun ist es 2021 wieder an Riegel, den Bundesvorstand der Grünen strategisch zu beraten und zugleich die „dramaturgische Leitung“ im Wahlkampf zu übernehmen. Mit Theresa Reis (zuletzt beim WWF), die sich im Berliner Wahlkampf 2020 profilieren konnte und Berit Leune, einer erfahrenden Marketing-Expertin, die sich ihre Meriten in den Kommunikationsabteilungen von Coca-Cola und BMW verdiente, ist Kellner grüne Zukunftsschmiede bestens aufgestellt.

Michael Kellner bleibt auf Konfrontationskurs – und er ist einer mit dem die Parteienlandschaft in Deutschland weiter rechnen muss. Der größte Fehler wäre es, den Wahlkampfmanager zu unterschätzen. Wohin er seine Partei in den letzten Jahren geführt hat, dokumentieren anschaulich die Umfragewerte der Grünen, die nach den Schummel-Aktionen in der Vita Baerbock zwar Federn gelassen hat, nichtsdestotrotz aber zweitstärkste Kraft im Land ist.

Interview mit Lars Klingbeil – SPD-Generalsekretär: Die Volksparteien werden wieder stärker

Stefan Groß-Lobkowicz18.06.2021Medien, Politik

The European traf den SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Der Politiker ist davon überzeugt, dass die Volksparteien wieder eine Renaissance erleben und seine Partei bei der Bundestagswahl über 20 Prozent kommt.

Ist die Volkspartei aus der Mode gekommen?

Ich glaube das Gegenteil. Wir werden sogar eine Renaissance erleben, weil die derzeitig polarisierte Gesellschaft, wo Verschwörungstheoretiker einerseits auf die Straße gehen und wo sich durch Corona andererseits viel verändert hat, letztendlich dazu führen wird, dass sich die Menschen wieder rückorientieren wollen. Und dann kommen die großen Fragen, die nur die Volksparteien beantworten oder lösen können: Wer kann Brücken bauen, war kann Zusammenführen, war kann unterschiedliche Interessen in dieser Gesellschaft zusammenbringen? Und deswegen wächst eher der Wunsch nach etwas Verbindenden in der Gesellschaft. Und das ist dann wiederum die Stunde der Volksparteien.

Die Grünen sind derzeit im Aufwind. Alles nur ein Zeit-Hype?

Man projiziert derzeit viel auf die Grünen und sie sind gerade ja auch hipp. Aber trotzdem bewerben sie sich um das Kanzleramt – und daher müssen sie sehr konkrete Fragen beantworten. Es ist was anderes, ob ich den Lifestyle oder das Lebensgefühl einer politischen Richtung mag oder ob ich tatsächlich so regiert werden will. Und gerade im Fall Annalena Baerbock wird sich noch vieles relativieren.

Was hat die Union in den letzten Jahren verkehrt gemacht?

Wie viel Zeit haben wir? Aber Nein! Wir haben mit der Union in Coronazeiten gut regiert. Aber gerade der Maskenskandal, das Thema Aserbaidschan, der umstrittene Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg-Maaßen als Bundestagskandidat der CDU und dass wir Jens Spahn beim Impfen immer treiben mussten – all das war für uns schon sehr erschütternd. Aber man merkt, hinter Angela Merkel tritt ein großes Vakuum auf. Und der Machtkampf zwischen Markus Söder und Armin Laschet hat viel vom öffentlichen Ansehen der Union kaputtgemacht.

Was waren die großen Themen, die die SPD in der Großen Koalition umgesetzt hat?

In der Coronazeit haben wir eine der wichtigsten staatlichen Leistungen, die Kurzarbeit, auf den Weg gebracht. Das hat mehrere Millionen Jobs gesichert. Mit unseren Leistungen um den Familienbonus hat die SPD daher zwei große Themen in der GroKo umgesetzt. Aber auch der Mindestlohn wurde angehoben, das wehrhafte Demokratiegesetz gegen Rechtsextremismus und Ausgrenzung ist auf dem Weg. Jetzt geht es uns noch um die Nachschärfung beim Klimaschutz.

Mit welchen Prozentwünschen gehen Sie in die Bundestagswahl?

Ich will nach oben. Als niedersächsischer Sozialdemokrat kenne ich Ergebnisse über 30. Aber: Wir müssen jetzt erst eine Aufholjagd hinlegen. Und dann glaube ich, dass wir sehr deutlich über 20 Prozent kommen.

Die Fragen stellte Stefan Groß

Hubert Aiwanger: Traditionelle Werte finden in der CDU nicht mehr statt, sondern nur noch grüner Mainstream

Stefan Groß-Lobkowicz11.06.2021Medien, Politik

Die Freien Wähler haben Konjunktur. Geht es nach dem bayerischen Wirtschaftsminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger, dann könnte seine Partei bald auch in Berlin mitspielen. Es muss kein Traum, so der Partei-Chef, im nächsten Bundestag in der Opposition zu sitzen.

Herr Aiwanger, die Freien Wähler haben gegen die Bundesnotbremse protestiert? Zuviel Gängelei in Berlin?

Wir sagen ganz klar, dass die Maßnahmen, die wir zur Corona-Bekämpfung brauchen, am besten auf Länderebene aufgehoben sind und uns nicht vom Bunde her vorgeschrieben werden. Wenn wir vor Ort meinen, es ist anders besser, sollten wir das auch tun können. Dazu brauchen wir Berlin nicht und deswegen haben wir gegen die Bundesnotbremse geklagt.

Ihre Partei konnte in diesem Jahr in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg zulegen, woran liegt das?

Wir Freien Wähler sind seit Jahrzehnten stark in der Politik tätig. Wir wissen, was vor Ort los ist und vertreten die Themen der Menschen, die diese bewegen. Und dieses Politikmodell fehlt mittlerweile auf Berliner Ebene. Und so gewinnen wir immer mehr den Eindruck, dass da Themen kommen, die nicht zu Ende gedacht sind – wie zum Beispiel die Bundesnotbremse. Daher ist es nur verständlich, dass sich immer mehr Bürger den Freien Wählern zuwenden, Menschen, die noch für Eigentum, für Mittelstand, für Familie, für Heimat – also für die vernünftigen begriffe vor Ort stehen.

Wer wählt die Freien Wähler und warum gehen Sie auf Distanz zur Union?

Wir sind weiterhin stabil, während die CDU die traditionellen Themen aufgibt. Traditionelle Werte finden ja in der CDU nicht mehr statt, sondern nur noch grüner Mainstream. Dazu bedarf es der Freien Wähler, um dies zu korrigieren.

Bundestagswahl 2021. Wie stehen die Chancen?

Umfragen auf Bundesebene sehen uns bei drei Prozent. Immer mehr Bürger nehmen und wahr und nehmen uns wahr als eine vernünftige Kraft der Mitte, die in Berlin dringend fehlt. Wir werden die Zeit bis zur Bundeswahl nutzten, uns noch bekannter zu machen.

Wenn die Freien Wähler in den Bundestag kommen, gehen Sie dann nach Berlin?

Ich werde, wenn ich aufgestellt werden, die Bayernliste anführen. Und sollten wir in den Bundestag einziehen, werde ich aus Berlin die Dinge für ganz Deutschland steuern und damit auch für meine bayerische Heimat mehr bewegen können.

Fragen:  Stefan Groß

Interview mit Katharina Schulze: In der Großen Koalition herrscht eine gewisse Müdigkeit

Stefan Groß-Lobkowicz1.06.2021Medien, Politik

Die Grünen sind auf der Überholspur. Und mit Annalena Baerbock stellen sie sogar Merkels Nachfolgerin. Warum man grün wählen sollte, erklärt uns Katharina Schulze. „The European“ traf die Vorsitzende der Fraktion der Grünen im bayerischen Landtag.

Warum sind die Grünen derzeit auf der Überholspur?

In unserer Gesellschaft gibt es einen großen Wunsch nach Veränderung. Das Weiterwurschteln und Status-Quo-Verwalten der Großen Koalition reicht vielen Menschen daher nicht mehr, weil diese spüren, dass wir vor großen Herausforderungen stehen und daher eine Regierung brauchen, die ebenfalls über sich hinauswächst. Für diese Erneuerung der Gesellschaft stehen letztendlich auch wir Grüne.

Was haben die beiden großen Volksparteien in den letzten Jahren falsch gemacht?

Bei der Großen Koalition gibt es eine große Müdigkeit, das gilt für Olaf Scholz, für Angela Merkel oder für Markus Söder in Bayern. Es wird einfach nur verwaltet. Aber dieses Verwalten allein reicht nicht. Wir müssen in die Zukunftstechnologie und in die Digitalisierung investieren. Wir müssen endlich die Klimakrise in den Griff bekommen und mehr Geld für die Bildung in die Hand nehmen, damit wir beim Thema Chancengleichheit weiterkommen. In meinen Augen haben sich Union und SPD in den letzten Jahren zu sehr auf dem ausgeruht, was schon da ist. Aber Ausruhen reicht nicht, wir müssen Zukunft gestalten, damit auch nachfolgende Generation hier gut leben können.

Wie stehen die Chancen, dass Annalena Baerbock die erste Kanzlerkandidatin der Grünen wird? Was zeichnet sie aus?

Ich bin froh über sie. Sie hat das Herz am rechten Fleck, einen klaren Wertekompass und vor allem ist sie strategisch-politisch sehr klug. Wir Grüne sind mit ihr bestmöglich aufgestellt. Ich freue mich auf den Wahlkampf mit ihr.

Warum sollte man Grün wählen? Ein Tipp für Unentschlossene bei der Bundestagswahl

Wem Klimaschutz am Herzen liegt, wer der Meinung ist, dass die nachfolgenden Generationen ein Recht auf ein gutes Leben haben und wem soziale Gerechtigkeit und Weltoffenheit wichtig ist, der ist bei uns richtig. Diese Themen vertreten wir und kämpfen dafür schon seit vielen Jahren. Und mit diesen werden wir auch in diesen Bundestagswahlkampf gehen.

Fragen: Stefan Groß

Wolfgang Reitzle: Der Verbrennungsmotor scheint der Feind der Grünen zu sein

Stefan Groß-Lobkowicz20.05.2021Medien, Wirtschaft

Er ist einer der wichtigsten Wirtschaftslenker der Bundesrepublik. Wolfgang Reitzle spricht im Interview mit „The European“ Klartext zur Energiewende. “Der Verbrennungsmotor scheint der Feind der Grünen zu sein und da geht es gar nicht mehr um das Klima,” betonte der Professor der Technischen Universität München.

Er war mal „Mister BMW“, hat Linde saniert und kämpft bei Continental gegen die Krise des Automobilzulieferers: Wolfgang Reitzle kennt die deutsche Industrie wie kein zweiter. Im Gespräch kritisiert er die Klimapolitik in Deutschland. Sie setze auf Verbote statt auf Lösungen. Die Konzentration auf E-Mobilität hält er für ideologisch verbohrt.

Das Klimaschutzgesetz wird noch einmal nachgebessert, nachdem das Verfassungsgericht Kritik übte. Was halten Sie davon?

Die Energiewende war von Anfang an nicht sauber durchdacht und ist im Hauruck-Verfahren damals nach Fukushima und vor einem Wahlkampf in Baden-Württemberg beschlossen worden. Man sieht die Auswirkungen heute sehr deutlich: Wir haben als Konsequenz aus einer verkorksten Energiewende den teuersten und schmutzigsten Strom überhaupt, der zudem ungeeignet ist für die Elektromobilität. Aktuell ist man dabei, diesen Schnellschuss zu wiederholen und das Klimaschutzgesetz weiter zu verschärfen. Das passiert, ohne das zu durchdenken und ohne sich die Zeit zu nehmen, es gesamthaft zu bewerten und in allen Facetten und Auswirkungen auf Bevölkerung, Industrie und Wohlstand abzuklären. Ich frage mich: Wie kann man so etwas in weniger als vierzehn Tagen verabschieden, zumal das Bundesverfassungsgericht es gar nicht gefordert hat. Dort wollte man eine Lösung bis Ende des nächsten Jahres und sich in Ruhe damit beschäftigen. Wir machen also den Fehler der Energiewende nochmals – nur stärker.

Wie kann das Ihrer Meinung nach passieren?

Das hat mit der Bundestagswahl und den Grünen zu tun, die derzeit den Aufschwung verspüren. Und tatsächlich sitzen sie mit ihrem Klima auf einem Jahrhundertthema. Aber sie machen das meiner Meinung nach mit dem falschen Ansatz: mit Planwirtschaft, Verboten, mit Vorgaben, wie wir zu leben haben, statt dass sie technologieoffen herangehen. Man sollte es der Wirtschaft und den Ingenieuren überlassen, wie wir die Klimaziele erreichen. Was da jetzt aber abläuft, ist im Grunde fast schon ein Irrsinn. Man unterwirft alles – das ganze Leben der Menschen – nur einem Thema: Klima. Ich bin auch für Klimaschutz, aber nicht mit Plan-, sondern mit Marktwirtschaft.

Das wird sich unter einer grünen Regierung in Deutschland im September nicht ändern.

Ja, das kann man sich vorstellen. Und die Hast dieses Gesetzes, das wir noch massiv bereuen werden, weil das so gar nicht umsetzbar sein wird – und weil die Leute, die es beschlossen haben, gar nicht wissen, was sie dort beschlossen haben – ist natürlich im Licht der Bundestagswahl geschehen, weil jetzt jeder versucht, sich einen grünen Anstrich zu geben und damit besser abzuschneiden. Aber es ist tragisch, wenn solche kurzfristigen politischen Motive dazu führen, dass ein ganzes Land unnötigerweise massive Wohlstandsverluste erleidet. Für mich ist das nicht nachvollziehbar und in der Wirtschaft undenkbar.

Vor Jahren wurde der Diesel gehypt, jetzt ist er der böse Bube, warum?

Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Der Verbrennungsmotor scheint der Feind der Grünen zu sein, und da geht es gar nicht mehr um das Klima. Wir könnten an synthetischen Kraftstoffen forschen, also Kraftstoffen, die beim Verbrennen kein CO2 ausscheiden. So könnte man alle 1,4 Milliarden Fahrzeuge, die in der Welt unterwegs mit Verbrennungsmotor sind, mit solchen Kraftstoffen schlagartig CO2 frei machen. Das geht aber nicht mit einer Elektromobilität, die jetzt für neue Fahrzeuge erzwungen wird. Wir sind so eng in der Betrachtung und vereinfachen komplexe Themen – und das machen die Grüne sehr gerne in schwarz und weiß, in gut und böse. Der Dieselmotor scheint böse zu sein. Es wäre aus meiner Sicht wunderbar, wenn die Diesel- oder Benzinmotoren mit einem CO-2 freien Kraftstoff laufen würden. Für die Grünen hingegen scheint das schlecht zu sein. Sie wollen das Thema synthetische Kraftstoffe einfach nicht angehen, weil dann der Verbrenner ja erhalten bliebe. Und die berechtigte Frage meinerseits wäre: Geht es ihnen um das Klima oder ist der Verbrennungsmotor das Böse schlechthin? Für mich hat diese Diskussion mit Rationalität und Fakten nicht mehr viel zu tun. Vielmehr frage ich mich im Umkehrschluss: Haben die Grünen vielleicht über die Klimapolitik vor, uns Bürgern genau vorzuschreiben, was wir zu tun haben und die von ihnen ausgewählte Technologie ist alternativlos?

Das Gespräch führte Stefan Groß

Prof. Wolfgang Hans Reitzle ist ein deutscher Wirtschaftsmanager. Von 2003 bis 2014 war er Vorstandsvorsitzender der Linde AG und seit 2016 ist er Chairman der Linde plc. Unter anderem war er zudem von 2014 bis 2016 Verwaltungsratspräsident von LafargeHolcim und ist seit 2009 Aufsichtsratsvorsitzender der Continental AG.

100. Geburtstag von Joseph Beuys – Ein Metaphysiker?

Stefan Groß-Lobkowicz13.05.2021Medien, Wissenschaft

Die Kunstwelt hat ihn gefeiert und gehypt. Keinem deutschen Künstler der Nachkriegszeit wurde ein größeres mediales Echo zuteil. Und Beuys blieb zu Lebzeiten und weit über seinen Tod hinaus eine Ikone, einer, der neue Maßstäbe des künstlerischen Schaffens setzte, permanent provozierte und doch nur die heile Welt wollte. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Für die einen war er ein Scharlatan, ein überspitzender Provokateur, der sich in der Inszenierung suchte und fand, der die Kunst für seine egomanen Selbstzwecke instrumentalisierte, ein Überschätzer zugleich, der mit den Möglichkeiten der Kunst kokettierte – und doch nichts anderes als Banalitäten hervorbrachte. Einer, der fast symptomatisch immer das Gegenteil von dem tat, was man erwartete. Der Kunstkritiker Otto Heinrich Stachelhaus brachte es bereits 1996 auf den Punkt: „Er tat in Wahrheit immer das Andere, immer das was scheinbar abwegig war – 100 Tage auf der documenta reden, sich in Filz einwickeln, stundenlang auf einem Fleck stehen, mit einem Kojoten zusammenleben, Leuten die Füße waschen, Gelatine von der Wand nehmen, den Wald fegen, dem toten Hasen die Bilder erklären, eine Partei der Tiere gründen und das Messer verbinden, als er sich in den Finger geschnitten hatte.“

Für die anderen ist der vor hundert Jahren in Krefeld geborene legendäre Professor der Düsseldorfer Kunstakademie, der auf der „documenta 7“ 1982 mit seinen 7000 Eichen ein gigantisches Landschaftskunstwerk initiierte und sich damit wegweisend als Klimaschützer der ersten Stunde par excellence entwarf, eine Art Heiliger, ein Hirte, ein Schamane und Alchimist – ein Magier, der verzaubert. Beuys wird für seine Anhänger zur Symbolfigur, zur Inkarnation von Anarchie, zum Schmerzensmann, zum Kämpfer gegen die Spießer-Nachkriegsidylle, die sich unkritisch in ihren dekadenten Sofaecken sozial befriedet. Beuys, der entgegen der Moderne samt ihrem Rationalismus, in Metaphern und Symbolen arbeitet, wollte mehr. Er kämpfte gegen das Establishment in Politik, Gesellschaft und Kultur, gegen die glatt polierten Oberflächen des Banalen, gegen den Ungeist der Zweckoptimierung, gegen die Einseitigkeit des Rationalen, der er das Emotionale, das Animistische, das Magische und Ätherhafte entgegenstellte. Er kratzte förmlich an den bürgerlichen Fassaden, riss den bröckelnden Putz hinter den barocken Kulissen hinunter, stieg in die Brunnenstuben der Ohnmacht und entzündete dort für die Entrechteten und Geknechteten die Kerzen. Er legte sie offen, die Ambivalenzen dieser Welt, die Ängste, ihre Perversionen und schuf den Raum für das Verdrängte, für das Unheilige, für die Tiefendimension und den Weltinnenraum, jenseits von Zweckoptimierung und kapitalistischer Ausbeutung. Ja, Beuys war Mystiker zum einen und doch zutiefst leidenschaftlich pragmatisch andererseits. Nichts anders als die Welt zu verändern, war seine Vision. Doch diese kraftvolle Revolte suchte er nicht aus dem Gegebenen, dem Sinnlichen, der Materie heraus, sondern aus dem Geisthaften, dem Kosmos, mittels einer metaphysischen Ordnung. Um nichts weniger ging es dem Kaufmannssohn, der die katholische Volkschule in Kleve besuchte, der Cello spielte und zuerst mit Edward Munch, William Turner und Auguste Rodin majestätische Vorbilder entdeckte, die er dann mit seinem generellen Abschied vom Prinzipiellen, dem traditionellen Kunstbegriff, opfern und seine Idee der sozialen Plastik oder Skulptur entgegenstellen wird. Die soziale Plastik bedeutete für den Künstler eine Veränderung der Gesellschaft nicht aus dem Geist des in Blut getünchten, mit Opfern besiegelten Klassenkampfes, der in der wilden Revolution seine Hände beschmutzt, sondern eine Revolution aus der Kunst selbst heraus strebte er an.

Der Konsumgesellschaft der 60-er und 70-er Jahre stellte der zeitweise teuerste Künstler der Welt, teurer als die damaligen Pop-Art-Ikonen Robert Rauschenberg oder Andy Warhol, seine Vision einer sozialen Gesellschaft samt sozialer Plastik gegenüber. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ hieß das provokative Projekt. In jedem Individuum steckt das kreative Potential, künstlerisch tätig, kreativ und transformativ zu sein. Für Beuys galt es als „umfassende schöpferische Umgestaltung“ des Lebens „eine Gesellschaftsordnung wie eine Plastik“ zu formen. Und tatsächlich wollte er den „neuen“ Menschen, der sich progressiv zur Gesellschaft hin verhält, der selbst Kristallpunkt der sozialen Frage ist, personalisierte Skulptur quasi, die die Welt verändert. Und Kunst derart performativ verstanden, überschreitet ihr traditionelles Sujet als materiell zu fassender Artefakt und kulminiert in „Fluxus“, Enviroment und Happening. Es ist nicht mehr das Kunstwerk als statische Bezugsgröße, als vielleicht postmodern variable Form der freien Sinnauslegung, auf das alles ankommt, sondern es ist wie bei der Fluxus-Bewegung die schöpferische Idee, die alles überragt und allem Sinnlichen Sinn verleiht.

Die Wunden heilen

Joseph Beuys wusste, dass sich die am Materialismus erkrankte westliche Welt nicht selbst zu transformieren weiß. Und dementsprechend harsch und radikal fiel seine Kritik am Kapitalismus dann eben auch aus. Der neoliberalen Optimierungsmaschinerie, die wie ein Gewehrfeuer brausend, knatternd und unerbärmlich nur ein Weiter und Immerfort kennt, stellte er ein Ideal vom Menschen gegenüber, der durch sein kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt und dadurch plastisierend auf die Gesellschaft einwirken könne. Dem maschinellen Raubtierkapitalismus mit seiner perfiden Ratio und der ihm inhärenten Mentalität einer ihm wesenseigenen Ausbeutung setzte er seine Vision von Brüderlichkeit entgegen, einen wahrhaften, keineswegs doktrinär-diktatorisch eingefärbten Sozialismus. Und genau für seine sozialen Zukunftsvisionen interessierte Beuys immer wieder die Natur und die Tierwelt. Idealtypisch für die neue Vision wurde der Wärmecharakter des Bienenstocks als Metapher, um zu zeigen, wie sich die Eigeninteressen dem Gesamtwohl unterordnen. Der Bienenstock wie die legendäre „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ auf der „documenta 6“ 1977 in Kassel, die Stoffe Filz und Fett, werden für ihn zu Existentialen, aus denen seine Kunst erstrahlt. Und immer lautete sein Credo: Das Eigene zurückstellen und sich dem Ganzen befördernd unterordnen. Dieser Programmatik lag zweifelsohne ein humaner Impuls zugrunde, der Bienenstock glich einer Art sozialer „Wärmeskulptur“.

Es sind immer wieder die armen, dürftigen, traurigen Materialien gewesen, die verfemten und verleugneten, die der Glitzerwelt der Metropolen nicht entsprechen, weil sie Dürftigkeit als Gewand tragen, die der Kunstprofessor zum Sprechen und Leuchten bringen will. Und so wird es eine Arte Povera, um die der ebenso medial-scheue wie Blitzlichtgewitter atmende Schüler von Rudolph Steiner von Ewald Mataré, Joseph Beuys, kreist. Dass er sich von seinen hehren Idealen auch nicht von einem SPD-Minister aus der Umlaufbahn werfen ließ, musste der damalige Johannes Rau erfahren. Der spätere Bundespräsident hatte Beuys 1972 entlassen, weil dieser, gemäß seinem Credo, jeder sei ein Künstler, zu viele Studenten in seine Kunstakademiekurse zuließ und die Akademie in Düsseldorf mit spektakulären Aktionen besetzte. Doch seine Schüler skandierten: „1000 Raus ersetzen noch keinen Beuys.“

Der grüne Beuys und die Metaphysik

Erde, Natur, die Verbundenheit mit der Scholle – dafür steht der grüne Beuys, der weit früher als Jutta Ditfurth, Petra Kelly, Thomas Ebermann, Rainer Trampert, Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit die Ideen der Grünen realisierte. So sehr Beuys grün denkt und handelt, sein Naturbegriff verdankt sich völlig anderen Fundierung, eben einer metaphysischen Fundierung. Beuys plädiert für ein ganzheitliches Weltbild, spielt mit animistischen Denkansätzen, wo alles – wie bei der Signaturenlehre der Alchemisten – belebt wird, wo alles Spur oder Zeichen eines allumfassendes Geistes ist. Die Welt bestehe gar aus verstreuten göttlichen Funken, die zu einem Urlicht gehören. Und Beuys, der Provokateur, glaubt, dass die Kunst sowohl die Welt in ihrer Zerrissenheit darstellt, diese aber zugleich wieder auf höherer Ebene versöhnt. Mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner sucht er die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten jenseits der physischen Welt. Er will mit seiner metaphysischen Kunsttheorie nicht Materialbrocken zu skurrilen oder provozierenden Collagen zusammenfügen, sondern in höhere Welten ausgreifen. Ihm geht es um das Ganze und Große, um das Mysterium von Leben und Tod, um die Verwandlung, das Wechselspiel. Doch wie bei Steiner sollten Himmel und Erde nicht unvermittelt nebeneinander stehen, Metaphysik und blanke Physik galt es zu verbinden, das „Rein-Geistige“ mit dem Alltäglichen zu konfrontieren. Beuys, der 1986 nach einer seltenen Entzündung des Lungengewebes, einer interstitiellen Pneumonie, an Herzversagen starb, wollte das Heilige in die Städte hinabholen und auf die Märkte tragen. Wie der Romantiker Novalis und der Philosoph Schelling spricht er vom Weltgeist, vom Gehirn als einer „materiellen Unterlage des Denkens“, das an höhere geistige Prozesse angeschlossen ist. Und dieses Angeschlossen-Sein an den Ursprung ermöglicht dem Geist zu empfangen und zu geben, passiv und aktiv zu sein. Als höchste Form des Inspiriertseins ist das Denken an den kreativen Strom der Evolution angeschlossen – und wie es in der „Lembruck-Rede“ heißt, selbst Skulptur.

Wie für seinen Lehrmeister Steiner und dessen Anthroposophie führt Freiheit immer über spirituelle Erkenntnis, bedarf der Kräfte der Inspiration, Intuition und Meditation. Doch hieran sieht Beuys seine Welt erkrankt, zeichnet sein Unbehagen an der Kultur, die unter dem Einfluss des Rationalismus und Materialismus den Bezug zum Geistigen verloren habe. Und genau hier sucht er die Wunden zu heilen, die die Welt geschlagen hat. Steiner einerseits, Platon andererseits. Beuys will das rein Rationale durch das Geistige brechen, will mit seiner Kunst neben der Provokation eine Sensibilisierung erreichen. Er selbst versteht sich als „göttlicher Plastiker.“ Kunst und Anthroposophie versteht er als Heilmittel, als Arzneien, die auch in ihrer Dürftigkeit als Filz, Fett, Lehm einerseits und aus edlen Materialien wie Honig, Gold, Kupfer und Basalt, die Welt in ihrer Fülle, als Ausgießung des Weltgeistes, darstellen. Der Künstler, und darin sieht sich Beuys, stiftet qua Inspiration und Intuition Hoffnung, bleibt als spiritueller an die Evolution angeschlossen, spiegelt diese ewigen Evolutionsvorgänge in der Natur, in seinem Denken und der sozialen Skulptur wieder und erweist sich so als plastisch-schöpferischer Gestalter. Wie die Natur ihren ewig-schöpferischen Prozess vollzieht, gestaltet Beuys die ewigen Muster in seiner plastischen Theorie nach. Materialien wie Fett variiertet er spielerisch zwischen den Polen des Amorphen und Geformten und lässt sie so zu Spiegelbildern des Kosmisch-Metaphysischen werden. Und wenn er buchstäblich in seiner Kunst das Unschöne, Hässliche, Alter, Tod, Schwäche und Verfall zeigt, so ist das ausdrücklich die andere Seite des Kosmos, die aufzuzeigen, zu benennen er als die heilende Funktion der Kunst verseht. Und so erwächst das vom Leben oft Verdrängte zum Ort des spirituellen Anstoßes, zur Selbstversicherung und erweist sich letztendlich als der Hort der Spiritualität, der Kosmisches und Endliches miteinander versöhnt. Und für diese generelle Versöhnung steht letztendlich auch Joseph Beuys.

Wohin rot-grüne Politik führt, sieht man in Berlin

Stefan Groß-Lobkowicz1.05.2021Medien, Wissenschaft

„The European“ traf den Soziologen und Wirtschaftsexperten Rainer Zitelmann zum Gespräch. Man muss ja nur in die Hauptstadt schauen, um zu sehen, was unter einer rot-rot-grünen Koalition passiert. Die Berliner Linksregierung bekommt es hin, ein Dokument mit über 40 Seiten Sprachvorschriften für politisch korrektes Sprechen auszuarbeiten, aber gleichzeitig kann sie nicht verhindern, dass täglich zwei Autos brennen, allein im vergangenen Jahr waren es 700.

Es grünt so grün in Deutschland: Was erwarten Sie 2021 für die Bundestagswahl rot-rot-grün oder schwarz-grün?

Rainer Zitelmann: Das kann man heute nicht sagen. Aber wenn es rechnerisch reichen sollte, werden die Grünen nicht mit der Union, sondern mit der SPD und der Linken zusammengehen. Baerbock will ja lieber Kanzlerin mit einem Vizekanzler Scholz werden als Vizekanzler unter einem Kanzler, den die Union stellt. Aber eines ist gewiss: Die Grünen und die SPD werden das vor den Wahlen niemals klar sagen, sondern die Wähler täuschen und im Unklaren lassen, um nicht bestimmte Wählergruppen durch die Wahrheit zu verprellen.

Wie stark ist die Union von den 68ern geprägt und war es erst die Kanzlerin, die diese Links-Mitte-Verschiebung initialisierte?

Nein, das ist ein großer Irrtum, der durch mein Buch „Wohin treibt unsere Republik?“ widerlegt wird. Merkel hat nur eine Entwicklung vollendet, die sehr viel früher begonnen hat. Ich habe das Buch ja 1994 geschrieben, und ein ganzes Kapitel der Linksentwicklung der Union gewidmet. In dem Kapitel hatte ich geschrieben, mit der sogenannten Modernisierung der Union sei „im Grund jedoch nichts anderes gemeint als die Anpassung an den von 1968 geprägten Zeitgeist“. Und: „Bei vielen Fragen ist es heute schon so, dass die Grünen die Richtung vorgeben, dann die SPD nachzieht und schließlich die Union mit einem deutlichen Verzögerungseffekt nachhinkt.“

Elektroautos, Treibhaus-Emissionen senken. Immer mehr Verbote kommen aus der Politik – und auch von den Grünen. Warum lassen wir uns das bieten? Oder ist Deutschland einfach der Politik müde?

Die Deutschen waren immer schon staatsgläubig. Und wenn es große Probleme gibt – wirkliche oder scheinbare – wird immer nach dem Staat gerufen. Es wird seit Jahren ständig vom Marktversagen gesprochen, aber ich spreche vom Staatsversagen. Man sieht das ja jetzt in der Corona-­Krise: Der Staat ist vollkommen unvorbereitet und reagiert chaotisch. Da funktioniert nichts, angefangen von der Impfstoffbeschaffung über die nicht funktionierende App bis hin in die Gesundheitsämter. Was funktioniert hat, sind kapitalistische Unternehmen, also die stets als „Big Pharma“ diffamierten Firmen. Es sieht jedoch so aus, als ließen sich die Deutschen dadurch nicht beirren. Meine These: Der Staat ist viel zu stark, wo er schwach sein sollte (in der Wirtschaft) und viel zu schwach, wo er stark sein sollte (also z.B. in der äußeren und inneren Sicherheit, wozu auch die Corona-Bekämpfung gehört).

„Zwar entscheiden die Wähler alle vier Jahre über die Wiederwahl eines Politikers bzw. einer Partei, aber die Medien können praktisch täglich darüber entscheiden, ob Verfehlungen eines Politikers zum ‚Skandal’ werden“, so Ihr Argument. Was hat sich in den letzten 30 Jahren in der medialen Welt verändert?

Das Zitat entstammt meinem Buch, in dem ich mich ausführlich mit der Macht der Medien auseinandersetze. Diese Macht ist nach wie vor groß, und zwar vor allem, weil die Politiker an diese Macht glauben und sich mehr nach den Medien ausrichten als nach ihren Wählern. Früher war es ja in der Tat so: Alle Menschen haben drei Fernsehprogramme geschaut und Tageszeitungen gelesen – und im Wesentlichen die Meinungen übernommen, die dort vertreten wurden. Heute schauen überwiegend Leute in meinem Alter Fernsehen oder lesen Zeitung. Die jungen Menschen werden doch viel stärker durch ­sozia­le Medien geprägt und auch viele Ältere stehen Medien skeptisch gegenüber. Trotzdem verhalten sich die Politiker so, als seien die Medien noch allmächtig. Mich bringt das bei meiner eigenen Partei, der FDP, oft zur Verzweiflung, die nur deshalb nicht klarer Position bezieht, weil sie Angst hat vor dem linken Mainstream.

Die CDU ist gespalten: Links, konservativ Mitte. Wie weiter, oder zerfällt sie, wenn sie zum Markenkern eines „kritisch-national orientieren Konservativismus“ nicht zurückkehrt?

Die CDU hat heute als Partei weder ein positives Verhältnis zur Marktwirtschaft noch ein positives Verhältnis zur Nation. Früher gab es einen Flügel in der CDU, der das abgedeckt hat, beispielsweise ein Alfred Dregger. Ich denke, unter den Mitgliedern gibt es immer noch welche, die so denken, aber die Funktionäre denken mehrheitlich nicht so, wie die Wahl von Laschet gezeigt hat. Ich bin ein großer Fan von Wolfgang Bosbach, aber der ist ja resigniert und hat das Handtuch geworfen. Selbst in der CSU ist jemand wie mein Freund Peter Gauweiler nicht mehr in führender Position denkbar. Da dominieren gnadenlose Opportunisten wie Markus Söder, ergänzt durch linke Antikapitalisten wie den Entwicklungs­hilfeminister Gerd Müller. Ich hoffe ja nach wie vor, dass die FDP die Lücke erkennt, die dadurch entstanden, dass sich die CDU immer mehr Richtung Linksgrün und die AfD immer mehr Richtung „Sozialpatriotismus“ und Rechtsaußen entwickelt hat.

Sie haben in Ihrem Buch „Wohin treibt unsere Republik?“, das 1994 zuerst erschienen war und 2021 wieder neu aufgelegt wurde, eine Partei rechts der CSU vorausgesagt. Doch die AfD ist am Ende, oder?

Ich habe vorausgesagt, dass sich eine solche Partei neu gründen wird, das stimmt. Ich habe aber in dem Buch auch hinzugefügt, dass sich diese Partei nach ihrer Gründung immer weiter nach rechts entwickeln wird. Beide Thesen habe ich ausführlich begründet – es würde zu weit führen, diese Begründungen hier darzustellen. Jeder kann sie in dem Buch nachlesen, auf Seite 195 f. Beides ist dann ja auch genauso eingetreten. Wer das nachliest, der versteht, warum sich die AfD von einer konservativ-wirtschaftsliberalen Partei immer mehr in Richtung einer „sozialpatriotischen“ Rechtsaußen-Partei entwickelt hat.

Die FDP will wieder an die Macht, nachdem sie sich bei der letzten Bundestagswahl gedrückt hatte.  Es sei „besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren,“ hatte 2017 FDP-Chef Lindner erklärt! Was muss die FDP anders machen?

Ich fand es absolut richtig, wie Lindner sich damals entschieden hat. Die FDP hätte keine Chance gehabt, in einer Koalition mit Merkel und den Grünen irgendwelche Positionen durchzusetzen. Leider scheint es mir im Moment so, als wolle sie regieren um jeden Preis und als habe der Satz „besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ keine Gültigkeit mehr. Die FDP ist vor allem zu ängstlich. Ich habe viel Kontakt zu vielen Bundestagsabgeordneten der FDP, der ich ja seit 1995 angehöre. Ich weiß daher zum Beispiel, dass viele für Kernenergie sind. Aber die Partei traut sich nicht, das zu sagen. Ich fand es auch falsch, dass sich die FDP nach der Kemmerich-Wahl zwei Wochen lang täglich mehrfach dafür entschuldigt hat. So gewinnt man weder Respekt bei den eigenen Wählern noch bei Gegnern. Mir gefällt das aktuelle Buch von Kubicki über Meinungs(un)freiheit. Ein tolles und wichtiges Buch!  Leider kommt das wichtige Thema „geistige Freiheit“ bei der FDP in der Tagespolitik jedoch nicht vor. Ich würde es, neben der wirtschaftlichen Freiheit, zum zentralen Thema der FDP machen.

Sie haben immer vor rot-rot-grünen Koalitionen gewarnt? Warum eigentlich?

Man muss ja nur in die Hauptstadt schauen, um zu sehen, was das praktisch bedeutet. Mir ist völlig unbegreiflich, warum Union und FDP nicht täglich auf Bundesebene thematisieren, was dort in Berlin passiert. Schauen Sie mal, in Berlin wird offener Verfassungsbruch betrieben durch einen sog. „Mietendeckel“, den das Land Berlin nie hätte beschließen dürfen. Hier wird rücksichtslos in Eigentumsrechte und die Vertragsfreiheit eingegriffen. Hausbesitzer werden gezwungen, in bestehenden Mietverträgen die Mieten massiv zu senken. Die Berliner Linksregierung bekommt es hin, ein Dokument mit über 40 Seiten Sprachvorschriften für politisch korrektes Sprechen auszuarbeiten, aber gleichzeitig kann sie nicht verhindern, dass täglich zwei Autos brennen, allein im vergangenen Jahr waren es 700. Ganz zu schweigen davon, dass kriminelle Clans Teile der Stadt längst beherrschen.

Der Chef des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab träumt von einer großen Transformation, kommt da wieder jene Vision des Sozialismus und planwirtschaftlichen Denkens ins Spiel, vor dem Sie immer gewarnt haben?

Schwab ist ein großer Zeitgeist-Opportunist. Ich glaube allerdings nicht an die Theorien von Verschwörungsspinnern, die meinen, da werde gezielt von den Eliten an irgendeinem finsteren Plan gearbeitet. Das sind einfach Leute ohne Prinzipien, die sich opportunistisch dem Zeitgeist um jeden Preis anpassen wollen.

Der Staat wird immer stärker, der Einflussbereich der Marktwirtschaft schrumpft, will man eine Art ­sozialistischen Kapitalismus?

Sozialistischen Kapitalismus gibt es nicht, das wäre ja wie ein rundes Quadrat. Ich habe in meinem Buch „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“ eine Theorie entwickelt: Alle Systeme sind Mischsysteme aus Kapitalismus und Sozialismus. Dabei kommt es nicht auf das absolute Mischungsverhältnis an, sondern darauf wie es sich verändert: Entweder die Elemente von Privateigentum und Markt werden gestärkt, wie das etwa seit den 80er Jahren in China geschehen ist. Oder der Staat wird gestärkt, wie in Venezuela seit 1999. Das Ergebnis können wir in beiden Ländern beobachten. Dieses Buch mit seinen Warnungen ist übrigens die zeitgemäße Fortsetzung von „Wohin treibt unsere Republik?“, nach der ich manchmal gefragt werde.

Haben eigentlich die Reichen doch an allem Schuld und bräuchten wir nicht eine gerechtere Verteilung aller Güter auf dieser Erde wie es Papst Franziskus fordert? Sie sind der Verfechter einer ganz anderen These, aber was macht diese anders und vor allem, was ist das Argument, das diese wirklich alternativlos ist.

Der Papst sollte sich lieber auf die Verkündung der Botschaft Gottes fokussieren als sich zu Wirtschaftsthemen zu äußern, von denen er ganz offensichtlich nicht das Geringste versteht. Die Reichen waren schon immer Sündenbock für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Dabei sind mehr Reiche gleichbedeutend mit weniger Armen. Sie sehen auch das am Beispiel China: 1981 lebten noch 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut. Dann kam Deng Xiaoping mit seiner Parole: „Lasst erst mal einige reich werden!“ So ist es geschehen. Heute gibt es nirgendwo so viele Milliardäre auf der Welt wie in China (mit Ausnahme der USA). Die Zahl der Chinesen, die in extremer Armut leben, ist seitdem auf unter 1 Prozent gesunken. Deng Xiaoping hat 1000 Mal mehr gegen die Armut getan als der Papst. Ich möchte den Lesern hier kostenlos als Hörbuch das Kapitel aus meinem Kapitalismus-Buch zur Verfügung stellen, in dem ich diese Entwicklung in China beschreibe.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Der Bundesvorstand kann sich keine Kehrtwende erlauben: Laschet muss es werden, will die CDU ihr Gesicht wahren

Stefan Groß-Lobkowicz19.04.2021Medien, Politik

Es ist eine Schicksalsfrage – dies vor allem für CDU-Chef Armin Laschet. Sollte er heute als Kanzlerkandidat ins Rennen gehen, hat er eine große Bürde auf sich genommen. Wenn er scheitert, dann könnte ihn das in die politische Bedeutungslosigkeit werfen. Sein Kontrahent, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, muss das nicht befürchten. Der CSU-Chef offenbarte, dass er als Kanzler auch künftig zur Verfügung stehen wird. Mit aller Macht hat Söder der großen Schwester gezeigt, dass diese in Zukunft nicht ohne die CSU auskommen wird und Entscheidungen in Hinterzimmern immer fraglicher werden. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

Rein dynastisch gesehen sind Schwestern Blutsverwandte. Doch mit der Blutsverwandtschaft ist das gediegene Maß an Harmonie und Liebe von Haus aus, quasi als familiär-geschichtlich-gewachsenes Band, keineswegs mit-, sondern oftmals gerade aufgegeben. Dieses muss erstritten und sauer erarbeitet, konturiert und letztendlich sogar neu konstruiert werden. Diesen neuerlichen Selbstfindungsprozeß durchleiden die Schwesterparteien CDU und CSU gerade gemeinsam. Dass sich die Parteien bei ihrem internen Machtkampf um die Kanzlerfrage in Coronazeiten keinen Gefallen tun – und das Machtgezänk- und gezerre politisch unglücklich ist – davon sind viele Beobachter überzeugt. Von einer Zerreißprobe der Union ist mittlerweile gar die Rede. Und ausgerechnet die Grünen zeigen der sonst so geschlossenen, geradezu souveränen CDU und CSU wie die K-Frage gelöst wird: Ohne Aggression, Aversion, sondern geräuschlos und fast leise überlässt der Umfragekönig und der langjährige Spitzenkandidat Robert Habeck friedlich Annalena Baerbock das Feld, die nun das Schiff in die weite See hinaussteuern kann. Ob erfolgreicher Kreuzliner oder doch Titanic – das wird sich im Herbst entscheiden.

Dass CDU und CSU, die so genannte Union, sich in den letzten Jahren immer öfter und fast quartalsmäßig aus den Augen verliert, den gemeinsamen Kickpunkt, der sie verbindet, wie eine alte Nabelschnur abtrennt, geht jedoch letztendlich immer auf das Konto der CSU und ihrer Granden, die sich in aller Regelmäßigkeit gegenüber der größeren Schwester in Berlin zu profilieren suchen. Nun mag eine solche Profilsuche eine eigene Profilneurose in aller Augenscheinlichkeit nach Außen tragen, doch der CSU ist dieses Pokern um die Macht geradezu Ausweis ihrer eigenen Existenz und damit so etwas wie ein gravitätischer Haltepunkt politischer Selbstversicherung. Dass man mit der größeren Schwester an der Spree oft hadert, zieht sich von Alt-CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß bis hin zu Markus Söder. Und wenn dieser nach einer Woche harten Attackierens gegen Armin Laschet jetzt einlenkt und im Eingedenk der größeren Schwester dieser die Entscheidungsfrage elegant überträgt, bedeutet dies nicht, dass sich Söder ganz aus dem Rennen verabschiedet hat.

Und dass ausgerechnet nach der Flüchtlingskrise der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der schon 2018 die Einheit mit der Schwester mit seiner damals geradezu rigide geführten Anti-Migrationspolitik, als Hardliner in Flüchtlingsangelegenheiten mit populistisch-anutenden Schubkräften, auf eine harte Probe gestellt hatte, die Fehde mit Berlin 2021 erneut sucht, scheint Söders Kurs als Krawall- und Selbstinszenierer deutlich zu unterstreichen. Denn bei allem, was durch das politisch-traurige Schauspiel zwischen den beiden Kontrahenten um das Amt des Merkel-Nachfolgers derzeit zum Tragen kommt ist doch: Für Söder zählen traditionell konservative Werte wie Vertrauen oder sogar Wahrheit wenig, wenn es um seinen Machtanspruch und Person geht. Als für ihn eher sekundäre und relativierbare Tugenden sind sie eher hinderlich, geht es um den politischen Aufstieg zum „Fürsten“ im Sinne Machiavellis. „Fürst“ wird man nicht durch Humanismus, Menschlichkeit und Herzensgüte, sondern zum politischen Leviathan erwächst man durch Tugenden, die später Friedrich Nietzsche als die eigentlichen feiern wird, die heutzutage aber keineswegs diejenigen sein sollten, für die ein Repräsentant des demokratischen Rechtsstaat stehen sollte. Anders als Söder ist Laschet menschlich der wärmere Typus; er ist der sachlich-uneitle Kommunikator und Brückenbauer. Ein Politikertyp also, dem das allzu beckmesserische, das politisch Unmenschliche fehlt und mit dem die “Basis” dennoch wenig anzufangen weiß. In Krisenzeiten wünscht man sich populäre Entscheider – und in diese Rolle passt der Franke genau, der Mann von Rhein und Ruhr nur bedingt.

Sollte Armin Laschet den Kampf um die Kanzlerkandidatur gewinnen, denn nichts anderes sollte man erwarten, wenn er am Montag kurzfristig den CDU-Bundesvorstand einberuft, dann müsste er allerdings liefern – und dann obläge dem Mann aus NRW die große Last, die Union als neuer Kanzler im September zum Sieg und Deutschland in einer schwierigen Zukunft weiter zu führen. Schon jetzt gilt er durch den Grabenkampf der letzten Woche als angeschlagen, weil er bereits zu Beginn einer möglichen Kandidatur nicht die Mehrheit der Parteibasis hinter sich versammeln kann. Viele Bundestagsabgeordnete, ostdeutsche Landesverbände  und Ministerpräsidenten sind ihm in den letzten Tagen in die Parade marschiert und haben gegen das Harmonie-Prinzip der CDU und ihren Vorsitzenden verstoßen. Laschet muss sich im Fall einer Niederlage bei der Bundestagswahl dann aus dem eigenen Lager immer vorwerfen lassen, sich selbst übernommen und zu hoch gepokert zu haben. Aber auch dafür, Markus Söder auszubremsen, der die Union möglicherweise zum Sieg geführt hätte.

Söder hat schon jetzt gewonnen – auch wenn er nicht Kanzler wird

Söder hingegen, der sich in der Coronakrise als Macher und nicht als Zauderer zeigte, hat auf alle Fälle beim Poker um die Kanzlerkandidatur gepunktet. Der Franke konnte sich erneut genau als jener Haudegen und harterprobte Kämpfer behaupten, als der er sich selbst versteht und wahrnimmt. Söder bleibt der Monarch, der gern ein wenig mehr Ludwig II. wäre, der alle Macht und Souveränität auf sich vereint, der in schwierigen Zeiten Kante zeigt und in der Pandemie den gutherzigen Versöhner gibt. Während Laschet, ob seines gewagten Spiels gegen den bayerischen Löwen, sogar im Falle einer Niederlage mit dem Rückzug vom Posten des frisch gekürten CDU-Vorsitzenden rechnen muss, hat Söder schon gewonnen. Er hat bei den Menschen gepunktet, die sich in schwierigen Zeiten nach Führung sehnen. Der  CDU in Berlin hat er vor Augen gehalten, dass er sich nicht abspeisen und auf die Plätze verweisen lassen wird. Und eines  zeigt der ungleiche Streit um die Kanzlerschaft: Die CSU will in Berlin mehr mitspielen – und sie will sich künftig nicht mehr hinter der Schwester verstecken. Soviel zumindest gehört zur politischen Emanzipation des neuen Selbstverständnisses der CSU hinzu und Söder ist ihr neuer Repräsentant. Mit Söder ist also in den nächsten Jahren fest in Berlin zu rechnen, selbst wenn er betonen sollte, dass sein Platz in Bayern sei. Bayern ist für Söder eben auch Berlin – das gehört zweifellos zum Selbstbild eines bayerischen Regenten, der sich gern im Karneval als Ludwig II. gibt oder Bundeskanzlerin Merkel ganz royal auf Schloss Herrenchiemsee empfängt. An Söder wird demnächst in der CDU niemand mehr vorbei kommen. Der Franke hat ganz klar seinen politischen Führungsanspruch angemeldet und die Schwester enorm unter Druck gesetzt, ja ihr möglicherweise damit sogar ein Stück ihrer Existenz beraubt. Wenn Söder gewinnt, wird in Zukunft auch die Macht der “Hinterzimmer”, wozu er das CDU-Präsidium zählt, an Einfluss verlieren.

Wenn Laschet verliert, steht nicht nur die Macht der “Hinterzimmer” mehr denn je in Frage, sondern auch prominente Laschet-Unterstützer wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Friedrich Merz erleiden einen Gesichtsverlust. Eigentlich kann sich der CDU-Bundesvorstand keine Kehrtwende gegenüber der vergangenen Woche erlauben. Denn mit einer Palastrevolution verlöre auch die CDU mehr denn je an Glaubwürdigkeit. Und Laschet wäre dann nicht allein der Verlierer, der CDU-Bundesvorstand selbst verlöre seine Selbstachtung. Denn, wenn Laschet noch vor einer Woche alternativlos Kanzler-Kandidat war, wäre eine CDU-Entscheidung gegen ihn am Montag nichs anderes als die indirekte Lust am eigenen Niedergang.

Eine gängige Zeitrechnung an Bord ist es, längere Zeiträume in „Schnitzeln“ anzugeben

Stefan Groß-Lobkowicz10.04.2021Europa, Medien

Wer träumt nicht in Corona-Zeiten von der großen, weiten Welt? Doch gibt es eine Zukunft der Kreuzfahrtindustrie? Wir trafen den Kapitän der EUROPA II., Christian van Zwamen, zum Interview.

Ist die Seefahrt noch das, von dem man träumt, fremde Länder, exotische Schönheiten, die alten Klischees von gestern?

Kapitän van Zwamen: Für mich ist sie das ganz eindeutig, denn ich kann mir kaum eine emotionalere Art des Reisens vorstellen. Schon der Moment, wenn die letzte Leine gelöst wird, und das Schiffshorn zum Abschied tutet, ist für mich auch nach all den Jahren, in denen ich zur See fahre, der Augenblick, in dem ich eine Gänsehaut bekomme. Vor einem liegt dann eine schöne Zeit, in der man vieles entdecken und erleben kann, eintauchen in fremde Kulturen und tiefgehende Eindrücke sammeln kann. Dabei muss man auch gar nicht um die halbe Welt reisen, schon vor der Haustür gibt es viele schöne Gegenden, die eine Reise wert sind. Sei es die Ostsee mit ihren schönen Hafenstädten, oder aber auch die norwegischen Fjorde. Die Exotik kommt aber natürlich auch nicht zu kurz, denn mit unseren kleinen Schiffen habe ich das große Glück, dass wir auch Ziele weit abseits des Massentourismus ansteuern können. Der Anblick zigtausender Pinguine auf Südgeorgien oder kalbender Gletscher in Grönland ist etwas, was man sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Deshalb sträube ich mich ein wenig gegen die Formulierung „alte Klischees“, denn der Traum, die Welt zu entdecken, ist noch lange nicht ausgeträumt.

„Eine Seefahrt, die ist lustig“ heißt es ja in einem berühmten Schlager. Was war das Lustigste, was ­Ihnen jemals bei einer Reise passiert ist? Waren Sie einmal in Seenot?

In Seenot war ich zum Glück noch nicht und es wird auch alles dafür getan, dass der Fall nicht eintreten wird. Man muss sich seiner Verantwortung bewusst sein, und jede Entscheidung auch unter dem Gesichtspunkt der Risikovermeidung hinterfragen, denn Sicherheit war schon immer die allerhöchste Priorität. Natürlich gab es auch zahlreiche lustige Erlebnisse. Besonders gerne erinnere ich mich daran, dass wir einmal zum Auslaufen in Abu Dhabi einen Gast vermissten. Irgendwann konnten wir nicht mehr länger warten und mussten auslaufen. Kaum dass wir abgelegt hatten, hielt ein Taxi auf der Pier und der verspätete Gast stieg wild winkend aus. Es war der zur Unterhaltung der Gäste mitfahrende Gedächtnistrainer, der sich die falsche Abfahrtszeit gemerkt hatte.

Wie sieht eine gewöhnliche Arbeitswoche aus?

So etwas wie eine Woche gibt es an Bord nicht; die zu erledigenden Arbeiten sind jeden Tag gleich. Eine gute Orientierung ist da der Sonntag, denn dann gibt es traditionell Wiener Schnitzel in der Mannschaftsmesse. Eine gängige Zeitrechnung an Bord ist es daher, längere Zeiträume – und da insbesondere die Einsatzzeiten an Bord – in „Schnitzeln“ anzugeben. Der Alltag eines Kapitäns ist aber in der heutigen Zeit leider zu großen Teilen davon bestimmt, dass man vor dem Computer sitzt. Letzten Endes ist ein Schiff ein großer Betrieb, der geleitet und koordiniert werden muss. Da bin ich froh, wenn ich mir nautisch sozusagen die Rosinen herauspicke und zum Beispiel die An- und Ablegemanöver auf der Brücke tätigen kann. Und, ebenfalls ein Vorteil kleiner Schiffe, man kann intensiven Kontakt zu den Gästen pflegen. Wann immer man sich im Schiff trifft, hat man die Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch. Und wann immer es meine Zeit erlaubt, esse ich auch mit Gästen zu Abend. So habe ich ein gutes Gespür, wie gerade die Stimmung ist, oder wo eventuell der Schuh drückt.

Welche Routen fahren Sie? Und wie lange sind Sie unterwegs?

Von den reinen Polargebieten abgesehen, ist die EUROPA2 weltweit unterwegs. Im Sommer natürlich in und um Nordeuropa, zum Winter hin dann in wärmeren Gefilden. Ich bin dabei zwischen zwei und drei Monate an Bord, immer im Wechsel mit meinem Kollegen Kapitän Gottschalk.

Wie verbringen Sie denn gerne Ihren Urlaub?

Recht unspektakulär, denn ich bin in der Zeit immer froh, wenn ich zu Hause sein kann. Das ist dann die Zeit, in der ich die Familie sehe und Freunde besuchen kann. Außerdem habe ich für mich das Wandern entdeckt. Es bietet mir einen guten Ausgleich zu der doch manchmal sehr fordernden Zeit an Bord. Und es lässt sich gut mit einem weiteren Hobby von mir, der Fotografie, verbinden.

Welche Route steht noch auf Ihrer persönlichen Wunschliste oder haben Sie Ihre Traumroute bereits bereist?

In vielen Gegenden bin ich natürlich schon gewesen. Ein Ziel, das mir noch fehlt, und das ich dringend einmal sehen möchte, ist Hawaii.

Wie lange halten Sie es an Land aus bis Sie Fernweh bekommen?

Ganz so groß wie früher ist der Drang in die Ferne natürlich nicht mehr. Mit meinem Kollegen teile ich mir das Schiff 1:1, so dass man nach knapp drei Monaten an Bord auch knapp drei Monate Urlaub hat. Wenn die um sind, freue ich mich aber schon wieder auf das Schiff, die Gäste und die Crew, die ja fast so etwas wie eine zweite Familie ist.

Haben Sie so etwas wie eine per­sönliche See­­manns­­­weisheit?

Ich selbst nicht, aber ich finde, dass es Alexander von Humboldt gut auf den Punkt gebracht hat: Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben. Wenn man so viel unterwegs ist, lehrt es einem den Respekt vor anderen Menschen und Kulturen, und dass es immer eine Bereicherung ist, sich darauf einzulassen.

Wie hat sich ihrer Meinung nach die Kreuzfahrt in den letzten Jahren verändert?

Meiner Meinung nach spaltet es sich immer mehr in einen Massen- und einen Individualmarkt auf. Das elitäre Reiseerlebnis, das ja Kreuzfahrten lange ausmachte, gibt es in der Form zum Glück nicht mehr. Mittlerweile kann sich jeder das Schiff, das Konzept und die Reiseroute aussuchen, die die individuellen Bedürfnisse am besten befriedigt. Und ich bin froh, dass das Thema Umweltschutz, Verantwortung und Nachhaltigkeit immer mehr in den Fokus gerät, denn das ist schon seit jeher eines unserer zentralen Anliegen. Die Kreuzfahrtbranche ist da auf einem guten Weg, der nun konsequent weiterverfolgt werden muss.

Die Kreuzfahrtindustrie steht immer wieder in der Kritik, zu viel C02, zu schlechte Umweltbilanzen, der Massentourismus erstickt kleine Ortschaften und bedroht das Ökosystem. Wie sieht die Nachhaltigkeitsstrategie Ihrer Rederei aus?

Die Flotte von Hapag-Lloyd Cruises umfasst vier kleine exklusive Schiffe mit einer maximalen Passagierzahl zwischen 230 bis maximal 500 Personen. Wir bieten damit Kreuzfahrten abseits des Massentourismus an und können auch Regionen befahren, die großen Schiffen verwehrt bleiben. Natürlich haben Nachhaltigkeit und Umweltschutz bei Hapag-Lloyd Cruises und bei uns an Bord einen sehr hohen Stellenwert. Hapag-Lloyd Cruises investiert daher massiv in den Umweltschutz. Alle unsere Schiffe sind mit moderner Technik und Umwelttechnologie ausgestattet wie SCR Katalysatoren und Landstrom. Die EUROPA 2 war 2013 übrigens weltweit das erste Kreuzfahrtschiff, auf welchem ein SCR Katalysator verbaut wurde.

Aber Hapag-Lloyd Cruises geht einen Schritt weiter: Die Flotte verzichtet komplett auf Schweröl und wir setzen seit Juli 2020 auf hochwertiges Marine Gasöl. Alle Schiffe von Hapag-Lloyd Cruises fahren zu 100 Prozent mit schadstoffarmen Marine Gasöl 0,1 Prozent (LS-MGO). Die Umstellung auf Marine Gasöl bedarf keiner Umbauten. Aber natürlich ist der Einsatz mit wesentlich höheren Treibstoffkosten verbunden.

Ein ganz aktuelles Beispiel unserer Nachhaltigkeitsstrategie ist die Landstrom-Nutzung. Unsere Neubauten sind alle für die Versorgung mit Landstrom ausgestattet. Weltweit gibt es derzeit jedoch nur 14 Häfen, in denen Landstrom an mindestens einem Liegeplatz im Hafen bereitgestellt wird, dazu zählt unter anderem Hamburg. Die EUROPA 2 hat hier während unserer Zwangspause eine Zertifizierung durch die Klassifikationsgesellschaft DNV GL erhalten und über 30 Tage erfolgreich Ökostrom am Cruise Center Altona bezogen und damit 600 Tonnen CO2 einsparen können.

Es wird nach Corona eine neue Zeit des Reisens geben, viele Menschen sind verunsichert. Wie sieht bei Ihnen der Neustart aus?

Unser Neustart ist sehr erfolgreich und beweist mit zahlreichen zufriedenen Gästen, dass Luxus- und Expeditionskreuzfahrten auch in der neuen Reiserealität sicher und genussvoll sein können. Das Feedback zu unseren bisherigen Reisen ist für uns weiterer Ansporn, denn die Zufriedenheitswerte und eine Weiterempfehlungsrate von durchschnittlich 94 Prozent zeigen, dass sich die Gäste bei uns wohl an Bord finden.

Wir gehen den Neustart weiterhin sehr verantwortungsbewusst, kontrolliert und schrittweise an. Wir haben gemeinsam Experten und mit den Behörden dafür ein umfassendes Präventions- und Hygienekonzept erarbeitet. Sicherheit für Crew und Passagiere steht für uns stets an erster Stelle.

Bereits Ende Juli hat unser Expeditionsschiff HANSEATIC Inspiration mit Reisen ab/bis Hamburg gestartet. Anfang August folgte mit Hamburg-Abfahrten unser Luxusschiff EUROPA 2. Die Passagierkapazität wird bis auf Weiteres auf 60 Prozent reduziert. Für alle Passagiere ist ein negativer COVID-19 Test vor Reisebeginn obligatorisch. Unsere Crewmitglieder werden ebenfalls getestet und absolvieren zusätzlich eine Quarantäne, bevor sie ihren Dienst an Bord beginnen.

Für die HANSEATIC inspiration haben wir erst kürzlich als erstes Kreuzfahrtschiff das Hygiene-­Zertifikat von SGS INSTITUT FRESENIUS erhalten. Die Auswertung und Beurteilung für die ­EUROPA 2 ist im vollen Gange und wir sind sehr positiv gestimmt.

Wie kann man sich die Zertifizierung durch das SGS INSTITUT FRESENIUS vorstellen?

Im Rahmen eines Desktop-Audits wurde zunächst das Hygiene-Konzept auf die umfassende Abdeckung der relevanten Bereiche vor und während einer Kreuzfahrt überprüft und die Vollständigkeit der daraus abgeleiteten Maßnahmen. Die konkrete Umsetzung dieser wurde im Anschluss während des laufenden Betriebs an Bord im Rahmen eines viertägigen Vor-Ort-Audits geprüft. Hierbei wurden auch die Hygienestandards einbezogen, die bereits vor den neu eingeführten Präventionsmaßnahmen im Umgang mit COVID-19 einen sehr hohen Hygiene-Standard an Bord garantieren. Die relevanten Prozesse vor und hinter den Kulissen wurden begleitet und beurteilt, mikrobiologische Lebensmittelanalysen und Reinigungskontrollen ergänzten dieses Audit. Von dem Einschiffungsprozedere, der Prüfung der Schulungsunterlagen, der Krankenstation über alle öffentlichen Bereiche und Kabinen bis hin zur Schöpfkelle in der Küche wurde das Schiff auf „Herz und Nieren“ untersucht.

Werden Sie im nächsten Jahr wieder im „Normalbetrieb“ fahren?

Wann wir wieder zum regulären Fahrplan ­zurück kehren und welche Ziele im kommenden Jahr angesteuert werden können, kann ich momentan nicht einschätzen. Dies hängt von der weltweiten Entwicklung ab. Diese verfolgen wir und unsere Hamburger Kollegen natürlich intensiv. Die Wintermonate wird die EUROPA 2 auf den kanarischen Inseln verbringen und den Gästen die Möglichkeit geben, Sonne zu tanken und die dunkle Jahreszeit zu verkürzen. Ich spreche hier an Bord auch viel mit unseren Gästen und dabei stimmt mich eines immer wieder positiv: Die Reise- und Kreuzfahrtlust der Gäste ist ungebrochen und es gibt einen großen Nachholbedarf.

Das Gespräch führte Stefan Groß

Kunstgenius Gerhard Richter gibt mehr als 100 Werke an die Nationalgalerie

Stefan Groß-Lobkowicz15.03.2021Gesellschaft & Kultur, Wissenschaft

Der Maler Gerhard Richter stellt mehr als 100 seiner Arbeiten der Berliner Nationalgalerie zur Verfügung. Diese sind, wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mitteilte, für das im Bau befindliche Museum des 20. Jahrhunderts gedacht. Die Werke werden bereits ab dem 16. März 2021 in der Alten Nationalgalerie gezeigt. Richter gilt als einer der einflussreichsten Künstler der Gegenwart. Seine Arbeiten zählen zu den international teuersten Werken.

Gerhard Richter, geboren 1932 in Dresden im Osten der Republik, ist immer noch ein Marathonläufer. Kaum einer kann auf ein derartig vielschichtiges Werk zurückblicken, kaum einer hat derart monumentale Serien entworfen, kaum einer hat die Kunst der Nachkriegsjahre so nachhaltig geprägt. Voller Kraft und Dynamik erstrahlen seine abstrakten Visionen, ein Zusammenspiel von Vitalität und Disziplin, lyrischem Maß und sinnlichem Pathos.

Malen gegen das Vergessen

Der Stipendiat der Dresdner Hochschule hatte früh Karriere im Osten gemacht, galt als Wandmaler zu den gefragten Künstlern der noch jungen Republik. Doch Richter, dem „Picasso des 21. Jahrhunderts“, war die Enge des Staates, der Sozialistische Realismus nicht genug. Richter wollte mehr – die Freiheit schlechthin. Und diese eroberte er sich nach der Flucht in den Westen 1961. In Düsseldorf wurde er Professor, ein gefeierter Star, dem sich in den 90er-Jahren buchstäblich die ganze Welt auftat. Aber erst in Amerika feierte er Welterfolge, wurde zum gefragtesten Maler der Moderne preisgekrönt und dann mit Werkschauen weltweit förmlich überhäuft. Ob mit seinem Bild „Ema“ oder dem „Tisch“, Richter hat im ruhigen Fluss einer Arbeit immer wieder mit Nachdruck vorgeführt, was Malerei noch zu leisten vermag und dass sie sich gegen das Diktum der nachgesagten Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch ein Bild zu malen, kraftvoll entgegengestellt hat. Richter malte gegen das Vergessen, flirtete mit Fluxus, Fotorealismus und Pop Art und Readymade – doch einordnen in eine Richtung ließ er sich nie. Seit Beginn der 60er-Jahre hatte er seine eigene Form gefunden, die Idee, Fotografien abzumalen, die Ränder der Figuren zu verwischen und damit Unschärfe zu erzeugen. Richter ist ein Unangepasster in der Kunst geblieben, einem, dem das Experimentieren alles ist, der sich weder in das Korsett des Sozialistischen noch des Kapitalistischen Realismus pressen ließ.

Kunst bleibt ein Geheimnis

Jenseits von einer regulativen Kunstästhetik war es das Spiel mit den Farben, Formen und Materialien, die er auf eine ganz eigene Art und Weise zum Sprechen brachte. Immer war es die Zerbrechlichkeit des Subjekts, seine Fragilität, die er über die Dinge und Figuren legte, um zu zeigen, dass die Malerei um einen behüteten privaten Kern spielt, den sie nicht preisgibt, der ihr Geheimnis bleibt.

Antisubjektivistisch ist die Kunst über die fast 70 Jahre seines künstlerischen Schaffens geblieben. Nie wollte er, dass seine Bilder für die Wahrheit schlechthin stehen, sondern gerade in der Offenheit des Kunstwerks sah er den weisenden Charakter, wo der Zufall eine nicht unbedeutende Rolle spielt. „Von den Bildern lernen“ wurde seine Maxime und die Bilder damit eigentlich zum Objektiven. Seine Arbeitsweise hatte Richter, der malt und übermalt, der Unschärfe zeichnet, in grau-schwarz und weiß oder später immer farbenfroher, in den 60er-Jahren als einen Prozess beschrieben, wo der Verstand ausgeschaltet ist, Pinsel und Rakel regieren und wo sich die Kunst selbst erschafft. „Wenn ich eine Fotografie abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet. Ich weiß nicht, was ich tue“. Noch deutlicher sein Credo: „Das Denken ist beim Malen das Malen.“ Nicht die Idee, wie bei der Fluxus-Bewegung, ist das produktive Element, das hinter allem gravitätisch regiert, sondern im Akt des künstlerischen Agierens kommt etwas hervor, das es so vorher nicht gab. Kunst als Überraschung: „Ich möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte. Ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann.“ Dass Richter hiermit ganz explizit postmodern ist, liegt auf der Hand. Das Kunstwerk ist autonom, das Subjekt tritt in den Hintergrund und das so entstandene Werk bleibt jederzeit von jedermann interpretierbar. Es gibt einen Sinn, stellt ihn wieder in Frage, verweist über sich hinaus, ohne sich doch restlos zu offenbaren. Es legt Spuren des Interpretierbaren, aber eben nur Spuren, die Spuren erzeugen. „Es demonstriert die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit, weil es uns die Meinung und den Namen von einem Ding nimmt, es zeigt uns das Ding in seiner Vieldeutigkeit und Unendlichkeit, die eine Meinung und Ansicht nicht aufkommen lässt.“ Helge Meister hatte Richters Abmalvorgang ganz konkret beschrieben: „In Illustrierten, Zeitungen, Fotoalben und Fachbüchern sucht er seit Jahren nach geeigneten Fotos, schneidet sie aus, legt sie unter ein Episkop und projiziert die nun stark vergrößerten Bilder auf eine leere Leinwand. Auf ihr zieht er mit Kohle nach und pinselt Menschen wie Räume mit schwarzer, grauer und weißer Farbe aus. […] Die noch nassen Farben übermalt er mit einem breiten Pinsel, zieht die Konturen ineinander, egalisiert die Farbunterschiede.“

Richters Maxime: „Etwas entstehen lassen, anstatt kreieren”

Richters Quevre, die sich darin aussprechende Diskontinuität, hatten Kritiker als „Stilbruch als Stilprinzip“ bezeichnet – doch genau dadurch zeichnet sich Richters Einmaligkeit aus. Er versteckt gegenständliche Motive hinter zahlreichen Übermalungsschichten, verwischt diese wieder in einem wilden Farbnebel, bricht mit tradierten Formen und beginnt neu. Der Stilbruch ist kein Tabu, sondern der kreative Akt selbst.

So sehr sich Richters Kunst zwischen Realismus und Abstraktion in einem Wechselspiel aufbaut, fotografischen Serien, Landschaften, Porträts, Stillleben und historische Stoffe zu neuer Lebendigkeit verhilft, es ist seine forschende und experimentierende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die seine Kunst zu etwas höchst Eigenständigen und Unverwechselbaren werden lässt. Und selbst wenn er auf klassische Sujets der Kunst zurückgreift, so sind seine fotorealistischen Naturdarstellungen, seine nach Fotografien gemalten unscharfen Gemälde sowie die Gemälde mit höchster Abstraktionskraft bis hin zu Glas- und Spiegelobjekten beziehungsweise Installationen immer Spiegel dessen, was sich nicht voraussehen lässt. Das Ergebnis ist jedes Mal ein anderes und nur bedingt steuerbar. „Etwas entstehen lassen, anstatt kreieren,” heißt es bei Richter. „Wenn ich nicht weiß, was da entsteht, also kein festes Bild habe wie bei einem Foto, das ich abmale, dann spielen Willkür und Zufall eine wichtige Rolle.”

Längst im Künstlerhimmel angekommen

Wenn es um Ehre, Weltruhm und Ewigkeit geht, ist Gerhard Richter schon längst im Götterhimmel der Kunst angelangt. Und dort hat der Ewig-Schaffende schon jetzt einen festen Platz, was gar nicht so einfach für einen Atheisten „mit Hang zum Katholizismus“ ist. Doch „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches“ könne er nicht leben. Es ist das Bekenntnis eines religiös nicht ganz unmusikalischen Malers, der faustisch mit den Energien des Kreativen ringt, mit dem produktiven Dämon, der ins Unendliche treibt und Werke schafft, die ihresgleichen suchen.

Starallüren hat sich Richter stets verweigert, er ist kein Markus Lüpertz. Richter ist ein unabhängiger Künstlertyp geblieben. Das Malergenie liebt es eher unprätentiös, er ist denkbar bescheiden, der Hype um seine Person ihm unangenehm. Lange schon hatte sich der heute 88-Jährige von der Oberfläche der Eitelkeiten verabschiedet und in das Villenviertel Hahnwald in seiner Wahlheimat Köln zurückgezogen. Den größten Teil der heutigen Auktionskunst hält er allerdings für überteuert. Was fehle, sei der Maßstab für die Beurteilung des Wertes von Kunstwerken. „Wenn Sie die Auktionskataloge sehen, da wird ja 70 Prozent Müll für teures Geld verkauft.“ „Die Kriterien­losigkeit, die ist schon das Härteste dabei.“ Zwar finde er es angenehm, er, der sich nie als Marketingstratege verkauft hat, dass für seine Werke Millionensummen bezahlt werden, es zeigt immerhin, dass er geschätzt werde. Aber zugleich ist es für ihn auch „unerträglich und pervers, dass es solche Unsummen sind“. Und auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass seine Kunst verstanden wird, antwortet er: „Manchmal ja. Sonst hätte ich ja nicht so viel Erfolg. Also irgendwas wird ja schon ab und zu verstanden.“

Mit 88 Jahren legt der Mann, dessen Maxime es war, dass die „Kunst die höchste Form der Hoffnung“ sei, der laut „Manager Magazin“ zu den 500 reichsten Deutschen zählt und als der wichtigste Künstler der Gegenwart gehandelt wird, nun den Pinsel aus der Hand. Richters Abschied als Maler war die Vollendung der drei Kirchenfenster im Kloster Tholey. „Irgendwann ist eben Ende.“ „Das ist nicht so schlimm. Und alt genug bin ich jetzt,“ erklärte er im September und sein Abschied von der Malerei glich einem Paukenschlag.

Richters Ruhestand wird ein Unruhezustand bleiben

Doch Richters Ruhestand wird ein Unruhezustand bleiben, zu aktiv, zu kreativ, zu sehr Schöpfungswille. Ganz kann er sich nicht zur Ruhe setzten. Er will noch ein wenig zeichnen. „Da wird wahrscheinlich noch was kommen, was im Februar gezeigt wird in München, eventuell in New York. Skizzen. Farbig-abstrakt. Nicht so doll“, kündigt er an. Dieses „nicht so doll“ ist typisch für Richter, spiegelt es doch die selbstkritische Haltung. In der Vergangenheit hatte er immer wieder fertige Gemälde verworfen und zerstört – so seine Werke aus der DDR-Vergangenheit, so seine frühen Werke im Westen. Doch Richter wird bleiben, selbst wenn er nicht mehr malt. Er ist jetzt schon unsterblich.

Interview mit Georg Eisenreich: Die Grünen sind nicht unser natürlicher Partner

Stefan Groß-Lobkowicz12.03.2021Medien, Politik

In unserem Kurzinterview der Woche traf “The European” den bayerischen Justizminister Georg Eisenreich: Der CSU-Politiker hält nichts von einer schwaz-grünen Koalition. “Die Grünen reagieren auf Herausforderungen reflexhaft mit Bevormundung und ideologischen Verboten”, so Eisenreich.

Wenn Angela Merkel in diesem Jahr die politische Bühne verlässt, hat Ministerpräsident Markus Söder derzeit die besten Aussichten auf die
Kanzlerschaft. Was sagen Sie zu einem Kanzler Markus Söder?

Er ist ein hervorragender Ministerpräsident und er wäre auch ein hervorragender Bundeskanzler.

Wie bewerten Sie die Arbeit der Koalition in Bayern?

Sie leistet unter Führung von Markus Söder sehr gute Arbeit in schwierigen Zeiten. Von allen denkbaren Koalitionsvarianten ist eine bürgerliche Koalition mit den Freien Wählern für mich die sinnvollste.

Glauben Sie, Deutschland ist reif für eine schwarz-grüne Koalition?

Meine bevorzugte Koalition ist sie jedenfalls nicht. Ökologie und Klimaschutz sind zentrale Herausforderungen unserer Zeit. Der Klimawandel ist eine  Existenzfrage für die Menschheit. Wir müssen da entschlossen gegensteuern. Die Frage ist nur, auf welche Art und Weise. Die Grünen reagieren auf Herausforderungen reflexhaft mit Bevormundung und ideologischen Verboten. Das ist ein Ansatz, der unsere Gesellschaft spaltet. Nach meiner festen Überzeugung müssen wir Brücken bauen, Ökonomie und Ökologie kreativ und innovativ verbinden. Ganz abgesehen davon sind die grundsätzlichen Differenzen bei Themen wie Zuwanderung und Sicherheit schwer überwindbar. Die Grünen sind nicht unser natürlicher Partner.

Herzlichen Dank für das Gespräch

Die Fragen stellte Stefan Groß

Norman Foster – Wer keine Visionen hat, lebt nicht

Stefan Groß-Lobkowicz6.03.2021Medien, Wissenschaft

Er gilt als einer der berühmtesten Architekten der Welt. Sir Norman Foster liebt das Extravagante und baut seine Visionen hunderte Meter in die Höhe. Doch wer ist dieser Mann, der unsere Welt verändert? Einblicke in das Leben des Superstars. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, empfahl einst der pragmatische Dauerraucher und SPD-Politiker Helmut Schmidt. Der Ex-Kanzler ergänzte damals: „Willen braucht man.“ Und unbändiger Wille ist es, der Norman Foster vorantreibt, ja, der Mann ist gebündelte Energie, quasi Friedrich Nietzsches „Übermensch“ in persona. Wäre der mittlerweile 86-Jährige jemals zum Arzt gegangen, wären die Architekturträume, die aus seinem genialen Geist wie Kathedralen entstehen,  nie Realität geworden. Ein faustischer Mensch ist dieser Foster obendrein und selbst der Architektur interessierte Johann Wolfgang Goethe, der den Kölner Dom, das gigantische Vollendungsprojekt der Brüder Boisserée, „ein leider nur beabsichtigtes Weltwunder“ nannte, würde Foster einen Genius nennen, weil er nicht kopiert, sondern aus dem Mix von sinnlich Gegebenen, schöpferischer Unruhe und vor allem Geist agiert. Foster geht es um die großen Dinge, um die Superlative, um das, was man im 19. Jahrhundert das Erhabene nannte, das nach dem berühmten philosophischen Aufklärer Immanuel Kant Respekt und Achtung einflößt und als Objekt erhabene Ideen erzeugt.

Bei Norman Foster, der in der Nähe von Manchester 1935 geboren wurde, ist es wie beim legendären James Bond. Dem Kind einer Arbeiterfamilie, der sich als Möbelverkäufer, Türsteher, Bäckereigehilfe und Eiswagenmann sein Brotgeld zum Studium in Manchester verdiente, ist die Welt niemals genug. Treibt es den Agenten 007 von Autorenlegende Ian Fleming immer wieder in die Zukunft, so baut Foster diese. Und der leidenschaftliche Jet-Pilot mit Helikopter-Lizenz, der wie Elon Musk von der Besiedlung des Marses und des Mondes überzeugt ist und mit der Europäischen Raumfahrtbehörde schon Gebäude für die Weltraumbesiedlung plant, will auch der im Flammenraub zerstörten Kathedrale von Notre Dame ein neues Gesicht geben. Es sei eine „unwiderstehliche Möglichkeit“ für Architekten, dem ikonischen Bau ein zeitgemäßes Gesicht zu geben

Die Welt ist nicht genug

Für den leidenschaftlichen Genius, dessen Name für elegante und schnittige Repräsentationsbauten steht, scheint es das Unmögliche nicht zu geben – es bleibt eine Kategorie des Undenkbaren. Ihm geht es um das Große, Wahre und Schöne – und anders als Platon, der die Kunst als Irritation auf dem Weg zur Glückseligkeit verstand, denkt der preisgekrönte Star, der zum dritten Mal den „Stirling Prize“ und fast alle wichtigen Preise der Welt sein eigen nennen darf und für Deutschlands Parlament mit seiner lichtdurchfluteten Kuppel einen Glas-Dom errichtete, vom Erhabenen her die Welt. Die Materie bietet ihm den Rohstoff, Glas und Stahl, doch viele seiner Bauwerke sind der Endlichkeit erhaben, atmen den Geist, der weit über die Moderne hinaus und die kühnsten Tagträume hinwegweht. Vom Stückwerk ist Foster entfernt, ihn drängt es hin zur Unendlichkeit, zum Olymp, zum Götterhimmel. Norman Foster, selbst im hochbetagten Alter ein leidenschaftlicher Instagramer, ist so etwas wie ein Gott, ein Architekturgott, der Alexandre Gustave Eiffel, Frank Lloyd Wright, Walter Gropius, Le Corbusier, Hans Hollein, Frei Otto, Günter Behnisch Zaha Hadid, David Chipperfield und Daniel Libeskind in nichts nachsteht. Wie seine Kollegen schöpft er die konkrete Architektur, lotet die Grenzen des Machbaren und Technischen aus – und schafft das, was den Künstler seit Jahrtausenden ausmacht, den völlig neuen Blick auf die Welt. Ob Manierismus oder Pointillismus in der Bildenden Kunst, ob Gotik, Renaissance, Bauhaus oder Postmoderne in der Architektur – stets greift der wahre Künstler über die Möglichkeiten, die Grenzen des Machbaren hinaus.

Grenzenloser Aufstieg

Grenzen kennt der passionierte Flugzeugfan, der in der Royal Air Force diente, keine. Der Mann, der 1965 zuerst mit dem visionären Richard Buckminster Fuller, später (1965) mit seiner Frau Wendy und dem Ehepaar Sue und Richard Rogers das Architekturbüro „Team 4“ gründete, das heute als „Foster + Partners“ zu den renommiertesten der Welt gezählt werden darf, ist eine Institution. 700 Mitarbeiter kreisen um den Visionär, dem Mann, der die teuersten Gebäude der Welt, die höchsten Wolkenkratzer und die höchsten Brücken baute, und der selbst in der Coronakrise Design-Vorlagen für Eltern entwirft, damit diese ihre Kinder mit Papier-Wolkenkratzern daheim beschäftigen.

Seit 1965 kennt seine Vita nur einen Weg, den nach oben. Wie ein Hochgebirgs-Alpinist hatte er sich über die Jahre an die Spitze geschraubt. Ob die „Hongkong and Shanghai Banking Corporation“, ein futuristisches Bürogebäude aus Stahl und Glas mit abgestuftem Profil (1996), dem „Commerzbank Tower“ (1997) in Frankfurt, die Reichstagskuppel (1999) in Berlin, die „Millennium Bridge“ (2000) und „The Gherkin“ in London, das sogar von Satelliten aus sichtbare Terminal des Pekinger Flughafen (2008), das Apple-Hauptquartier im Silicon Valley oder den sich noch im Bau befindenden Regierungskomplex der Hauptstadt Amaravati im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, der zum 90. Geburtstag des Architekten vollendet werden soll – Foster ist den Weg vom High-Tech-Stil zur „grünen“ Architektur gegangen. Ohne Technik geht es nicht, ohne High-Tech. Denn, so schreibt Foster: „Seit der Mensch aus der Höhle kam, beschäftigt er sich mit Technologie und geht dabei immer an die Grenzen. Technologie ist Teil der Zivilisation, und anti-technologisch zu sein, wäre wie eine Kriegserklärung an die Architektur und die Zivilisation selbst. Die Geschichte der Architektur ist die Geschichte der Technik, und die Tradition der Architektur entwickelt sich ständig weiter.“ Doch Technik ist für den ambitionierten Erbauer, für den Modernisten im traditionellen Sinne, für ihn, der Struktur benutzt, um Raum zu schaffen, nicht alles. Nie geht der Brite mit einer Bindung an die Technologie über das hinaus, was für das Projekt angemessen ist“

Fosters Ambition für eine grüne Welt

Nicht nur den Weltraum erobern, auch die CO-2-Bilanz verbessern, hat sich Foster auf die Agenda geschrieben. Mit Kollegen fordert er eine „Ökowende“ in der Baubranche. Unter dem Titel „Architects Declare“ haben sich international hunderte Architekturbüros zusammengeschlossen und einen „Klima- und Biodiversitätsnotstand“ ausgerufen. Gefordert wird ein „Paradigmenwechsel“, „um die gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen, ohne dabei die ökologischen Grenzen unseres Planeten zu verletzen“. Und dieses Credo passt zur Maxime des Bauherrn aus dem kleinen Ort Reddish, der auf sichtbare Querverstrebungen, offene Innenräume, Transparenz und Licht durchflutendes Glas setzt. Es sind aber eben auch die gesellschaftlichen und sozialen Fragen – neben den bautechnischen und ökologischen –, die bei Fosters Konstruktionen maßgebend den Ton angeben. Zu seiner Designversion hatte er einmal geäußert: „Ich glaube, dass die beste Architektur aus einer Synthese aller Elemente entsteht, die ein Gebäude einzeln ausmachen: die Struktur, die es trägt, die Dienstleistungen, die seine Funktionsfähigkeit ermöglichen, die Ökologie des Gebäudes, (…) die Qualität des Lichts, die verwendeten Materialien, ihre Masse oder Leichtigkeit, der Charakter der Räume, die Symbolik der Form, die Beziehung des Gebäudes zur Skyline oder zur Stadtlandschaft und die Art und Weise, wie das Gebäude seine Präsenz in der Stadt oder auf dem Land demonstriert. Ich denke, das gilt unabhängig davon, ob Sie ein bedeutendes Bauwerk schaffen oder sich auf einen historischen Rahmen beziehen. Erfolgreiche Architektur beschäftigt sich mit all diesen Dingen und vielen anderen.“

Die Boeing ist „reine Skulptur“

Noblesse oblige! 1990 wurde Sir Norman von Königin Elisabeth II. als Ritter in den Adelsstand erhoben. 1999 erhielt Foster zusätzlich den Titel „Baron Foster of Thames Bank, of Reddish in the County of Greater Manchester“, die Würde eines Life Peer und hatte damit auch einen Sitz im House of Lords, den der Weltreisende später aufgab. So adlig Foster daherkommt, Städteplaner sahen in seinen Schöpfungen vor allem eins, gigantische Projekte, die Unsummen kosteten und wie die Elbphilharmonie oder der Berliner Flughafen Milliarden verschlangen. In einer Liste der am meisten überschätzten, eben auch zu teuren Künstler liegt der Brite immerhin auf Platz 5 hinter so großen Namen wie Zaha Hadid oder Daniel Libeskind. Doch Foster hat die Kritik nie wirklich geschadet, sondern eben geadelt. Auch den Streit mit dem ewigen Thronfolger der britischen Königin, Prinz Charles, hat er endgültig entschieden. In London baut man modern und eben nicht britisch-royal klassisch – so zumindest der ehemalige Soldat der „Royal Air Force“ Foster, der die Boeing 747 als das beste Bauwerk der Welt bezeichnet. In der BBC-Serie „Building Sights“ schrieb er: „Es ist die Größe, der Maßstab. Es ist heroisch. Reine Skulptur (…). Sie muss nicht wirklich fliegen. Sie könnte auf dem Boden bleiben – sie könnte in einem Museum stehen.“

Sein Steckenpferd – die deutsche Architektur

Sir Norman Foster hat eine Leidenschaft für Deutschland. Ob die Reichstags- oder die Glaskuppel im Dresdner Hauptbahnhof, die Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin, der Commerzbank-Tower in Frankfurt, die Hauptverwaltung des Gerling-Konzerns in Köln, die Essener Zeche oder die Gestaltung des Innenhafens von Duisburg – das Land, aus dem das Bauhaus stammt, ist seine Inspirationsquelle.  Ungewöhnlich für einen Sir, wie so vieles an ihm ungewöhnlich und beeindruckend bleibt. Und zum Bau der Reichstagskuppel fügte er 1996 im „Independent“ an: „Wirklich erstaunlich, dass der Bundestag einen Engländer mit der Gestaltung eines politisch so sensiblen Symbols beauftragt hat.“ Doch zwei Architekten gerade aus Deutschland, dem ewigen Erzfeind, sind quasi seine Geistesverwandten, Quellen der Inspiration. Da ist der wenig bekannte Ludwig Leo (1924-2012) und der wichtigste deutsche Kommunikationsdesigner Otto Aicher (1922-1991). Beide sind Legenden der Designgeschichte und haben die geistig-soziale Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik geprägt. Leo galt als der große „Radikalfunktionalist“ und seinen Funktionalismus zeichnete er bis in kleinste Detail seiner Bauten. Und die Vision des aus Rostock gebürtigen Architekten war sozial fundiert, zielte auf ein gemeinschaftliches Handeln und Arbeiten ab.

Aicher hingegen galt als der legendäre Wegbereiter des Corporate Designs. Ob bei der Lufthansa oder den Olympischen Spielen in München, der gebürtige Ulmer Architekt definierte konsequent Gestaltungsrichtlinien, die von der Uniform bis zur Eintrittskarte reichten. Seine radikal reduzierten Piktogramme glichen einer neuen Zeichensprache, die einfach und unkompliziert sich verstehen ließen. Aber nicht nur der Begriff der Kommunikation geht auf den Grafikdesigner und Gestaltungsbeauftragten der Olympischen Spiele von München zurück, sondern Aichler prägte auch die Erscheinungsbilder des ZDF, des Flughafen Frankfurt, der Dresdner Bank, der Sparkasse, Raiffeisenbank und der Bundeswehr. Norman Foster folgt beiden sowie dem Bau-Utopiker Richard Buckminster Fuller mit der Realisierung seiner gigantischen Projekte darin, weil er Identität und Exklusivität seiner Marken, ganz im Sinne der Erkennbarkeit zeichnet. Er vereinigt zudem eine technisch optimierte Lebensumwelt mit künstlichen Paradiesen unter riesigen Kuppeln zu neuen Arbeitswelten. Und so ist die hochtechnologisch aufgerüstete Maschinenmoderne ein Aspekt im Lebenswerk des Baukünstlers, die andere seine Vision von der Veränderung der Gesellschaft durch Architektur. Revolutionär war bereits der 1969 entstandene Verwaltungs- und Freizeitbau für die Fred Olsen Lines in London. Sozialer ging es kaum. Chefs und Manager waren nicht hierarchisch in ihren Arbeitsplätzen voneinander getrennt, sondern alles war offen; transparent wehte der Geist von Liberalismus, Freiheit und flacher Hierarchie durch die Hallen. In einem anderen Projekt, dem Sitz von „Willis Faber and Dumas Headquarters“ in Ipswich, erschufen Foster und seine erste Frau Wendy Cheesman den idealen Arbeitsraum –  ein Paradies mit Dachgärten samt 25 Meter langem Swimmingpool und Sporthallen für Angestellte. Was beide damals entwarfen, war vor fünfzig Jahren revolutionär, eine Oase der Arbeit, ein Working-Freizeit- und Kreativ-Projekt samt grüner Ökologie in Perfektionismus. Aber auch sein „HSBC Building“ in Hongkong, das für die Occupy-Bewegung zum Inbegriff eines außer Kontrolle geratenen Kapitalismus wurde, ist letztendlich ein Traumpalast aus Luftigkeit, Transparenz und sozialer Vision: alle Mitarbeiter haben einen außergewöhnlich schönen Blick auf den Victoria Peak oder auf den Hafen. Foster erschuf Architekturen zum Leben und verhalf der Arbeitswelt dadurch zu neuer Qualität, weil er dem Menschen eine würdige Atmosphäre schenkte, die ihn beflügelte. Technische Optimierung einerseits und die Vision von einer neuen, gerechteren Gesellschaft andererseits, für die seine daraufhin maßgeschneiderte Architektur sozial-strukturgebend steht, schließen sich bei Mister Superlativ nicht aus, sondern bilden ein Kontinuum, das seinesgleichen sucht.

Der Architektur-Visionär Norman Foster ist der bessere Karl Marx

Stefan Groß-Lobkowicz1.03.2021Medien, Wissenschaft

Was haben eigentlich Karl Marx und der Architekt der Superlative, Sir Norman Foster, miteinander zu tun? Wir haben uns auf die Spurensuche des britischen Visionärs begeben, der die Welt aus dem Geist der Zukunft bereits jetzt gravierend verändert. Foster siegt über Marx – dies behauptet zumindest Stefan Groß-Lobkowicz.

In der elften Feuerbachthese hatte der Trierer Philosoph und Ökonom Karl Marx sein politisch-wirtschaftliches Programm formuliert. Der Sozialist, der als das graue Gespenst des Sozialismus schattenhaft durch die Welt von heute jagt, hatte einst die Weltrevolution gefordert, als er den Philosophen zwar attestierte, die Welt zu interpretieren, doch zugleich die Maxime aufstellte, diese zu verändern. Eine qualitativ-materielle Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurde damit zur Triebfeder und als Erfolgsrezept der Moderne verordnet. Doch was Marx noch als Sieg des Materialismus sehen wollte und darauf seine Utopie ausrichtete, ist für einen der einflussreichsten Architekten der post-postmodernen Gegenwart, den Gestaltgeber und Visionär Norman Foster, pure geronnene Realität  geworden. Die Welt zu verändern, war und ist für Briten nicht genug – er will und wollte sie gleich neu bauen. Und er erschuf innerhalb eines werktätigen und kreativen Lebens, das nach wie vor von Leidenschaft, Innovationsgeist und unermüdlicher Energie gerade explodiert und am 1. Juni 2021 ins 86. Lebensjahr geht, Superlative, besser gesagt: einen Superlativ nach dem andern – getreu dem Credo: die Welt ist nicht genug.

Der aus armen Verhältnissen 1935 nahe Manchester geborene Self-Made-Millionär und spätere Jahrhundertkünstler hatte den platten Materialismus von Marx ins Visionäre gekippt, baut fast unbeschränkt seine Architekturen in den Himmel, als ob es die Schwerkraft nicht gäbe. Foster hat der Materie, den Formen, mit denen er arbeitet, Stahl, Metall und Glas, ihre Leichtigkeit zurückgeschenkt, sie – wie einst im Zeitalter der gotischen Kathedralen – ihrer Unbändigkeit beraubt und in schwebende Zustände versetzt. Die Materialien sind schwer, doch die Kunstwerke, die der Brite sein ganzes Leben hinweg mit Zauberhand erschuf, wirken wie entmaterialisiert, wie ein durchbrochenes Lichtermeer, wie Symbole der strahlenden Sonne, entspringen einer fast metaphysischen Kraft des Lichtes, die zwar dem Irdischen entlehnt, aber auf das Unendliche, auf die Ästhetik und die Idee der Kunst hinweisen.

Norman Foster, der Architekturen von Weltruf schuf, sei es die Reichtagskuppel, die Millenium-Bridge“ den „The Gerkin“ in London, das „HSBC-Hochhaus“ in Hongkong, den Apple Park in Cupertino, die „Copenhagen Towers“ u.a. hat die Welt verändert. Zumindest deren Gesicht. Seit 1967 entwirft seine gigantische Denkfabrik die Ideen der Zukunft, schwebt global und transversal durch die Welt. Fast 800 Mitarbeiter sind infiziert vom Magnaten der Visionen und sind selbst wie der Chef Gestalt- und Struktur gebende Magneten, die die Stadt von morgen designen. Foster und sein Büro – vom Fundament bis hin zu popigen Designmöbeln, von den Inneneinrichtungen bis hin zu den ökologisch-recycelbaren Baustoffen – alles kommt von der Geistesschmiede aus einem Guss. In der ganzen Welt von heute steckt irgendwo ein Foster von morgen oder zumindest eine seiner Ideen. Und sein Geheimrezept bleibt dabei die innovative, oft futuristische Verschmelzung von Hightech-Elementen mit hohen ökologischen Ansprüchen. Das er sich dabei auch der Tradition des deutschen Bauhauses, der Funktionalität, Strenge, Eleganz und Praxis verbunden fühlt, ist unübersehbar. Und das er wie einst die Bauhäusler in Weimar und Dessau mit ihren Architekturen großartige Monumente schafft, die ihrer Zeit voraus und nur den aller hippesten Zeitgeist spiegeln, ist bei Norman Foster quasi genetisch verankert, in seine DNA eingeschrieben.

Ob Wolkenkratzer oder Global City, die teuersten Häuser und die höchsten Brücken, gehen auf sein Konto – und global denkt und baut Forster von der Wüste bis in die Megacities hinein. Es gibt keinen Ort der Welt, wo Foster, auch mit Megasummen und teuren Investments, die jenseits aller Kalkulationen die noblen Bauherren oder Stadtkämmerer immer wieder das blanke Entsetzen in die Augen treten lassen, seinen Visionen Wirklichkeit verleiht. Der Brite verleiht der Zukunft ein Gesicht, ist Trendgeber – und er zeigt, wohin die Reise architektonisch, ökologisch und lebenstechnisch geht. Das Gesicht der Stadt von morgen und nicht nur Schattenrisse, sondern deutliche Gravuren lassen sich in Fosters Architekturen von heute bereits erahnen. Hier bündelt sich alles, für was die nächste Generation steht: eine tiefe Nachhaltigkeit in einer globalisierten Moderne, ein völlig neues Stadtbild, das mit hängenden Gärten, viel Grünflächen, einer elektrisch- oder Wasserstoff betriebenen Infrastruktur für eine Welt von Morgen steht, die wir derzeit nur aus den spektakulärsten Schiene Fiction Romanen oder Filmen kennen. „Infrastruktur ist alles“, hatte der leidenschaftliche Hypermodernisierer immer betont. Doch Foster schafft buchstäblich den Überbau – und den in anspruchsvoller Schönheit.

Hatte Karl Marx einst die widrigen Arbeitsbedingungen, Kinderausbeutung und menschenunwürdige Arbeitszeiten beklagt, so sind Fosters moderne Arbeitsschmieden jenseits von Dunkelheit Kathedralen der Arbeit. Und ob in seinen Museumsbauten, Bibliotheken, Flughäfen, Büros oder Wohntürmen – er schafft würdevolle Arbeits- und Lebensbedingungen, eine Architektur, die dem Menschen die körperliche wie geistige Produktivität erleichtert, weil sie auch die Work-Life-Balance dazu liefert. Eine schönere Welt, aber so gar nicht im Sinne von Aldous Huxleys „Brave New World“ schwebt ihm vor, jenseits von Uniformisierung, Überwachung und Unterdrückung. Der passionierte Instagramer, der gern seine Leidenschaften postet – vom coolsten Lamborghini, der „Boing 737“ als der schönsten Skulptur der Welt bis hin zum legendären Porsche-Oldtimer und der zudem als leidenschaftlicher Aeronaut Foster 600.000 Follower aus seiner Ideenschmiede mit Ideen versorgt, glaubt an eine neue Form der Arbeit, die nicht nur Last, sondern Freude ist, weil sie technisch unterfüttert, dem Menschen die Möglichkeit gibt, nicht nur in einem ästhetisch schönen Ambiente, sondern auch durch künstliche Techniken unterstützt, zu arbeiten.

Wie Karl Marx kannte Foster den Manchesterkapitalismus, war er doch direkt, wenngleich 200 Jahre später, nahe dem – für seine berüchtigt-prekären Arbeitsverhältnisse bekannt-gefürchteten – Industriestandort geboren. Doch während der Trierer Visionär des Kommunismus sein wollte, dem Neuen Menschen Utopien indoktrinierte, die ihm wesensfremd, seiner Freiheit zuwider und nur durch ein repressive System von Zwängen sich durchsetzen ließen, will Foster durch Freiheit Glück erreichen, Glückseligkeit durch Architektur die Schönheit. Der Kommunismus ist klanglos gescheitert – doch die Zeit für Fosters Visionen immer greifbarer. Zwar baut der Architekt der Superlative für die Reichen, doch er will die große soziale Ungleichheit letztendlich auch besiegen. Es will eine gerechtete und eine nachhaltigere Welt und seine Architekturen stehen bereits dafür, ja, dieses ist vielleicht das Geheimnis seines künstlerischen Schaffens. So idealtypisch bereits 2015 beim Entwurf der Copenhagen Towers umgesetzt, einem Ensemble von einem 22-stöckigen Büroturm und einem niedrigeren Gebäude, die miteinander durch ein Atrium verbunden sind, das mit einem dichten „Wald“ aus Olivenbäumen das grüne Herz des Bauwerks ist. GeschwungeneHolzprofile in der Stahlkonstruktion des Glasdaches sowie kurvige Holzbänke betonen das natürliche Ambiente. Ökologie, lokale und recycelte Materialien, die Verwendung von lokalem Bauschutt sowie Deckenverkleidungen aus PET-Kunststoff und Filz – das alles zeigt, Foster geht neue Wege für eine grüne Zukunft, die ihren letzten Clou in einer Kombination von Photovoltaik sowie einem innovativen Heiz- und Kühlsystem auf Grundwasserbasis findet. Energieeffizienz – auch dies ein Nomen est Omen des Briten.

Foster hatte mit dem Apple-Hauptsitz im Silicon Valley (2003-2018) in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges architektonische Highlight der Superlative geschaffen und definiert. Wie der verstorbene Visionär und Apple-Chef Steve Jobs hat der 1990 zu Sir Norman geadelte Architekt, die Ideen mit der ringförmigen Firmenzentrale, dem neuen Apple Park in Cupertino einen Ort zu schaffen, der alle Mitarbeiter versammelt und zugleich eine nahtlose Verbindung zwischen dem Hightech-Arbeitsplatz und der Natur schafft. Mit knapp einem halben Kilometer Durchmesser ist der Sitz des Computerriesen selbst größer als das Pentagon. Umrankt von einer Grünfläche mit rund 9.000 neu gepflanzten Bäumen arbeiten mehr als 12.000 Menschen unter einem riesigen Karbondach und hinter 13,7 Meter hohen Glasfenstern. Und wie bei früheren Bauten wird der Apple Campus mit erneuerbaren Energien betrieben.

Der englische Lord, der alle nur erdenkbaren Preise, den „Pritzker-Preis“, den „Order of Merit“, das „Große Bundesverdienstkreuz mit Stern“ wie Trophäen sammelt und zu den Bestverdienern dieser Welt gehört, der mit seinen Wolkenkratzern, Bahnhöfen, Flughäfen, Bürogebäuden Superlative der modernen Kunst schafft und somit futuristisch-expressive Architekturen, zudem die Würde eines Life Peer besitzt und dem  House of Lords angehört, ist zwar ein Kapitalist in Reinkultur, aber eben einer, dem das Soziale nicht gleichgültig gegenübersteht. Ist Norman Foster damit die Antipode zu Karl Marx, ein Neo-Kapitalist? Keineswegs. Der Architekt von morgen schafft eine neue Arbeits- und Lebenskultur, die in ihrer Kühnheit und in einem Anspruch weit über Marx Utopismus hinausgehen und dabei zugleich zeigt, der Kapitalismus muss nicht als Raubtier auftreten, sondern in seiner sozialen Dimension vermag er dem Menschen eine würdige Perspektive verschaffen. Norman Foster ist – architektonisch gesehen – also der bessere Klassenkämpfer als Marx.

Biden hat Benzin im Blut und liebt die Corvette

Stefan Groß-Lobkowicz12.02.2021Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Während Donald Trump sein herrschaftliches Anwesen Mar-a-Lago-Residenz im Bundesstaat Florida wieder bezogen hat und die Anwohner mehr denn je über die Präsenz des Ex-Präsidenten genervt sind, rückt nicht nur der Politiker, sondern der Privatmann Joe Biden immer mehr ins Zentrum des medialen Interesses. Und das ist kein Wunder, er ist ein bekennender Autofanatiker. Von Stefan Groß-Lobkowicz

Joe Biden, der Amerika wieder vereinigen will und damit den Anti-Trump macht, setzte schon während seiner Angelobung Zeichen, die um die Welt gingen. Bei seinem Amtseid hatte er seine Hand auf ein besonders auffälliges Exemplar der Heiligen Schrift gelegt. Die in Leder gebundene Bibel ist fast 13 Zentimeter dick, mehrere Kilo schwer und befindet sich seit 127 Jahren im Besitz der Familie. Der katholische Politiker hatte diese in der Vergangenheit bereits bei ähnlichen Anlässen verwendet, etwa bei seiner Vereidigung zum Vize-Präsident der USA unter Barack Obama. Das Prachtstück ist zudem mit einem Keltenkreuz versehen, was auf die irischen Wurzeln der Familie hinweist. Zwar fiel die Zeremonie am 20. Januar 2020 bescheidener und ein wenig nüchterner als bei Barack Obama aus. Es war nicht so katholisch, anschaulich, lebensbejahend, bunt, sondern eher protestantisch. Doch über allem wehte der Geist eines Intellektuellen, der Biden eben auch ist.

Bibel als Bekenntnis einerseits, elegant, stilvoll, ganz Ralph Lauren, andererseits. Wie seine Ehegattin Jill setzt er auf amerikanische Marken. Doch eine Leidenschaft des neuen Mannes im Weißen Haus ist so ganz unamerikanisch. Biden hat zwei Schäferhunde, Major und Cham. Während in Deutschland diese Hunderasse, die einst von Diktator Adolf Hitler immer wieder in das mediale Rampenlicht gerückt wird, in deutschland vollkomen aus der Mode ist und der Dackel eine Renaissance feiert, sind im Weißen Haus die deutschen Wachhunde nunmehr präsent – ohne Ideologie, ohne Macht- und kruder Machansprüche. Sie sind weder Zeichen der Überlegenheit eines Hundes, sondern beherztes Zeichen von Tierliebe und darüber hinaus noch aus dem Tierheim adoptiert.

Ein Mercedes, sonst nur Amis

Doch Biden hat mehr als Mäntel von Ralph Lauren zu bieten. Der 46. Präsident der USA ist ein Autonarr. Der Mann, dem man sein Alter manchmal ansieht, das er sonst fast jugendlich weg tanzt, wenn er auf der politischen Bühne wie der jugendliche Obama schwebt, bekennt sich aber selbst dazu, Benzin im Blut zu haben. Mit einem Chevrolet Corvette Convertible Stingray hatte 1967 alles begonnen. „Ich liebe Geschwindigkeit“, so der Mann aus Scranton, Pennsylvania. Die Corvette wurde ihm 1967 von seinem Vater, einem Autoverkäufer, geschenkt. Sein Vater hielt sich als Occasionshändler eher schlecht als recht die Familie über Wasser, bevor es mit neuen Chevrolets besser lief. Wie sehr vernarrt die derzeitige Nummer eins Amerikas in Autos, wie sehr Biden ein eingeschworener Autofan ist, zeigte sich schon als Vizepräsident. Das einzige, so sein glaubhaftes Bekenntnis damals, was ihm dieses Amt ein wenig verleidet, ist, dass er chauffiert wird anstatt selbst zu fahren. Und das sei es, „was ich an meinem Job hasse“. Doch der Wagen, dem er seit fast 54 Jahren die Treue hält, ist die Chevrolet Corvette Convertible Stingra der C2-Serie mit V8 und 350 PS. Seit dem Hochzeitsgeschenk an den frisch diplomierten Historiker gehört die Rennkanone, der Supersportwagen, zu Biden. Ob an der Uni, wo er promovierte, die Corvette hat sein Schicksal begleitet. Auch in dunklen Stunden. Nebenbei hatte der Rechtsanwalt einen Ford-Kombi. In diesem waren nach Bidens Wahl zum Senator des Bundesstaats Delaware seine erste Ehefrau Neilia (1942-1972) und die einjährige Tochter Amy tödlich verunglückt. Seine beiden Söhne, der später an Krebs verstorbene Beau und Hunter wurden dabei schwer verletzt. Dennoch legte der neue Senator damals seinen Amtseid an ihrem Krankenbett ab.

Bidens Autos

Sein erstes Auto überhaupt war ein1951-er Studebaker Champion. Darauf folgten ein gebrauchtes Cabrio, ein Plymouth Cranbrook Convertible, ein 1956-er Chevrolet Bel Air, mit dem seine Liebe zu General-Motors-Marke Chevrolet begann. Einmal ging Biden fremd, diesmal wieder nach Deutschland mit dem legendärer Mercedes 190 SL. Die Modellserie fährt seit Jahren bei Auktionen weltweit riesige Rekordsummen ein und ist eines der beliebtesten Sammler- und Anlageobjekte überhaupt. Auch der Mercedes ging in Bidens Besitz als Gebrauchswagen über. Und in seiner Privatgarage soll heute ein Jeep wie bei George W. Bush stehen.

Traumautos will er Amerika schenken

„America first“ hieß das Losungswort von Donald Trumps Amtszeit. Doch er und seine smarte Lady sind eher das Gegenteil von amerikanischen Marken gewesen. Melania war verliebt in europäischen Luxus – Stil-Ikone bis Wäscheständer titelten damals die Modezeitungen.

Anders als seine Vorgänger ist Jo Biden auch hier wieder ganz anders als sein Vorgänger, setzt neue Akzente und das heißt für den überzeugten Amerikaner eben auch amerikanische Produkte – wie Ralph Lauren oder eben die Corvette. „Ich glaube“, sagte er 2020, „dass der Markt des 21. Jahrhunderts wieder uns gehören kann, indem wir zu Elektroautos wechseln. Nebenbei: Es heisst – und ich freue mich darauf, sie zu fahren, falls es wahr ist –, dass sie eine elektrische Corvette machen, die 320 km/h läuft.“

Rückkehr zum Pariser Klima-Abkommen

Trump hatte wenig für Naturschutz, Umwelt und Klimaabkommen übrig. Joe Biden fährt auch hier wiederum auf der Überholspur. Er hatte das von Trump ausgesetzte Pariser Abkommen in Windeseile wieder gekippt. Donald Trump hatte 2017 den Austritt aus dem Abkommen verkündet. Es lege dem Land „drakonische finanzielle und wirtschaftliche Lasten“ auf, lautete seine Begründung. Im Pariser Klimaabkommen von 2015 hatten beinahe 200 Unterzeichnerstaaten vereinbart, die Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. Und Biden betonte bereits in seiner Amtsantrittsrede die Bedeutung des Klimaschutzes. Vom Planeten selbst komme ein Ruf nach Überleben.

Corvette ist besser als ein Porsche 911

Und er hat hehre Ziele: Als neuer US-Präsident will er in die Zukunft des Elektroautos investieren, die total angeschlagene amerikanische Automobilindustrie zu neuem Glanz und neuer Renaissance führen. Er will Milliarden in die Energiewende stecken und eine Million Autojobs schaffen. Und sein Traum bleiben 600.000 Ladesäulen bis 2030. Schon jetzt vertraut die amerikanische Autoindustrie Biden mehr als Trump. Denn Biden, der Autofan, ist überzeugend. Er besticht seine Fans, wenn er in seiner Corvette sitzend strahlt und bekennt, „Ich liebe dieses Auto“. Auch dann glaubt man seinem amerikanischen Traum, wenn er in einer Rede vor Yale-Studenten erklärt, die Corvette sei besser als ein Porsche 911.

Im Alter auf die Rennstrecke? – Doch wohl nur privat

Doch mit dem Traum vom selber fahren ist es vorbei. Die Sicherheitsvorschriften erlauben es nicht. Von 2009-2017 als Vizepräsident unter Obama durfte der Demokrat nur noch gepanzerte „Chevys“ und Cadillacs des Secret Services nutzen. Und die strengen Auflagen bleiben. Nie wieder darf der Politiker auf öffentlichen Straßen fahren. Staat unbegrenzter Freiheit muss er den vollgepanzerten, tonnenschweren Cadillac One, „The Beast“, nutzen. Der Preis seiner politischen Karriere, das Schicksal, das auch ihn mit dem Auto verbindet, ist für einen Benzin- Junkie und Adrenalin-Begeisterten hoch. Sein Vorgänger George W. Bush jedenfalls hatte einen Ausweg aus der aussichtslosen Situation gefunden. Auf seiner 6,4-Quadratkilometer-Ranch in Texas gibt er Gas und seinem Ford F-Series-Pickup die Sporen. Biden sollte sich zumindest schon einmal ein größeres Grundstück in Delaware ankaufen.

Der Mode-Stil der Präsidenten-Gattinnen und was er verrät

Stefan Groß-Lobkowicz1.02.2021Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Von Jackie Kennedy bis Michelle Obama war der persönliche Stil der Ehefrauen von US-Präsidenten immer ein Streitpunkt in der Öffentlichkeit. Melania Trump, ein wahrer Wäscheständer, machte keinen Hehl aus ihrem teuren Geschmack, von einem 51.000 US-Dollar teuren Dolce & Gabbana-Mantel bis zu einem chinesisch inspirierten bestickten Gucci-Dress. Melanias Sinn für Mode war beispiellos für eine First Lady der USA in der heutigen Zeit. Mit Jill Biden hat sich das wieder geändert.

Die Luxus-Stil-Ikone Melania

Nun ist die ehemalige First-Lady Melania Trump Geschichte. Das Exklusiv-Geschöpf, das hunderdtausende Dollar in sich als Marketing- und Schönheitsikone investiert haben muss, ist im Rentnerparadies Floria angekommen. Und irgendwie passt sie in die dortige Schickeria, einer Mischung aus kubanischer Lebensfreude, karibischer Exotik, unendlichem Sonnenschein und Koketterie. Die ganze Küste ist nichts anders als ein Eldorado der Superreichen, eine Spielwiese für Jachtbesitzer, Immobilienhaie und aufgehübscht-exaltierte Luxusladys mit den teuersten Implantaten. Und vielleicht ist ihr glamouröser Stil, ihr unvergleichlicher Sinn für das Exklusive, das einzig Positive, was aus der Trump-Ära bleibt. Melania war eigentlich nur in einen verliebt, in ihren Stylisten Hervé Pierre.

Kleider mögen Geschmackssache sein, doch für eine First Lady gilt dieses Gebot natürlich nicht. Sie sind, von Jackie Kennedy in den 1960er Jahren bis hin zu modernen First Ladies wie Michelle Obama, Melania Trump oder Jill Biden, Ausdruck ästhetischen sowohl politischen Bewusststeins. Während die First Lady maßgeblich bei ihrer Kleidungswahl wie ein goldenes Kalb buchstäblich beurteilt wird und dann entweder von den Modeexperten idealisiert oder als Freiwild buchstäblich zerrissen wird – für Modeexperten ist jedes Detail ihres Aussehens geradezu ein Bekenntnis.

Es bleibt unnötig zu erwähnen, dass für Frauen im öffentlichen Leben nicht dieselben Standards gelten wie für Frauen im Amt wie Hillary Clinton oder Nancy Pelosi. Michelle Obama legte immer darauf Wert, ihre Kleidung in das Gespräch einfließen zu lassen. Manchmal laut, manchmal weniger laut. Um ehrlich zu sein, waren einige der Entscheidungen der früheren First Lady nicht immer goldrichtig, aber ob sie nun eine erschwingliche J. Crew-Strickjacke trug oder ein Versace-Kleid bei einem Staatsbankett für Italien, sie wusste, wie man das Spiel der Modediplomatie geschickt spielte.

Melania Trump hingegen hat sich nie davor gefürchtet, mit ihren teuren Kutten und Kollektionen von ultra luxuriösen Hermès-Taschen die Wähler zu verprellen. Sie war ein wahrer Wäscheständer, und ihr teurer Geschmack Inbegriff dessen, was eine privilegierte Frau trägt, die zwischen Manhattan und Palm Beach jagt, um fabelhaft auszusehen.

Sie ist ein Fan von Mode mit einem großen Fabel: Dior, Chanel, Gucci, Valentino – die Liste ist endlos lang und umfasst nicht so viele amerikanische Designer. Obwohl von amerikanischen First Ladies eine starke Loyalität zu US-Marken erwartet wird, schien „Make America Great Again” eindeutig nicht auf die italienisch und französisch angehauchte Garderobe von Melania Trump zuzutreffen.

Für sie ist gutes Aussehen das Wichtigste, und dass hat sie in den vier Jahren ihres öffentlichen Engagements geschafft. Einem tadellosen Outfit folgte ein noch extravaganteres. Das ist immerhin eine kleine Leistung und eine große für die europäische Modewelt. Trumps Frau glänzte auf jedem Parkett mit der perfekten Robe – doch genutzt hat es ihr und ihrem Mann nicht. Sie sind und bleiben Egomanen und die Kleidung eben Ausdruck ihrer blasierten Eitelkeit. Insofern ist Gottfried Keller zu belehren, dem wir die schöne Novelle „Kleider machen Leute“ verdanken: Manchmal tragen Leute eben nur Kleider.

Jill Biden bekennt sich zu Amerika und setzt damit auch politisch Zeichen

Wie ihr Mann, der sich bei seiner Amtseinführung für Modezar Ralph Lauren entschied, bekannte sich auch die neue First Lady für ein US-amerikanisches Label. Der türkisblaue Tweedmantel mit passendem Kleid und langen Lederhandschuhen entstammt den Händen von Alexandra O’Neill. In der US-Mode-Szene ist die Chefdesignerin des Labels Markarian keine Unbekannte, entwarf sie doch in der Vergangenheit Kleider für Stars wie die Schauspielerin Laura Dern oder Sängerin Lizzo. Bidens blauer Mantel, bestickt mit Swarovksi-Kristallen und für sie maßgeschneidert, ist natürlich ein Bekenntnis zur Demokratischen Partei. Als Farbe der Ozeane und des Himmels steht das Blau, aber auch für Gelassenheit, Stabilität, Sorgsamkeit und Verantwortung. Und die Botschaft, die die 69 Jahre alte Lehrerin, die zwei Masterabschlüsse hat und einen Doktorhut trägt, ist klar: Nach der Ära Trump gilt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Nach den Zeiten von Fake News und einer gigantisch aufpreschenden Propaganda-Maschinerie gilt es unprätentiöseren Zeiten entgegenzublicken, wo nicht Starrsinn und Eitelkeit, sondern Ausgewogenheit und Vernunft regieren. Und Jills Modebotschaft hat eine noch subtilere Konnotation. Sie will sich zu einer Befürworterin der aufstrebenden amerikanischen Mode machen.

Das Luxusgefährt Melania hat bei ihrer Ankunft in Florida mittlerweile das Kunterbunt des multikulturellen „Swing States“ angenommen und vom komplett schwarzen Look in ein überraschend bunt gemustertes, über 3.000 Euro teures Gucci-Kleid gewechselt. Bei ihrem Aufbruch aus dem Weißen Haus trug sie noch Schwarz von Kopf bis Fuß. Ein sündhaft teurer, durchaus klassisch-schicker Look – der wie immer nicht von amerikanischen Designern stammte.

Während viele Melanias Wahl von Chanel, Dolce & Gabbana und Co. als ihr letztes Statement verstanden, tritt Jill Biden in die Fußstapfen von Michelle Obama. Die ehemalige First Lady hatte im Jahr 2009 bei der Amtseinführung ihres Mannes, Barack Obama, einen gelben Mantel (ebenfalls mit Swarovski-Kristallen dekoriert) von Isabel Toledo, einer kubanisch-amerikanischen Designerin, getragen. Und wie Jill hat auch Michelle während ihrer achtjährigen Amtszeit immer wieder verschiedene junge amerikanische Talente protegiert. Es ist also nicht so ganz unpassend, Michelle Obamas letztem Instagram-Post zu zitieren. „Heute ist der Tag. Nach einer verstörenden Ära des Chaos und der Spaltung treten wir in das nächste Kapitel der amerikanischen Führung ein… Im Moment fühle ich mehr als nur Erleichterung darüber, dass wir die letzten vier Jahre hinter uns gelassen haben. Ich fühle mich wirklich hoffnungsvoll für das, was kommen wird.“

Putins Luxus: Dieses Nawalny-Video entüllt den Prunk des Diktators

Stefan Groß-Lobkowicz25.01.2021Medien, Politik

Der Kreml hat schon dementiert. Das Team des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny hat zwei Tage nach dessen Ausreise aus Deutschland und der späteren Festnahme in Russland eine Recherche zu einem angeblichen Luxus-Palast von Präsident Wladimir Putin veröffentlicht. Das an der Schwarzmeer-Küste gelegene Anwesen soll umgerechnet 1,1 Milliarden Euro gekostet haben.

Es sind brisante Vorwürfe, die der russische Oppositionelle und größte Gegner von Wladimir Putin, Alexej Nawalny, macht. Der Mann, der vor fünf Monaten nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebte, ein Angriff, der wahrscheinlich vom „Killerkommando“ des Inlandgeheimdienstes FSB von Putin beauftragt und ausgeführt wurde, wirft Russlands Nummer eins nun vor, sich ein riesiges Anwesen mit Schmiergeldern gekauft zu haben. Der zweistündige Film hat es in sich. Und er ist ein Gruß aus dem Gefängnis in Moskau, in dem Nawalny derzeit sitzt. In dem Video zeigt der 44-Jährige Kreml-Kritiker Luftaufnahmen eines gigantischen Anwesens an der sonnigen Schwarzmeerküste – mit Parkanlagen, einer Kirche, einem Hubschrauberlandeplatz, einer Brücke und einer Orangerie. Mit 7800 Hektar ist es 39 Mal grösser als das mondäne Fürstentum Monaco, wo sich der internationale Jetset trifft. Allein das Hauptgebäude in Putins Edelvilla steht auf einer Fläche von mehr als 17.000 Quadratmetern, was mehr als zwei Fussballfeldern entspricht.

Gegen die Vorwürfe von Nawalny hat sich der Kreml unterdessen gewährt. Putins Sprecher Dmitri Peskow betonte, es sei „Nawalnys alte Schallplatte“, alles „Unsinn“, der Präsident und der Kreml hätten damit nichts zu tun.

Putin, der ehemalige KGB-Offiziert, der in Dresden mit der ostdeutschen Staatssicherheit für ein repressives System warb und den kommunistischen Idealen diente, war nie ein unbeschriebenes Blatt, ethisch loyal, sondern ein Machtmensch, der notfalls auch über Leichen geht. Nach der Amtsübernahme von Boris Jelzin, der die ehemalige Sowjetunion auf einen kapitalistischeren Kurs bringen wollte, hatte sich Putin immer wieder als Hardliner präsentiert. Ob im Tschetschenien-Krieg oder bei der Entmachtung der einflussreichen Oligarchien, die damals durch die Protektion Jelzins das politische Geschehen dominierten – Putin hatte sie alle abserviert und entmachtet oder wie den reichsten Russen Michail Borissowitsch Chodorkowsk ins Gefängnis verband und sein autoritär-repressives Reich entwickelt, das Kritiker, Verräter mit Tod oder Gefängnis bestraft. Meinungsfreiheit gibt es unter Putin kaum, wer Kritik übt, verschwindet oder wird Opfer der Mordbrigaden wie Anna Stepanowna Politkowskaja. Nachweisen kann man dem starken Mann aus dem Kreml all dies nicht, doch die Morde tragen alle die Spur des russischen Geheimdienstes, den Putin wie ein Diktator lenkt.

Wie reich ist Putin?

Schon lange wird darüber spekuliert, wie reich der russische Präsident eigentlich ist. Aber auch hier verläuft sich die Spur im Dunklen. Nawalny sieht das anders: Putins Geheimdienstfreunde von einst, die ihn bis heute begleiten, haben ihn zum „reichsten Mann der Welt“ gemacht. Und der in Russland wie ein Popstar gefeierte Oppositionelle nennt Putin, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, mit Blick auf die Palastbilder vom Schwarzen Meer einen „Zaren“, der jedes Maß verloren habe. „Aus einem einfachen sowjetischen Offizier ist ein Irrer geworden, der Geld und Luxus scheffelt“.

Nawalnys Video hat unterdessen Durchschlagskraft: Rund 80 Millionen Mal wurde das Video aufgerufen. Es läuft viral im Netz und die kremlkritischen Medien in Russland kennen kaum noch ein anderes Thema als die Rückkehr Nawalnys.

Klar ist unterdessen, dass sich der russische Staatspräsident seit Monaten weniger in Moskau als am Schwarzen Meer aufhält. Von einer schweren Erkrankung ist die Rede – aber auch das wird aus offiziellen Kreisen dementiert. Putin hat alle Spekulationen um seine Person dementiert, es handele sich um gezielte Indiskretionen, die durch die westlichen Geheimdienste gestreut würden. Nawalny wirft er vor, für den US-Geheimdienst CIA zu arbeiten.

In seinem Video rekonstruiert Nawalny mittels zahlreicher erstmals so gezeigter Dokumente die verschleierten Besitzverhältnisse zum größten Privatanwesen in Russland. Der streng bewachte und weiträumig umzäunte Palast mit mehr als 17.500 Quadratmetern Fläche liegt in einer Weinbauregion nahe der Stadt Gelendschik. Ein Tunnel führe zum Strand, heißt es. Den Recherchen zufolge waren zeitweise „kleine Beamte“ aus der Präsidialverwaltung als Eigentümer eingetragen. Der Palast soll 1,3 Milliarden Euro kosten, sei im italienischen Design gehalten und fast 40 Mal so groß wie Monaco.

„Putin lebt in extremem Luxus. Er lebt das Leben eines arabischen Scheichs und eines Menschen, der mit einem Blick Sachen in Gold verwandeln kann”, sagt Georgi Alburow, der maßgeblich an den Recherchen beteiligt war. Und Nawalny fügt hinzu: Es handelt sich um den größten Korruptionsskandal der russischen Geschichte. Damit übertrifft Putins Residenz sogar die von Ex-US-Präsident in Florida. Der Milliardär kann 128 Zimmer, fünf Tennisplätze, drei Luftschutzbunker sein eigen nennen. Seine imposante Villa, bekannt als Mar-a-Lago-Residenz, ist 20 Hektar gross und wird derzeit auf 160 Mio. Dollar geschätzt. Im Vergleich mit dem Haus von Wladimir Putin ist das Anwesen aber nicht mehr als ein Gartenhäuschen.

Putin liebt Luxus und das Glamouröse. Er ist verliebt in Macht, Geld und in seine Insignien der Macht. Sein Refugium ist keine Residenz, wie Nawalny unterstreicht: „das ist eine ganze Stadt, oder besser: ein Königreich. In diesem gibt es nur einen Zaren”.

Joe Biden: Zur Amtseinführung trug er Ralph Lauren

Stefan Groß-Lobkowicz21.01.2021Gesellschaft & Kultur, Medien, Politik

Der neue US-Präsident Joe Biden trug anlässlich seiner Angelobung am Mittwoch Ralph Lauren. Dunkelblauer Anzug und hellblaues Hemd. Biden setzte sich mit einem zurückhaltenden Auftritt von den Brioni-Anzügen und der roten Krawatte seines Vorgängers Donald Trump ab. Doch warum entschied er sich bei der Mantel- und Outfitwahl für einen amerikanischen Designer?

Es war der wichtigste Tag seines Lebens. Endlich Präsident, endlich die Nummer eins im Weißen Haus. Dafür hatte er hart gekämpft. Am 20. Januar 2021 wurde Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Die Zeremonie war symbolhafter denn je, eine bis ins Detail geplante Inszenierung und ein perfekt gekleideter Präsident. Für das höchste Amt seines Lebens hüllte sich der am 20. November 1942 in Scranton, Pennsylvania, geborene Biden fast von Kopf bis Fuß in Stoffe von Ralph Lauren. Sein Mantel, seine Krawatte, sein Anzug und eine Maske in passendem Stoff – sie waren alle vom ikonischen amerikanischen Designer durchgestylt.

„Kleider machen Leute“ hieß eine berühmte Novelle des Schweizer Dichters Gottfried Keller. Und bei Biden passt das alles gut zusammen. Anders als sein Vorgänger Donald Trump, der mit einer Vorliebe für Brioni-Anzüge glänzte, dazu lange, baumelnde Krawatten trug und wie ein Potenzbulle durch die Hallen des Weißen Hauses marschierte, mantelte sich der Neue in das teurere, aber gediegene amerikanische Label des Topdesigners.

Lauren selbst kam einst aus einfachen Verhältnissen, war der Sohn von Fraydl und Frank Lifshitz, einem Anstreicher. Seine Eltern sind aschkenasische Juden gewesen und aus Pinsk in Weißrussland in die USA emigriert. Bevor Lauren also seine Superkarriere startete, hatte er die Armut buchstäblich aufgesogen. Doch spätestens im März 2012 hatte er es endgültig geschafft. Das berühmte „Forbes-Magazine“ schätzte sein Vermögen damals auf 7,5 Milliarden Dollar und Lauren war damit auf Platz 122 der reichsten Männer der Welt.

Doch was hat der Topdesigner mit Joe Biden zu tun? Immer wenn Biden einer politischen Botschaft im US-Wahlkampf und dazu seinem Kampf gegen das Coronavirus Ausdruck verleihen wollte, trug er Stoffe der Super-Bekleidungsmarke. Bei seiner ersten Corona-Impfung war Biden in einem Rollkragenpullover zu sehen und bei seiner zweiten Impfung vor laufenden Fernsehkameras trug er ein Polo mit dem Pony-Logo auf der Brust.

Ralph Lauren, der Aufsteiger, der den amerikanischen Traum vom Underdog zum Milliardär schaffte, verkörpert wie kaum ein anderer Designer die Idee des amerikanischen Erfolgs. Sein Imperium setzt auf Amerika, auf dieses Made in Amerika, seine gesamte Markenbotschaft will auf nichts anderes, als die gesamte Welt auf das großartige Land hinweisen, Menschen aufzufordern, seine Polos und Anzüge zu tragen. Laurens Kleider laden also geradezu dazu ein, sich mit Amerika buchstäblich zu identifizieren, integrativer Teil desselben durch einen gewissen Stil und Mode zu werden.

Und darum ging es auch Jo Biden bei seiner Amtseinführung. Sein Mantel, sein Habitus deutet darauf hin, dass es der neue US-Präsident bescheidener, aber trotzdem elegant mag, dass er harmonischer und weniger aggressiv als sein Vorgänger Trump auftritt. Er nutzt vielmehr die Kunst der Mode auf eine weniger konfrontative Weise. Und nach vier Jahren von Outfits, die offensiv die geballte Macht eines rohen Gewaltmenschen demonstrierten, präsentiert sich Biden in schlichter Eleganz, die in ihrer Leichtigkeit etwas ganz Wunderbares hat.

Ralph Lauren kann sich freuen: Einen besseren Markenbotschafter gibt es derzeit für ihn nicht. Und für alle, die ein wenig wie Biden sein wollen, bleibt nur eins: Zeigen Sie ein gepflegtes Understatement und kleiden Sie sich wie der amerikanische Präsident. Am besten kaufen Sie sich noch zwei Schäferhunde, oder adoptieren diese. Dann haben sie zumindest ein Stück Weißes Haus in ihrem Leben und einen fast präsidialen Stil.

Diese Experten beraten Angela Merkel in der Pandemie

Stefan Groß-Lobkowicz19.01.2021Medien, Wissenschaft

Es ist mal wieder Krisenstimmung im Kanzleramt. Die Corona-Infektionszahlen sinken, die Impfungen laufen nach wie vor langsam an. Doch das Hauptproblem sind neue Mutationen. Die Bundeskanzlerin hat einen Beraterstab am 18. Januar zusammengerufen, um über eine härtere Gangart im Kampf gegen Corona vorzugehen. Der Shutdown geht in die nächste Stufe. Schon heute will Angela Merkel mit den Regierungschefs der Länder neue Verschärfungen vereinbaren. Doch was raten die Wissenschaftler Merkel?

Die Bundeskanzlerin setzt seit dem Beginn der Pandemie auf Experten. Zu denen, denen die Kanzlerin vertraut, gehören in erster Linie der Chef des Robert-Koch-Instituts Prof. Lothar Wieler (59) und Top-Virologe Prof. Christian Drosten (48, Charité). Doch der Kreis der Corona-Berater im Kanzleramt ist viel größer. Mit an Bord ist beispielsweise Prof. Dr. Rolf Apweiler. Der Biochemiker (57) ist Co-Direktor des „European Bioinformatics Institute“. Wie der Experte betont, machen ihm die Corona-Mutationen große Sorgen. Diese Virus-Variante schaffe sechs bis acht mal mehr Fälle pro Monat als andere Varianten. Apweiler rät der Kanzlerin daher zu einem scharfen Lockdown (Schulschließungen, Homeoffice-Pflicht), setzt auf ein schnelles Impfen und den Aufbau der Sequenzier- und Bioinformatikanalysekapazität. Und er stellte klar: „Wenn der politische Wille und die Entschlossenheit fehlt, hilft das beste Test- und Nachverfolgungssystem sowie COVID-19-Genom-Überwachungssystem nicht.“

Auch eine 41-jährige Psychologin gehört zum Gremium, das die Bundeskanzlerin berät. Cornelia Betsch ist Professorin für Gesundheitskommunikation an der Erfurter Universität. Aus psychologischer Sicht betont sie: „Trotz guter Akzeptanz der individuellen Schutzmaßnahmen führen psychologische Faktoren dazu, dass wir Ausnahmen machen. Relevantes Wissen fehlt immer noch und wird wegen der Mutation gerade noch wichtiger.“ Und Betsch warnt vor der Pandemiemüdigkeit. Diese sorge, so die Wissenschaftlerin, für Trägheit: „Relevantes Wissen verbreitet sich nicht so schnell, Verhalten reagiert träger (…).“ In der Krise hat sie folgenden Vorschlag. „Die „Pandemiebekämpfung soll stärker das Eigeninteresse aller in einer gemeinschaftlichen, gesamtgesellschaftlichen Lösung sein.“ Kurzum: Es müsse einfachere Regeln geben.

Die Virologin Melanie Brinkmann gehört ebenfalls zu Merkels näherem Beraterteam. Die 47-jährige Professorin lehrt an der Technischen Uni Braunschweig und ist Professorin am Institut für Genetik. Brinkmann betont: „Es ist der kritischste Moment in der Pandemie.“ Der Grund: „Die neue Variante ist im Land und es ist ein Naturgesetz, dass sie sich durchsetzt.“ Und die Virologin fordert: „Je eher wir handeln, um so weniger Schaden werden wir anrichten. Die Gefahr ist da, wenn wir jetzt nicht handeln, wir das Jahr 2021 schlimmer als 2020. Daher ergeht ihre Forderung: Da die Kontrolle nur durch niedrige Inzidenzen möglich ist, müsse die Bevölkerung überzeugt sein, „dass wir auf Null müssen.“ Die Impfung, so die Wissenschaftlerin, werde erst am Ende des Jahres helfen.

Christian Drosten bleibt der Top-Virologe der Bundesregierung. Der Professor an der Charité in Berlin ist Direktor des Fachbereichs Virologie im größten Labor Europas. Drosten verteidigte die Überprüfung des Coronavirus auf Mutationen und Co.: „Deutschland ist nicht schlecht im Sequenzieren!“ Außerdem plädierte er für einen innereuropäischen Austausch von Genom-Analysen.

Mit an Bord ist Michael Meyer-Hermann.  Er ist seit 2010 Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Der Experte warnte: Mit der Öffnung von Schulen und Geschäften sei die Inzidenz von 50 nicht zu erreichen. Sie pendle dann zwischen 50 und 100. Eine Verlängerung des Lockdowns bis Ende Februar  könnte zumindest die Inzidenz von 50 erreichen. Was auch ihm Angst bereitet, sind die neuen Corona-Varianten. Er befürchtet, dass sich diese noch weiter ausbreiten „und dann die gegenwärtigen Maßnahmen nicht mehr helfen. Was dann nur noch hilft, ist ein kompletter Shutdown der Gesellschaft.“ Durch diesen „hätten wir Anfang März eine Inzidenz von 10.“ Meyer-Hermann rät: „Wir müssen handeln, bevor sich die Variante ausbreitet.“

Auch ein Physiker ist mit an Bord und berät die Kanzlerin bei heiklen Entscheidungen. Kai Nagel arbeitet als Professor in der Mobilitätsforschung und Verkehrssystem-Planung. Bei seinen Untersuchungen geht es um die Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs und darum, welche Auswirkungen sie auf das Infektionsgeschehen hat. Anhand von Handy-Daten entwickelt Nagel Modelle und zeigt damit den Zusammenhang zwischen den Bewegungsmustern von Menschen und den Infektionszahlen. „Anhand der Mobilfunkdaten sehen wir sofort, wenn die Aktivität sinkt, und bauen das in unser Modell ein. Wenn im Extremfall alle zu Hause bleiben würden, würde das Virus nicht mehr weitergegeben – zumindest nicht außerhalb des eigenen Haushalts.“

Vertrauen setzt Merkel ebenfalls auf Gérard Krause. Der 56-Jährige ist Arzt und wurde 2011 Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Hochschule Hannover und Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Krause setzt auf den besseren Schutz der Alten und betont: „Man muss ja immer auch die unerwünschten Wirkungen mitdenken und mitbetrachten. Und dann darf man sich auch nicht der Illusion hingeben, dass dadurch allein die Todesfälle deutlich reduziert werden können, denn die finden in einer Art Mikrokosmos statt, nämlich in den Alten- und Pflegeheimen, in denen ein Lockdown ja per se erst mal nicht wirkt. Ich kann sämtliche Busse stilllegen und trotzdem findet das Leben in den Altenheimen statt.“

Mitte Januar ist sich das Gremium von Experten einig, Deutschland braucht einen neuen Lockdown. Es ist wieder für viele eine unpopuläre Entscheidung – doch die Corona-Mutationen zwingen zu einer noch härteren Gangart im Kampf gegen die Pandemie.

Der ewig Unterschätzte: Armin Laschet

Die einen sahen Angela Merkel schon auf dem Abschiebegleis, die anderen im Dämmerflug nach 16 Jahren Kanzlerschaft endgültig am Horizont verschwinden. Doch durch die Corona-Krise ist die Kanzlerin peu à peu in der Wählergunst gestiegen. Die Totgesagte hat – wieder einmal – alle ihre Kritiker eines besseren belehrt. Um ihre Nachfolge geht ein Mann ins Rennen, der Merkel seit Jahren unterstützt. Armin Laschet hat gute Chancen auf den CDU-Vorsitz. Ein Porträt des Politikers, der lange unterschätzt wurde. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Armin Laschet gilt nicht als der verbissene eindimensional denkende Parteisoldat, weit weg, distanziert von oben herab wie einst Helmut Schmidt. Laschet, 1961 geboren im Ruhrgebiet, familiär verwurzelt in Wallonien, ist und bleibt ein Mann der Mitte. Der 59-Jähige hat etwas Verbindliches, baut emotionale Nähe auf und ist damit so etwas wie ein Wohlfühlpolitiker, ja ein Menschenfänger obendrein. Er kann begeistern, zumindest unmittelbar, weil er selbst begeisterungsfähig ist. Er kann Komplexes einfach vermitteln und Bürgernähe aufbauen, weil er sich mit den Problemen der Menschen identifiziert, weil er weder Hochmut kennt noch sich in Selbstgefälligkeit verfängt. Und anders als manch seiner Politikkollegen und Mitbewerber um das Amt des CDU-Vorsitzes hat er etwas Bodenständiges, wärmt sich an der Erde, den Menschen und ihren Gefühlen. Er ist eigentlich mehr ein Seelsorger, der dabei immer ein fröhliches Lachen versprüht, das aus seiner rheinischen Frohnatur entsteigt. Das Amt des Seelentrösters hat ihm nie eine große Anhängerschaft in der medialen Welt gebracht, dafür ist er einfach zu bescheiden, kein Verkäufer oder Selbststilisierer. Wo andere aufbrausend agieren, ist es Laschet, der immer wieder vermittelnde Worte findet. Und genau das ist es, was den Mann in politisch schweren Fahrwassern, in der Corona-Krise und einer Zeit, wo die CDU gespaltener denn je ist, auszeichnet. Lachet ist Ausgewogenheit und Mitte in Peronalunion.

Mit Merkel weiter in die Zukunft

Damit tritt der Katholik und Studentenverbindler, der schon mit 18 Jahren in die CDU eingetreten ist, später beim Radiosender 95.5 Charivari und als freier Journalist fürs Bayerische Fernsehen arbeite, in die Fußspuren der Bundeskanzlerin. „Der Kandidat des Establishments“ unkte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Auch bei den Wertkonservativen in der Union hat er keinen guten Stand. Die Wirtschaft und der Mittelstand wünschen sich lieber einen Friedrich Merz, der klar ihre Interessen vertritt und statt mehr Politik, mehr Marktwirtschaft fordert. Merz ist kerniger, einer, der sich gut verkaufen, einer, der sich besser in Szene setzt als Laschet, der zwar immer treublickend in die Kamera schaut, aber letztendlich bei seinem Corona-Management nicht punkten konnte. Dabei hatte der ehemalige Bundestagsabgeordnete, spätere Europapolitiker und Halbjurist, der im Kabinett des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Rüttgers Karriere zuerst als Familien und Integrationsminister, später dann als Minister für Europaangelegenheiten machte, während Corona stets die große Bühne der Medien als einer der einflussreichsten deutschen Ministerpräsidenten hinter sich.

Der Corona-Manager

Inmitten der Corona-Krise hatte man Laschet schon für politisch tot erklärt. Die Medien titelten vom „glücklosen Laschet“ auf der einen und vom umjubelten Merz auf der andern Seite. Doch das war eine Fehldiagnose. Wo Jens Spahn noch über die Pandemie irrlichterte, hatte der Pragmatiker Spahn schon eine klare Devise: „Wenn die Infektionszahlen sinken, müssen Grundrechtseingriffe zurückgenommen werden – wenn Infektionszahlen steigen, müssen Schutzvorkehrungen verstärkt werden“. Und Laschet agierte hier immer positiv auf Sicht, situationsgemäß wie man es von einem erwartet, der genau hinschaut, der pragmatisch-praxisnah agiert.

Bei aller Kritik, die sich Laschet im Coronajahr einfangen musste, er ist Politprofi und das mit langjähriger Erfahrung. Seit 2008 sitzt er im Bundesvorstand der CDU und seit 2012 ist er einer der fünf stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Den einen mag Laschets Kurs in der Pandemie als Stückwerk, als unbeholfen und als ein ungesteuertes Wirrwarr vorgekommen sein, doch die Corona-Werte im bevölkerungsreichsten Bundesland zeigen, er hatte taktisch gehandelt, nur oft falsch kommuniziert. Laschet wurde oft unterschätzt. Doch das ist vielleicht sein Triumpf. Immerhin hatten 2017 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2,8 Millionen Menschen ihre Zweitstimme der CDU gegeben. Und Laschet war es, der damals durch einen veritablen Wahlkampf selbst die allseits beliebte Hannelore Kraft aus dem Amt schob.

Christian Lindner und Armin Laschet – Ein gutes Team

Dass Laschet nun in der Champions-League spielen will, hatte ihm 2018 schon Christian Lindner attestiert: „Ein nordrhein-westfälischer Minister kann immer Kanzler.“ Und der FDP-Chef lobte schon damals die konziliante und versöhnliche Art des Landeschefs, bezeichnete gar die Zusammenarbeit der Schwarz-gelben Landeskoalition als „mustergültig“.

Politisch sieht Laschet, der sich den Klimaschutz, die innere Sicherheit, die Bildungsoffensive, die Digitalisierung sowie die Integration auf die Fahnen geschrieben hat, ohne selbst eine Schwarz-grüne Koalition als Gottesgabe herbeizusehnen, dann auch eher bei den Liberalen. „Es wird mir viel zu viel – auch von meinen Mitbewerbern – über die Grünen geredet.“ Deutlich mehr Schnittmengen gäbe es mit den Liberalen mit denen „wir in ganz vielen Kernfragen der Politik ein ganz ähnliches Grundverständnis haben. Man kann auch mit den Grünen koalieren, aber das bringt größere und kompliziertere Grundsatzdebatten mit sich.“ Der Getreue der Kanzlerin, der ihr als einer der wenigen, neben Merkels engen Vertrauten Helge Braun und Peter Altmaier, in der Flüchtlingskrise den Rücken bei ihrer Politik der offenen Türen gestärkt hat, bekennt sich nach wie vor zu einem unverbrüchlichen Kurs mit Merkel. Aber das bedeutet auch, dass die CDU selbst stark genug sein muss. Denn der NRW-Chef weiß: „Wenn es eine rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün gibt, werden die Grünen das machen.“ Daher präferiert er die Große Koalition.

Zur Not auch mit den Grünen

Den Grünen hatte er das Thema Klimaschutz, wie weiland Angela Merkel nach dem Reaktorunfall in Fukushima, schon längst aus der Hand genommen und auf seine Agenda geschrieben. Doch die Visionen eines Robert Habeck, einer Annalena Baerbock und der Generation „Fridays for Future“ mag er nicht teilen. Zu weltfremd ist dies alles für den Macher vom Rhein. Aber sollte es der Union letztendlich nutzen, so kann es möglicherweise mit ihm als Kanzler deutlich grüner in Deutschland werden. Die Grünen als Weltretter, diese Irritation bleibt ihm als gläubigen Christen aber wesensfremd.

Der Aachener Preisträger, der 2020 den „Orden wider den tierischen Ernst“, erhielt, ist kein weichgespülter Liberaler. Wo es gegen sexuellen Missbrauch ging, bezog er klare Opposition. Wo die Kanzlerin Thilo Sarrazin an den Pranger stellte, war es Laschet, der ehemalige Ministrant, der sich schützend vor den SPD-Politiker stellte und ihm attestierte: er sei „kein Rechtsradikaler.“ Von der AfD und dem Rechtextremismus distanzierte er sich aber klar und eindeutig. Aber wo sich das politische Berlin zu sehr in den Elfenbeinturm zurückzieht und zu sehr die Bodenhaftung verliert, öffnet Laschet seine kritischen Offensiven. Dann kreuzt er schon das Schwert gegen die Selbstverliebtheit des Establishments. Und während Berlin bei Corona noch zögerte, agierte er blitzschnell. Schon im Juni hatte er ein starkes Konjunkturprogramm samt Rettungsschirm für die strukturelle Entlastung der angeschlagenen Kommunen in NRW auf den Weg gebracht. Laschet weiß, wo die sozialen Nöte groß, woran die kleinen Leute leiden, er weiß es, der Sohn eines Bergarbeiters und einer Hausfrau. Und diese Erfahrungen machen ihn sensibel für das Los gegenüber denjenigen sozialen Schichten, die unterprivilegiert vom politischen Mainstream vergessen werden. Und das zeichnet ihn als Landesvater eben auch aus.

Söder und Laschet – Eine SMS-Beziehung

Mit Markus Söder, dem bayerischen Corona-Löwen, mit dem er sich derzeit blendend versteht, und der über seinen Amtskollegen bestätigt, dass dieser ein humorvoller, ernsthafter, heimatbewusster und lebensfroher Mensch sei, schreibt er hunderte von SMS, witzelt am Telefon. Die Kommunikation zumindest zwischen München und Düsseldorf hat sich regelrecht zu einer Standleitung entwickelt. Doch so sehr Söder und Laschet einander Schützenhilfe geben, dass der Rheinländer mit allem, was aus der CSU kommt, einverstanden ist, so ist es keineswegs. Bei aller Nähe, bei aller gebotenen Harmonie mit der Schwesterpartei in dem für die Union so wichtigen Wahlkampfjahr, geißelt Laschet zumindest Horst Seehofer und Überlebenskünstler Andreas Scheuer und dessen Maut. Der Autofahrer als „Melkkuh der Nation“, heißt es dann im Armin-Deutsch. Aber selbst wenn Laschet mit irgendwas nicht d’accord ist, glättet er die Wogen mit Sanftmut und im Geist des verzeihenden rheinländischen Katholiken.

Frauenunion steht hinter Laschet

Diese Gabe des Vermittelns lässt Laschet nun zunehmend in den Umfragen steigen. Die Frauenunion steht hinter ihm sowie die langjährige Präsidentin des Deutschen Bundestages, das Urgestein der CDU, Rita Süssmuth. Rückendeckung kommt sowohl von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek als auch von Frauen-Chefin Annette Widmann-Mauz: „Wir brauchen jetzt einen starken Zusammenhalt, damit die CDU weiter die führende Partei in der Mitte der Gesellschaft bleibt“, deshalb habe man eine klare Präferenz für Laschet und Röttgen. Diese hätten „durch ihre politische Erfahrung, ihren modernen Politikstil und zukunftsweisende Inhalte, die Fähigkeiten die CDU gut in die Zukunft zu führen.“ Und Karliczek: „Er wäre eine gute Wahl“. Und obgleich Laschet, der die Einführung der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe mit der konventionellen ablehnte, verbindet ihn ein freundschaftliches Verhältnis mit Jens Spahn, dem Super-Hipster. Und dass Laschet bei der Weiblichkeit punktet, liegt daran, wie Süssmuth betont, dass „Frauen immer selbstverständlich zu seiner Mannschaft“ gehörten. Keinem gelänge es daher besser die vieldiskutierte Frauenquote pragmatischer umzusetzen als Laschet, den die 83-jährige CDU-Politikerin auch dann für durchschlagskräftig hält, wenn es um die Interessen von Kinderbetreuung, Familie und Gesellschaft geht.

Eigentlich wollten die Ostdeutschen Merz

Selbst aus den ostdeutschen Landesverbänden, die eigentlich für eine neue oder eben konservative Trendwendung in der CDU-Politik offen sind und damit eigentlich Friedrich Merz für den Stern der Stunde und als Taktgeber halten, mehren sich die Stimmen jetzt für Laschet. Die immer noch sehr einflussreichen und mächtigen Ex-Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen, Bernhard Vogel und Kurt Biedenkopf, die in den ostdeutschen Verbänden wie Säulenheilige verehrt werden und auf dessen Rat man in Erfurt und Dresden vertraut, favorisieren den Aachener.

Dass die Zukunft auf Laschet deutet, hatte kein anderer als der jedem Merkelianertums unverdächtige Unionsfraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ betont. „Als Chef einer Volkspartei muss man anschlussfähig ins konservative, aber auch in das progressive Milieu sein. Und wer Kanzlerkandidat werden will, der müsse „über CDU und CSU hinaus als integrative Kraft angesehen werden“. Laschet ist beides, es liegt in seiner Natur, der Versöhner zu sein. Er gilt nicht nur partei-intern als integrative Kraft, er kennt auch die Mühen der Ebene, durch die sich der Politiker alltäglich durchschlagen muss. Dass er hier seine Kernkompetenzen hat, verbindet ihn mit Angela Merkel. Beide waren keine Krawallkanonen, sondern geduldige Arbeiter im Weinberg der Politik. Und mit Armin Laschet hätte die Bundeskanzlerin nicht nur einen besonnenen Menschen als CDU-Vorsitzenden, sondern möglicherweise einen neuen geduldigen, mit langen Atem versehenen Nachfolger, der das gespaltene Land als Versöhner harmonisieren könnte.

Die vier großen Lockdown-Fehler der Bundesregierung

Stefan Groß-Lobkowicz10.01.2021Medien, Politik

Der Lockdown gehört zum Alltag. Seit fast einem Jahr leben wir im Ausnahmezustand. Ständig irrlichtert die Bundesregierung umher. Mit der Konsequenz: auf einen Lockdown folgt der nächste. Doch wer ist Schuld am Unendlich-Lockdown? Die Politik findet unser Autor.

Die Menschen haben gehörig die Nase voll von 15-km-Leinen-Regeln und ständiger Freiheitsregulierungen, aber sie fügen sich noch den Beschränkungen der Bundesregierung, deren Anti-Corona-Maßnahmen von Monat zu Monat strenger werden. Doch der Lockdown hat bislang wenig gebracht, die Infektionszahlen und die Sterblichkeit ist weiterhin hoch: außer dass Schulen geschlossen sind, die Kinder den gesellschaftlichen Anschluss verlieren und viele Menschen einsamer denn je sind und bald endgültig ihre Jobs verlieren, ist die Anti-Corona-Bilanz weitgehend überschaubar. Positiv sieht anders aus. Während die Börse völlig losgelöst von der realen Wirtschaft, enthoben von Tausenden neuen Arbeitslosen weltweit, eine Partykerze nach der anderen anzündet, der Bitcoin völlig irreal einen Rekord nach dem anderen knackt, werden der Mittelstand und viele kleine Unternehmen national wie international spätestens im Sommer Insolvenz anmelden. Doch der Politik scheint dies alles egal! Wo Corona ist, soll Lockdown sein! Basta! Aber was sind die größten Fehler? Eine Zusammenfassung

1. Falsche Zielsetzung der Bundesregierung

Das Ende des Lockdowns bestimmt maßgeblich ein Wert und der lautet: weniger als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Vielleicht mag das an einigen Orten gelingen, im Vogtland aber beispielsweise funktioniert das seit Tagen schon gar nicht. Sachsen und Thüringen sind HotSpots. Es ist daher vollkommen aussichtslos für die Zukunft, die Sieben-Tages-Inzidenz unter 50 zu halten und das zur Durchhalte-Parole dröhnend durch die Medien zu peitschen. Und das hat seine Gründe: Neue Corona-Mutationen treten in Kürze und immer sprunghafter auf, die rasante Verbreitung des Virus ist derzeit nicht aufzuhalten und nach wie vor sind die Gesundheitsämter in Deutschand schlecht ausgerüstet, arbeiten per Fax fast wie im 20. Jahrhundert. Die Corona-App ist eine Farce, eine technische Blamage, die eigentlich nur Heiterkeit erzeugt, weil man beständig “Niedriges Risiko” hat, selbst wenn man sich in HotSpots bewegt. Doch so Ernst die Lage von der Politik beschrieben, ja dramatisch exerziert wird, es gibt dennoch Hoffnung: In der Bundesrepublik  sind noch genügend Kapazitäten in den Krankenhäusern frei, das Argument, alles sei radikal überlastet, verharrt in seiner Einseitigkeit. Über 5.000 Betten sind zwar belegt, aber über 40.000 gibt es – dazu besteht die Möglichkeit der jederzeitigen Aufstockung. Deutschland, das, zumindest wenn man den Politprofis aus Berlin zuhört, am Rande der Kapazitäten stehe, hat bei der intensivmedizinischen Versorgung einen viel komfortableren Vorsprung als beispielsweise Italien mit seinen knapp 5.000 Intensivbetten. Da ist der Zustand wirklich und tatsächlich alarmierend. Kurzum: Solange die Bundesregierung bei ihrer Kennzahl 50 festhält und Karl Lauterbach durch die Medien wie der neue Messias rauscht, der kassandrahaft einen Lockdown, am liebsten einen unendlichen fordert, wird Deutschland im Lockdown bleiben.

2. Auch Wissenschaftler irren sich – Selbst die Leopoldina scheint nicht allwissend zu sein

Sicherlich, die Wissenschaft ist in Corona zu Ehren gekommen. Mehr denn je sind die Experten gefragt. Die Wissenschaftler sind gar die neuen Weltweisen – und das Vertrauenspotential, das in sie gelegt wird, grenzt fast an einen neuen Glauben. Man schmückt sich heutzutage gern mit den Koryphäen, seien es Virologen oder Epidemiologen. Die Politik folgt Christian Drosten und Hendrik Streeck als wären sie die neuen Götter und Corona ihre neue Metaphysik, die nur sie deuten und verstehen können. Die ehrwürdige Wissenschaftsakademie „Leopoldina“, die in Halle sitzt und auf ein Pool von Experten und Nobelpreisträgern zurückgreifen kann, riet der wissenschaftsgläubigen Bundesregierung am 8. Dezember zum Knallhart-Lockdown, um die Infektionen zu senken. Damals galt Irland als Vorbild für den kompletten Lockdown. Das Inselvolk konnte immerhin durch rigide Maßnahmen und mittels eines harten Shutdowns die Zahl der Ansteckungen drücken. Doch all das half nichts. Kurz darauf explodierten die Zahlen wieder. Der Rat der Wissenschaftler hatte keineswegs den langen Atem, den man sich versprach. Das Wissenschaft ein Tasten nach der Methode des “Trial and Error” bleibt, ja methodologisch bleiben muss, und damit bei einem noch unbekannten Virus ebenso lernend agiert, hat die Politik bis heute nicht verstanden.

3. Falsche Politik mit den Impfdosen

Eigentlich müsste man meinen, nun sei der Impfstoff da, ob von BioNTech / Pfizer oder anderen. Aber immer noch klappt das alles nicht. Die Zahl der Geimpften ist zu niedrig, Impfstoffe fehlen weiterhin. Jens Spahn und die Kanzlerin Angela Merkel haben Fehler gemacht. Von der EU und dem schlechten Krisenmanagement von Ursula von der Leyen ganz schweigen. Erst nach harter Kritik der letzten Tage ist auf einmal die Rede von 500 Millionen Dosen Vakzine für Europa. Doch so sehr man sich in Brüssel selber feiert, die Alten in den Heimen warten weiter und die Jungen rebellieren, weil sie erst nach den Risikogruppen geimpft werden. Ein neuer Pragmatismus greift um sich, der einen ethisch bedenklichen Utilitarismus mit im Gepäck führt. Viele Tote gehen schon auf das Konto der verpatzten nationalen wie internationalen Impfstrategie. Viele werden noch folgen. Doch dass mit der Impfung nun endlich der Lockdown auf dem Müll der Geschichte endet, wie immer wieder pathetisch aus politischen Kreisen verkündet wird, sobald die Impfung erfolgreich durchgeführt, 70 Prozent der Bevölkerung immun sind und so die Herdenimmunität qualitativ wie quantitativ erreicht ist, lässt nicht über den Verdacht hinwegtäuschen, dass man den Lockdown ins Unendliche verschiebt, ja, diesem nun als neue Form des Alltages geradezu zu etablieren sucht. Verschwörungstheoretiker sehen das zumindest so.

Aber auch ein anderes Argument zieht nicht, das die Politik gebetsmühlenartig heranzieht: Vom Bund oder den Ländern heißt es immer wieder, dass die strengen Maßnahmen dazu diesen, die Zahl der Corona-Toten zu senken. Merkwürdig bleibt, dass gerade dort, wo die Menschen an oder mit Corona sterben, die Maßnahmen nicht funktionieren. Ältere Menschen werden gleich mehrfach geimpft, die Kühlketten von Vakzinen werden nicht eingehalten und so der kostbare Impfstoff zerstört. In Franken kamen die Transporte aus Belgien mit den Impfdosen erst gar nicht an. In den Pflegeheimen wartet man weiter, gleichwohl dort die Bedrohung, sich mit Corona zu infizieren, besonders hoch ist. 86 Prozent aller Corona-Toten in Hessen kamen im Dezember aus Pflegeheimen. In Hamburg waren es 73 Prozent, in Bremen 71 Prozent, in NRW 55 Prozent. Alles alarmierend, doch die Risikogruppen bleiben weiter im Risiko. Und trotz der Ankündigung von Jens Spahn die Pflegekräfte aufzustocken, den Personalschlüssel zu verbessern, die Intensivstationen mit gutem Personal aufzustocken, ist im letzten Jahr wenig bis gar nichts in dieser Richtung geschehen. Außer leerer Worthülsen, dass man sich für das Engagement bei allen Kämpfern an der Corona-Front bedankte, wenig. Ärzte, Krankenschwestern und das Pflegepersonal schlagen schon seit der ersten Pandemiewelle Alarm, sind völlig erschöpft und arbeiten im Dauerstress. Anders gesagt: Die Heime haben zu wenig Personal und die Krankhäuser zu wenig Spezialkräfte, um Mitarbeiter und Besucher konsequent zu testen.

4. Es geht immer nur um Corona – wo bleibt der Mensch?

Die Politik scheint von Corona derzeit hypnotisiert, dass sie nur an die Krankheit, nicht aber an die Menschen und die Schicksale denkt, die dahinter stehen. Corona ist und bleibt tödlich, daran gibt es keinen Zweifel. Auch die Maßnahmen sind notwendig, wenn sie in Relation zu den Inzidenzwerten stehen. Doch was völlig übersehen wird, sind die indirekten Folgen. Die Menschen in den Pflegeheimen sind seit fast einem Jahr isoliert. Kinder haben keine Chance auf einen guten Start in das Berufsleben, weil die Schule ständig ausfällt oder ferngesteuert gelenkt wird. Jeder Pädagoge weiß: so kann Unterricht nicht funktionieren, die Ablenkung ist zu hoch, die Schülerinnen und Schüler müssen geleitet werden, anstatt sich auf ihrem Laptops zwischen Schule und Spielen zu verlieren. Familien sind überfordert, weil sie den Einklang zwischen Beruf und Kinderbetreuung nicht hinbekommen, da nützen auch 10 Jahre mehr Urlaub – wie von der Bundesregierung besprochen – nicht viel. Die Scheidungs- und die Selbstmordrate ist 2020 rasant gestiegen, die häusliche Gewalt überforderter und alleingelassener Menschen, die alle jetzt zu Erziehern werden, dramatisch in die Höhe katapultiert. 3,6 Prozent Vergewaltigungen durch den Partner meldete die TU-München schon im Sommer 2020. Rund 3 Prozent der Frauen in Deutschland haben während der strengen Kontaktbeschränkungen körperliche Gewalt erlebt In jedem 15. Haushalt erlebten Kinder gewalttätige Bestrafungen. Die Zahlen sind erschreckend, was sich da gerade in der „häuslichen Idylle“ abspielt. Ein Schreckensszenario für viele Kinder und Jugendliche, ein Trauma, das sie in Zukunft erst verarbeiten müssen. Über die vielen Menschen, die ihren Job verloren haben, die ihn noch verlieren, über die vielen Unternehmen, Mittelständler und Geschäftsleute, die in oder vor der Pleite stehen, wird wenig gesprochen. Schon Ende 2020 warnte auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) vor den „verheerenden Folgen“ eines weiteren Lockdowns. Diese verheerenden Folgen sind eingetreten und sie werden immer schlimmer, je weiter sich Deutschland von Lockdown zu Lockdown schiebt. Und der Politik fehlt nach wie vor das Patentrezept, gegen die Krise anzusteuern.

Impfstoff-Desaster: Die EU ist gescheitert

Stefan Groß-Lobkowicz5.01.2021Europa, Medien

Wer ist Schuld am Impstoff-Desaster? Im Kreuzfeuer der Medien steht derzeit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Dem CDU-Politiker wird vorgeworfen, für das Impf-Debakel in Deutschland verantwortlich zu sein. Doch wie ein neuer Brief belegt, ist Spahn eher das Opfer einer europäischen Entscheidung, die maßgeblich Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu verantworten haben.

Deutschland ist im Verzug. Zu später Impfbeginn, zu wenig Impfdosen. Anders als in Israel und den USA läuft das Impfprojekt in der Bundesrepublik schleppend voran. Tausende von Corona-Gefährdeten in der Hochrisiko-Gruppe der 80-Jährigen warten auf die Impfdosis – viele von ihnen werden jetzt schon auf Ende Januar und Mitte des Jahres vertröstet. Dann kann es aber schon zu spät sein. Insonderheit in dieser Altersgruppe wütet das Coronavirus derzeit am stärksten, die Corona-Toten in den Altenheimen steigen exponentiell seit Tagen an.

Der Impfstoff galt als Rettungsanker in einer Pandemie, die immer mehr aus dem Ruder zu laufen droht. Dass mit der Impfung auch die strengen Corona-Maßnahmen, AHA-Regeln und der Lockdown endlich der Vergangenheit angehören, war versprochenes Ziel der Bundespolitik. Doch aus diesen betörenden und aufmunteren Versprechungen wird derzeit wohl eher nichts. Der Lockdown geht in eine weitere Verlängerung und das Sterben geht ungebremst weiter.

Doch wer ist daran schuld, dass Deutschland derzeit in der Corona-Krise so miserabel abschneidet? Fakt ist, die EU hat die Beschaffung von ausreichend Impfstoffen versäumt. Der Brüssler Apparat ist zu bürokratisch und zu langsam. Am 4. Januar ist ein Brief aufgetaucht (BILD hat berichtet), aus dem deutlich wird, das Bundeskanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Gesundheitsminister dazu drängten, das Impfstoff-Mandat an die EU abzutreten.

Nicht nur Spahn, der derzeit zu den beliebtesten deutschen Politikern zählt und an der Seite von Armin NRW-Ministerpräsident Laschet dessen Kandidatur für den CDU-Vorsitz unterstützt, musste sich für sein Engagement bei der Beschaffung des Impfstoffes entschuldigen. Schon im Sommer 2020 hatten sich Spahn und seine europäischen  Kollegen um genügend Impfstoff für alle Europäer bemüht, doch Bundeskanzlerin Merkel hatte sich („The European“ berichtete gestern darüber) entschieden, die Impfstoff-Beschaffung in die Hände der EU legen. Dieser Entschluss der Kanzlerin kann nunmehr als eine schwere, ja, grob fahrlässige Fehlentscheidung interpretiert werden. Ob Merkel einen Impfstoff-Nationalismus befürchtete oder ob ihr Vertrauen in die Institutionen der EU so groß war, darüber kann nur spekuliert werden. Gar wollte sie ihrer Vertrauten Ex-Ministerin von der Leyen noch größere Macht und Einfluss verschaffen. Doch nach einem Jahr im Amt der Kommissionspräsidentin müsste mittlerweile klar geworden sein, wer hinter den Kulissen die großen Deals einfädelt und als eigentliche Chefin Europas regiert: Nicht die schon damals unglücklich agierende Verteidigungsministerin, sondern eben Merkel! Europa ist ihr Parkett, der Boden, wo sie sich wohl fühlt und dem sie vielleicht zu viel zutraut. Spätestens seit der Schlappe mit den Impfdosen müsste auch Merkel ihren ungebremsten Enthusiasmus gehörig nach unten korrigieren.

Vier Minister hatten kein Vertrauen in die Impfstrategie der EU

Spahn und seine Kollegen hatten bereits im Juni 2020 massive Zweifel daran geäußert, ob die EU überhaupt in der Lage sei, rechtzeitig genug Impfstoff zu beschaffen. Dass dem nicht so ist, hat sich nun bestätigt.  Schlimmer noch: Die vier Minister mussten sich ausdrücklich für ihr Vorgehen bei der Beschaffung des lebensrettenden Impfstoffs in einem demütigendem Ton für ihre Bemühungen bei der EU-Kommissionspräsidentin entschuldigen. Sowohl Merkel als auch von der Leyen war diese Geste der Unterwürfigkeit wichtig, wie der Brief belegt. Demgemäß wurde das Schreiben auch so devot abgefasst: „Leider“, so schreiben die vier Minister, „haben die zeitgleichen Verhandlungen unserer Allianz Sorgen verursacht. Deswegen glauben wir daran, dass es von herausragender Wichtigkeit ist, einen gemeinsamen Ansatz gegenüber den verschiedenen Pharmakonzernen zu verfolgen. (…) Wir sind uns einig, dass Geschwindigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Deswegen halten wir es für sinnvoll, wenn die Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt.“  Auch in Sachen Preisverhandlung über mögliche Impfstoff-Kandidaten entschuldigten sich die vier Gesundheitsminister dafür, dass sie „noch keine Verhandlungen über die Bezahlung des AstraZeneca-Impfstoff“ gestartet hätten. „Wir würden es sehr begrüßen, wenn die Kommission diese Verhandlungen übernehmen würde.“

Anders als EU, Kanzleramt und Spahn seit dem neuen Jahr behaupten, geht aus keiner Stelle des Briefes hervor, gute Preise für den Impfstoff zu verhandeln oder gar den „Impfstoff-Nationalismus“ abzuwenden. Anders als derzeit dargestellt, spielten bei der Übergabe der zentralen Impfstoffverteilung an Brüssel diese Überlegungen keinerlei Rolle.

Fazit:

Die Corona-Politik auf europäischer als auch nationaler Ebene ist desaströs. Europa hat an einer entscheidenden Stelle versagt. Die Wirtschaft konnte die EU konsolidieren, gigantische Rettungspakete schnüren, aber die Einzelschicksale und die Hoffnung, die von den Menschen in den Impfstoff gesetzt wurden, hat sie vorerst enttäuscht. Anstatt das Corona-Management den einzelnen Ländern zu überlassen, wie es Spahn bei der Maskenorder bereits eigenmächtig getan hatte, schaltete sich die EU großmächtig selbst ein und ist bei der Impfstoffverteilung gewaltig gescheitert. Wer aber ist dann für eine Vielzahl von Toten verantwortlich, die mit einer Impfung womöglich die Pandemie überlebt hätten? Das bleibt die Gretchenfrage und die moralisch-ethische schlechthin.

Aber auch national läuft nach wie vor vieles schief.  Manche Bundesländer impfen auf Hochtouren, andere weniger. Auch hier gibt es keine ersichtliche Logik. Das einzige, was der Bundesregierung gerade einfällt, ist ein Lockdown nach dem anderen zu verhängen.

Der Unendlich-Lockdown, den SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach zu Beginn des neuen Jahres vorgeschlagen hatte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man nach wie vor in Berlin nicht den einschlägigen Plan hat, wie man wirkungsvoll gegen das Coronavirus agieren kann. Der Lockdown auf Sicht jedenfalls ist das falsche Mittel und lediglich ein Verschleierungsmittel der nach wie vor ungebremsten Corona-Irrlichterei. Das Impfdesaster jedenfalls offenbart die ganze Idiotie: Einerseits sollen Kontakte beschränkt werden, damit sich das Virus nicht weiter verbreitet, andererseits können Menschen nicht geimpft werden, weil man in Europa nicht in der Lage ist, ausreichend Vakzine zu bestellen. Perverser und irrsinniger geht es kaum – und das mancher Bürger an alledem verzweifelt, ist keineswegs nur widersinnig, gar querdenkerisch oder sogar staatszersetzend, sondern einfach ein Resultat des Gesunden Menschenverstandes. Das Corona-Trauma und das Impfstoff-Desaster erinnern letztendlich an die “Titanic”, deren Untergang zu vermeiden gewesen wäre, wenn man nicht so fahrlässig, machtbessen und ignorant auf der Schiffsbrücke gewesen wäre.

Angela Merkel: Der größte Fehler ihrer Karriere

Stefan Groß-Lobkowicz5.01.2021Medien, Politik

Angela Merkel ist von Natur aus Stoikerin, eine auch für Naturwissenschaftler nicht fremde philosophische Lebenseinstellung: bedacht, zurückhaltend, wohlüberlegt, argumentativ, vernünftig. Doch diese Tugenden könnten ihr nun zum Verhängnis werden. Ausgerechnet in ihrem letzten Amtsjahr kommt die Corona-Managerin in Bedrängnis – Deutschland hat zu wenig Impfstoff bestellt. Das könnte Merkel auf den letzten Metern noch großen Schaden zufügen, ihr Image für Jahre beschädigen und – vor allem und viel schlimmer – vielen Menschen das Leben kosten.

Als Naturwissenschaftlerin folgt Merkel dem Prinzip der Kausalität, als Politikerin plädiert sie für Harmonie, als Person übt sie sich anders als Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Boris Johnson in emotionaler Selbstbeherrschung. Alles Aufgeregte und Irrationale liegt ihr fern, eine gewisse Gemütsruhe gehört zu ihrer Wesensnatur. Und wo Merkel gegen ihr Naturell blitzschnell agierte, wie nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima oder bei ihrer Politik der offenen Türen 2015, erntete sie Hohn und Spott und kassierte mit dem Heraufziehen der AfD eine mehr als gespaltene Gesellschaft, die in der Pandemie noch mehr auseinanderdriftet. Doch nun droht mit ihrer Fehlentscheidung, die Verteilung des Impfstoffes an Brüssel abgegeben zu haben, dass sich der Lockdown ins Unendliche verschiebt und eine noch höhere Zahl an Corona-Toten zu beklagen ist, weil Deutschland nicht über ausreichend Impfstoff verfügt.

Deutschland ist nicht mehr Herr der Lage im Kampf gegen das Coronavirus

Angela Merkel und ihr Gesundheitsminister Jens Spahn hatten die Bundesrepublik moderat durch die erste Corona-Zeit geführt. In der zweiten Pandemiewelle jedoch hatte sich das Schicksalsblatt gegen die Kanzlerin und den schon als nächsten Kanzlerkandidaten gehandelten Gesundheitsminister gewendet. Täglich steigt seit November die Zahl der Neu-Infizierten katapultartig in die Höhe. Die Zahl der Corona-Toten ist auf fast 35.000 Anfang des neuen Jahres geschnellt, der Inzidenzwert liegt mancherorts fast bei 900, eigentlich sollte er die 50er-Marke nicht überschreiten.

Der „Lockdown light“ der Bundesregierung ist gescheitert und dem Land fehlen Impfstoffe. Und wenn der Lockdown nicht das probate Allheilmittel ist, die Jahrhundert-Pandemie zu bändigen, von der Merkel in ihrer Neujahrrede sprach, dann kann es wohl nur ein Impfstoff sein. Doch in Deutschland sind erst knapp 230.000 Menschen gegen das tödliche Virus geimpft, während die Zahl der Geimpften in Israel die eine Millionen-Marke überschritten hat. In den USA wurden bereits 4,2 Millionen Impfdosen der Vakzine von BioNTech/Pfizer und Moderna verabreicht und knapp 13,1 Millionen ausgeliefert. Bahrein, Island, Großbritannien und Dänemark gehören zu denjenigen Ländern, die am meisten impfen. Im Ranking ganz unten hingegen liegen Litauen, Bulgarien und Kuwait, Deutschland irgendwo mittendrin.

Merkel und Spahn in der Kritik: Das Versagen der Impfstoff-Kategorie geht auf ihr Konto

„Die verheerendste Entscheidung der Kanzlerin in 15 Jahren Amtszeit“ titelte „Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer und machte Merkel und Spahn für das Impfstoffversagen verantwortlich. „Aus Furcht davor, des „Impfstoffnationalismus“ bezichtigt zu werden, hat Deutschland nicht das gemacht, was wohl jedes andere Land gemacht hätte: Zuerst an die eigenen Leute denken“, schreibt Rainer Zitelmann. Selbst Kritik aus der altehrwürdigen Leopoldina wird laut. Neurologin Frauke Zipp wettert gegen das politische Berlin: „Ich halte die derzeitige Situation für grobes Versagen der Verantwortlichen.“ Hätte man im Sommer mehr Impfdosen der Mainzer Firma BioNTech geordert, hätten wir „sie jetzt zur Verfügung.“ SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der die drei schlimmsten Monate der Pandemie noch vor den Deutschen liegen sieht, hat deutliche Defizite beim Kanzleramt und beim Gesundheitsministerium angemeldet. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese ging noch härter mit Spahn ins Gericht: „Ich bin derzeit schon entsetzt über Jens Spahn“. Er müsse „endlich seinen Aufgaben nachkommen und die offensichtlichen Probleme unverzüglich in den Griff bekommen“. Auch vom ehemaligen Unions-Koalitionspartner, der FDP, hagelt es an Vorwürfen. So hat FDP-Fraktionsvize Michael Theurer Gesundheitsminister Spahn wegen des knappen Impfstoffs angegriffen. „Er hat aber die Fehlentscheidung der Bundesregierung nicht korrigiert und versagt.“ Und Parteikollege Wolfang Kubicki, stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, machte die Bundesregierung für den „katastrophalen Impfstart“ verantwortlich. Dabei handelt es sich um „einen weiteren schweren Fehler der Bundesregierung in der Bekämpfung der Corona-Pandemie“. Die „ruhige Hand“ der stoischen Kanzlerin habe sich nicht bewährt, stattdessen sei die Politik konzeptlos, so Kubicki. Und gegen Spahn legt er nach: Zwar sei die Entscheidung, den Impfstoff im europäischen Verbund besorgen zu wollen, nachzuvollziehen, aber: „Wenn dies aber am Ende dazu führt, dass nationale Interessen eine schnelle flächendeckende europaweite Versorgung verhindern, dann liefert man den Brexit-Befürwortern das Ausstiegsargument nachträglich an die Hand. Großbritannien steht jedenfalls ohne die EU in Sachen Impfung deutlich besser da.“ Für Kubicki erhielt nun der Bundesgesundheitsminister für die Nicht-Beschaffung des Impfstoffes deutlich schlechtere Noten. „Der damit verbundenen Verantwortung ist er nicht gerecht geworden, das ist mittlerweile offensichtlich.“

Unterdessen hat auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gegen die Impf-Strategie der EU gewettert, die zudem auf falsche Hersteller gesetzt habe. Die Attacke des bayerischen Machiavelli Söder richtet sich natürlich auch gegen das Berliner Nichtkrisen-Management und macht ihn so weiterhin zum Mann der ersten Stunde, der einzig als Kanzler das Land vor dem Corona-Untergang retten könne. In der Stunde der Kritik erweist sich Söder wieder einmals als knallhart kalkulierender Machtpolitiker, der keine Gelegenheit außer Acht lässt, sich selbst zu promoten.

Merkels Prinzip Hoffnung

Wenn das einzig probate Mittel im Kampf um das Coronavirus nicht da ist, hilft auch Merkels Neujahrsappell zu mehr „Zusammenhalt“ und noch mehr Lockdown wenig. Merkel hat anstelle ihrer sonst so pragmatischen Vernunft nun scheinbar das Prinzip Hoffnung gesetzt: „Seit wenigen Tagen hat die Hoffnung Gesichter: Es sind die Gesichter der ersten Geimpften“, betonte sie in ihrer Neujahrsansprache. „Tagtäglich werden es mehr.“ „Hoffen lassen mich auch die Wissenschaftler – weltweit, aber gerade auch bei uns in Deutschland. Der erste verlässliche Coronatest wurde hier entwickelt – und nun auch der erste in Europa und vielen Ländern der Welt zugelassene Impfstoff. Er ist aus der Forschungsarbeit eines deutschen Unternehmens hervorgegangen und wird jetzt als deutsch-amerikanische Koproduktion hergestellt.“ Doch die Bundesrepublik hatte es versäumt, gerade bei der deutschen Firma BioNTech ausreichend Impfstoffe zu ordern. Und größer zeigte sich darüber hinaus die fatale Entscheidung, die Verteilung der Impfstoffe an Brüssel zu delegieren, wo, wie Fleischhauer zu recht betont, „zunächst die politischen Aspekte in den Blick“ genommen werden und „dann erst die pragmatischen“. Selbst Biontech-Gründer Ugur Sahin brachte sein Verwundern über die Impfstoffstrategie im „Spiegel“ zum Ausdruck. „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle.“

Das Prinzip Hoffnung, das Merkel wie ein Mantra immer wiederholt, mag zwar selbst zu einer konkreten Utopie im Sinne Ernst Blochs taugen, einem Prozess der Verwirklichung, in dem die näheren Bestimmungen des Zukünftigen tastend und experimentierend hervorgebracht werden. Doch dieser militante Optimismus à la Bloch, den Merkel versprüht, ist derzeit fehl am Platz. Merkel, die Europäerin, ohne die in der EU wenig in den letzten Jahren zusammenlief, hat mit der gemeinsamen europäischen Impfstoff-Strategie ein Verfahren in Kauf genommen, das letztendlich zu langsam und zu bürokratisch verfilzt anlief und das eine unangenehme Spur von Toten nach sich ziehen könnte. Ethisch moralisch ist das katastrophal – zumal das Verschulden selbst gemacht ist. Wer wird sich dafür verantwortlich zeigen, gerade in einem Land, wo Einzelwürde und Verantwortungsethik an erster Stelle stehen und kein utilitarischer Ansatz die Regie führt. Als die EU ihre Strategie vorstellte, hatten die USA schon mit ihrer Vakzin-Shopping-Tour begonnen. Die pragmatischen Amerikaner waren den Moralisten Europas wieder um Längen voraus. Beängstigend für das Abendland – das auf Humanismus und Aufklärung als die Schätze der Kultur und die grundrechtlich verbriefte Würde des Einzelnen zurückblicken kann.

Merkel ist also im Krisenmodus. Wieder einmal – Doch es steht mehr auf dem Spiel

Merkel ist also im Krisenmodus. Wieder einmal. Ob Finanzkrise oder Migrationswelle, die deutsche Bundeskanzlerin muss immer nachjustieren. Anders als Vorgänger Helmut Kohl ist Merkel permanent zu Reparaturen gezwungen. Am Ende ihrer Ratspräsidentschaft ist ihr das noch einmal geglückt. Durch sie konnte auf europäischer Ebene das Investitionsabkommen mit China, der Brexit-Pakt und die schwierige Einigung um das von Ungarn und Polen im Rechtsstaatskonflikt blockierte EU-Budget buchstäblich in letzter Minute eingetütet werden.

Spahn macht immer mehr Fehler

Doch jetzt geht es um Menschenleben – und die Unachtsamkeit, das Merkel und Spahn durch zu wenig Impfstoffe das Sterben möglicherweise verlängern, wiegt schwer. Dieses Debakel könnte auch dem erfolgsverwöhnten Spahn letztendlich in die Knie zwingen. Die Liste an Fehlern und Versäumnissen, die auf das Konto des Bundesgesundheitsministers gehen, wird immer länger. Begonnen hatten sie mit der unterschätzten Gefahr des Virus, dann hatte er nicht genügend Masken geordert. Auch mit seiner Einschätzung, dass es zu einer Schließung des Einzelhandels wie im ersten Lockdown nicht mehr kommen würde, irrte er sich erneut. Nun könne das „Ruckeln“ bei der Impfkampagne Spahn vom Gewinner der Krise zum Verlierer machen. Schon Helmut Schmidt, der große SPD-Bundeskanzler und bekennende Stoiker, hatte geraten: Nur eine „nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft“ kann das Erfolgsrezept in Krisenzeiten sein. Dies gilt jetzt um so mehr: Die einzige Lösung im Kampf gegen das Coronavirus bleibt der Impfstoff: Und das hat Markus Söder erkannt. Auf Twitter schreibt er: „Die Impfung ist die einzige Langzeitstrategie gegen Corona. Wir müssen daher so schnell und so viel Impstoff wie möglich besorgen. Nur so können wir unsere Freiheit Stück für Stück zurückgewinnen. Je mehr Impfungen, desto weniger Einschränkungen sind nötig.“

Der Musiker der Freiheit – Ludwig van Beethoven feiert seinen 250. Geburtstag

Stefan Groß-Lobkowicz26.12.2020Europa, Medien

Es gibt Meisterdenker und Klassiker der Musikgeschichte. Ludwig van Beethoven war Deutschlands Genius der Symphoniekantate. Damit betrat er neuen Boden und schuf eine Musik, die auch nach zwei Jahrhunderten immer noch fasziniert. Vor 250 Jahren wurde das Genie in Bonn geboren, doch zu Ruhm wird er erst in seiner Wiener Zeit gelangen. Was aber fasziniert Beethoven an den Idealen der Aufklärung? Wir begeben uns auf Spurensuche. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Vor 250 Jahren, am 17. Dezember 1770, wurde er in Bonn geboren, das Genie Ludwig van Beethoven. Und er war der Revolutionär in Geist und Musik, Sprengstoff pur, emotional wie ein Vulkan, ein Übermensch, der für eine neue Epoche der Musik steht und Mozarts fulminanter Klassik seine Symphoniekantate entgegensetzen wird. Bekannte sich der Salzburger Wunderknabe bereits in, „Le nozze di Figaro“, im „Don Giovanni“ und in der „Der Zauberflöte“ zu den freiheitlich-bürgerlichen und antimonarchischen Idealen der Freimaurer, folgt ihm Beethoven dann, wenn er sich selbst als glühender Verfechter der französischen Revolutionsideen versteht, die er dann heroisch in seiner 9. Sinfonie als sein höchstpersönliches Glaubensbekenntnis manifestiert.

Der Ruf nach Freiheit war explosiv

Es war der Sieg der Aufklärung über den Absolutismus. Was 1789 als Französische Revolution begann, hatte die Weltgeschichte gründlich verändert und die Fundamente der Moderne gezimmert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pfiff es durch die Gassen und zündete dann in den Köpfen jene Feuer, die seither für die Freiheit brennen. Ob die deutschen Idealisten, ob Friedrich Schiller oder die Romantiker – ihnen allen wurde Freiheit zum Losungswort von Dichtung und Kultur – und für den Bonner Ludwig von Beethoven zur Passion. Schillers Ode „An die Freude“ ist es, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, die er aber erst 1824, drei Jahre vor seinem Tod, grandios und gigantisch in Musik vollenden kann.

Beethovens Angst vor dem System Metternich

Schillers Ode, das „umschlungen Millionen“ im vierten Satz von Beethovens „Neunter“, war auch für den Bonner das Menschheitsideal. Und wie sich einst Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts über den „Policeystaat“ beklagt, so litt auch Beethoven an der Bespitzelung, an der Restauration und einem aufstrebenden Adel unter Metternich nach dem Wiener Kongress 1814/15. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, heißt es bekanntlich im Freiheitschor der einzigen Oper, dem „Fidelio“. Der Ruf nach Freiheit drohte in Deutschland zumindest wieder zu ersticken. Und wie einst Jean-Jacques Rousseau ein „Zurück zur Natur“ einklagen wird, so ist Beethovens Neunte ein Aufruf an das entmündigte Bürgertum, liberal, grenzenlos, für die Ewigkeit der Menschheit gedacht, ein globaler Freiheitsruf par excellence, der mit Schiller an das Frankreich im Jahr 1789 erinnert und die Bande neu knüpfen will.

Schiller, der Meisterdenker der Freiheit

Beethoven war ein glühender Verfechter der französischen Ideen und Schiller lieferte den Stoff dazu. 1885 hatte der Dichter in Leipzig-Gohlis für seinen Freund Körner, wie Mozart ebenfalls Freimaurer und Aufklärer, die Strophen geschrieben, die Weltgeschichte machen sollten. Doch dieser Schiller war kein unbeschriebenes Blatt. War er doch der Autor der „Die Räuber“ und in ganz Deutschland frenetisch gefeiert. Und Schiller selbst derzeit noch ein Ausgestoßener und Flüchtiger, verbannt aus dem Herzogtum Württemberg unter Herzog Karl Eugen, hatte das Joch der Tyrannei endgültig abgestreift. Der Verve der Ode war geballte Kraft eines Genius, der sich die Freiheit geradezu aus der Seele schreibt. Dieser Wille zur Unbändigkeit, dieser Frevel, die bestehende Ordnung kritisch zu hinterfragen, diese Lebendigkeit und das Pathos der Freiheitsbeschwörung haben Beethoven, der seit 1802 zunehmend an Schwerhörigkeit litt und dies im berühmten „Heiligenstädter Testament“ verewigte, beflügelt, gegen das Räderwerk des Absolutismus zu opponieren. Diese Energie hat dem Krankheitsgeplagten immer wieder das Blut in den Adern auflodern lassen.

Faszination und Geheimnis – Der wird keine Zehnte geben

Die 9. Sinfonie, die d-Moll-Symphonie, sei vergleichbar mit Da Vincis Mona Lisa, so zumindest hatte sie Claude Debussy 1901 beschrieben. Faszinierend und zugleich geheimnisvoll. Faszinierend wirkte sie auf Robert Schumann, für den sie einen Endpunkt markierte, wo Maß und Ziel der Instrumentalmusik erschöpft seien. Von Erlösung wird später Richard Wagner sprechen, da „auf sie kein Fortschritt mehr möglich“ sei, „denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeine Drama folgen.“ Der Barrikadenstürmer Wagner, der Revolutionär, wurde sodann von den Aufständischen feurig begrüßt, als am 6. Mai 1849 die Alte Dresdner Oper in den Flammen aufging. „Herr Kapellmeister, der ‚Freude schöner Götterfunken’ hat gezündet, das morsche Gebäude ist in Grund und Boden verbrannt“.

Die Interpretationsgeschichte eine der bekanntesten deutschen Symphonien, Beethovens „Neunter“, hat sich leicht neben Hegels berühmter Dialektik geschrieben und hatte statt Harmonie Dissonanzen wie Unkraut hervor treiben lassen. Zerfiel Hegels Philosophie einerseits mit Kierkegaard in den Existentialismus, mit Marx bekanntlich in den fatalen sozialistischen Realismus, der mit Lenin und Stalin die Orgien des Todes feierte, so hat kaum ein anderes Kunstwerk als die 9. Symphonie weit über Beethovens Tod hinaus den deutschen Geist polarisiert. Beethoven starb 1827, krank, taub, vom Leben stigmatisiert, doch ungebrochen blieb sein Pathos für die Freiheit.

Thomas Mann warnte vor der „Neunten“

Widmete Beethoven einst die „Neunte“ Friedrich Wilhelm III. von Preußen, in Erwartung, dass sich der zögerliche und zaudernde Regent, der reformwillig, aber nach der Restauration zugleich wieder zum Hardliner wurde, Pressefreiheit und bürgerliche Freiheitsrechte zugunsten des Adels verbrämte, für den Gedanken bürgerlicher Freiheit begeistern möge, forderte später Dichterfürst Thomas Mann sogar in seinem „Doktor Faustus, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“, die 9. Sinfonie zurückzunehmen. „Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen,“ so der Protagonist Leverkühn. Doch was trieb den Literaturpreisträger Mann dazu, Beethovens „Neunte“ zurücknehmen zu wollen?

Von links bis rechts

Beethovens 9. Symphonie orchestrierte die Welt, ob von links oder von rechts. Als Hymne der Befreiung aus geistiger Sklaverei, selbstherrlichem Despotentum erwachte sie als musikalisches Manifest der Arbeiterbewegung, trug sie doch wie kaum ein anderes Werk den Emanzipationsgedanken von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie ein glorreiches Transparent vor sich her. Sie galt für die Lohnarbeiter als Befreiungsschlag gegenüber der Tyrannei eines entfesselten kapitalistischen Unterdrückungssystems.

Ideologisierung durch den Diktator Josef Stalin

Für den sowjetischen Diktator Josef Stalin, der Millionen von Menschen in die Gulags oder auf dem Schafott seiner Ideologien opferte, war sie „die richtige Musik für die Massen“, die „nicht oft genug aufgeführt werden“ könne. Ein geradezu linksradikaler Beethovenkult hatte sich in der Stalin-Ära etabliert, eine Beethoven-Epidemie überschwemmte regelrecht die sozialistische Sowjetrepublik und Beethovens Freiheitsideal wurde von den linken Machthabern instrumentalisiert, so dass vom ursprünglichen Freiheitsgedanken rein nichts mehr übrig bleiben sollte.

Radikalisierte Stalin die „Ode an die Freiheit“ in ihrer Einseitigkeit, so fand auf der anderen Seite geradezu eine nationale Hysterie um Beethoven statt. Die deutschnationale Bewegung entflammte mit ihren Stereotypen für die 9. Symphonie, verdrehte die einstigen Ideale, stellte sie quasi vom Kopf auf die Füße und rechtfertige samt ihrer den grausamen Kampf der NS-Regimes. Freiheit hieß nun bei Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels, was die Nazis darunter verstanden: Säuberung von unwertem Leben, Volk ohne Raum-Politik und die Auslöschung ganzer Ethnien wie sie sich im Holocaust spiegelte.

Beethovens Vereinnahmung durch die Nazis

Was der Stürmer und Dränger und spätere Klassiker Friedrich Schiller einst in rauschhafter Freude verfasste und Beethoven in Musik verwandelte, entartee im Dritten Reich zur nationalistischen Hybris, zur Titanenmusik von Krieg, Terror und dem zweifelhaften Freiheitsgedanken der Nazis. So verkündigte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1942 auf einer Feier der NSDAP zum 53. Geburtstag von Adolf Hitler: „Diesmal sollen die Klänge der heroischsten Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmten, dieses Bekenntnis in eine ernste und weihevolle Höhe erheben.“ Und Goebbels weiter: „Wenn am Ende unserer Feierstunde die Stimmen der Menschen und Instrumente zum großen Schlussakkord der neunten Sinfonie ansetzen, wenn der rauschende Choral der Freude ertönt und ein Gefühl für die Größe und Weite dieser Zeit bis in die letzte deutsche Hütte hineinträgt, wenn seine Hymnen über alle Weiten und Länder erklingen, auf denen deutsche Regimenter auf Wache stehen, dann wollen wir alle, ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Soldat, ob Bauer, ob Arbeiter oder Beamter, zugleich des Ernstes der Stunde bewusst werden und ihm auch das Glück empfinden, Zeuge und Mitgestalter dieser größten geschichtlichen Epoche sein zu dürfen.“

Vielleicht hätte Beethoven, so er denn den Weitblick in die Zukunft gehabt hätte, die „Neunte“ gar nicht geschrieben, weil sie von links und rechts missbraucht wurde? Doch, er hätte sie geschrieben, weil er als überzeugter Idealist auch daran glaubte, dass man doch aus der Geschichte lernen kann und letztendlich die Freiheit über die Tyrannei siegen wird.

Die Erlösung wartet noch

Aber geheimnisvoll blieb sie, weil sie mit der Aura des Todes seltsam umwoben war, gar eine Offenbarung des nahen Endes bedeuten sollte. Beethoven wird keine „Zehnte“ mehr schreiben, ebenso wenig wie Anton Bruckner. Auch Gustav Mahler hatte Angst vor dem Begriff „Neunte Symphonie“. Und auch er wird seine nicht überleben. Der Mythos der Neunten kulminierte so im Aberglauben, dass kein Symphoniker darüber hinauskommen sollte. Wie sehr Segen und Fluch sich in ihr verbanden, brachte 1912 Arnold Schönberg auf den Punkt: „Die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könne, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schrieb.“

Mehr Aktualität Beethovens geht nicht

Spätestens als Europahymne, die die 9. Symphonie seit 1972 ist, steht sie für Beethovens Wunsch nach universaler und globaler Freiheit. Jenseits von Blutrausch, Nationalismus und Chauvinismus, „was der Mode Schwerd getheilt“, bleibt die Vision des Bonner Musikers zu höchst aktuell in einem Europa, das sich „Einheit in Vielfalt“ auf die Fahnen geschrieben hat. Und Beethoven wie Schiller sind auch nach über 200 Jahren die geistigen Vordenker für eine Welt, wo gemeinsame Werte regieren, wo Verschiedenheit der Kulturen kein Frevel, sondern eine Bereicherung ist, und wo es den Gedanken zu verteidigen gilt, dass alle Menschen Brüder werden.

Das Malergenie Gerhard Richter legt mit 88 Jahren den Pinsel aus der Hand

Stefan Groß-Lobkowicz21.12.2020Europa, Medien

Er ist der realistischste und abstrakteste deutsche Künstler. Seit Jahren spielt Gerhard Richter in der Champions-League der Kunst. Seine Kunstwerke erzielen Rekordsummen bei den größten Auktionshäusern der Welt. Doch der Malerfürst geht in den Ruhestand – verdient hat er ihn. Mit 88 Jahren legt Richter den Pinsel aus der Hand.

Gerhard Richter, geboren 1932 in Dresden im Osten der Republik, ist immer noch ein Marathonläufer. Kaum einer kann auf ein derartig vielschichtiges Werk zurückblicken, kaum einer hat derart monumentale Serien entworfen, kaum einer hat die Kunst der Nachkriegsjahre so nachhaltig geprägt. Voller Kraft und Dynamik erstrahlen seine abstrakten Visionen, ein Zusammenspiel von Vitalität und Disziplin, lyrischem Maß und sinnlichem Pathos.

Malen gegen das Vergessen

Der Stipendiat der Dresdner Hochschule hatte früh Karriere im Osten gemacht, galt als Wandmaler zu den gefragten Künstlern der noch jungen Republik. Doch Richter, dem „Picasso des 21. Jahrhunderts“, war die Enge des Staates, der Sozialistische Realismus nicht genug. Richter wollte mehr – die Freiheit schlechthin. Und diese eroberte er sich nach der Flucht in den Westen 1961. In Düsseldorf wurde er Professor, ein gefeierter Star, dem sich in den 90er-Jahren buchstäblich die ganze Welt auftat. Aber erst in Amerika feierte er Welterfolge, wurde zum gefragtesten Maler der Moderne preisgekrönt und dann mit Werkschauen weltweit förmlich überhäuft. Ob mit seinem Bild „Ema“ oder dem „Tisch“, Richter hat im ruhigen Fluss einer Arbeit immer wieder mit Nachdruck vorgeführt, was Malerei noch zu leisten vermag und dass sie sich gegen das Diktum der nachgesagten Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch ein Bild zu malen, kraftvoll entgegengestellt hat. Richter malte gegen das Vergessen, flirtete mit Fluxus, Fotorealismus und Pop Art und Readymade – doch einordnen in eine Richtung ließ er sich nie. Seit Beginn der 60er-Jahre hatte er seine eigene Form gefunden, die Idee, Fotografien abzumalen, die Ränder der Figuren zu verwischen und damit Unschärfe zu erzeugen. Richter ist ein Unangepasster in der Kunst geblieben, einem, dem das Experimentieren alles ist, der sich weder in das Korsett des Sozialistischen noch des Kapitalistischen Realismus pressen ließ.

Kunst bleibt ein Geheimnis

Jenseits von einer regulativen Kunstästhetik war es das Spiel mit den Farben, Formen und Materialien, die er auf eine ganz eigene Art und Weise zum Sprechen brachte. Immer war es die Zerbrechlichkeit des Subjekts, seine Fragilität, die er über die Dinge und Figuren legte, um zu zeigen, dass die Malerei um einen behüteten privaten Kern spielt, den sie nicht preisgibt, der ihr Geheimnis bleibt.

Antisubjektivistisch ist die Kunst über die fast 70 Jahre seines künstlerischen Schaffens geblieben. Nie wollte er, dass seine Bilder für die Wahrheit schlechthin stehen, sondern gerade in der Offenheit des Kunstwerks sah er den weisenden Charakter, wo der Zufall eine nicht unbedeutende Rolle spielt. „Von den Bildern lernen“ wurde seine Maxime und die Bilder damit eigentlich zum Objektiven. Seine Arbeitsweise hatte Richter, der malt und übermalt, der Unschärfe zeichnet, in grau-schwarz und weiß oder später immer farbenfroher, in den 60er-Jahren als einen Prozess beschrieben, wo der Verstand ausgeschaltet ist, Pinsel und Rakel regieren und wo sich die Kunst selbst erschafft. „Wenn ich eine Fotografie abmale, ist das bewusste Denken ausgeschaltet. Ich weiß nicht, was ich tue“. Noch deutlicher sein Credo: „Das Denken ist beim Malen das Malen.“ Nicht die Idee, wie bei der Fluxus-Bewegung, ist das produktive Element, das hinter allem gravitätisch regiert, sondern im Akt des künstlerischen Agierens kommt etwas hervor, das es so vorher nicht gab. Kunst als Überraschung: „Ich möchte am Ende ein Bild erhalten, das ich gar nicht geplant hatte. Ich möchte ja gern etwas Interessanteres erhalten als das, was ich mir ausdenken kann.“ Dass Richter hiermit ganz explizit postmodern ist, liegt auf der Hand. Das Kunstwerk ist autonom, das Subjekt tritt in den Hintergrund und das so entstandene Werk bleibt jederzeit von jedermann interpretierbar. Es gibt einen Sinn, stellt ihn wieder in Frage, verweist über sich hinaus, ohne sich doch restlos zu offenbaren. Es legt Spuren des Interpretierbaren, aber eben nur Spuren, die Spuren erzeugen. „Es demonstriert die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit, weil es uns die Meinung und den Namen von einem Ding nimmt, es zeigt uns das Ding in seiner Vieldeutigkeit und Unendlichkeit, die eine Meinung und Ansicht nicht aufkommen lässt.“ Helge Meister hatte Richters Abmalvorgang ganz konkret beschrieben: „In Illustrierten, Zeitungen, Fotoalben und Fachbüchern sucht er seit Jahren nach geeigneten Fotos, schneidet sie aus, legt sie unter ein Episkop und projiziert die nun stark vergrößerten Bilder auf eine leere Leinwand. Auf ihr zieht er mit Kohle nach und pinselt Menschen wie Räume mit schwarzer, grauer und weißer Farbe aus. […] Die noch nassen Farben übermalt er mit einem breiten Pinsel, zieht die Konturen ineinander, egalisiert die Farbunterschiede.“

Richters Maxime: „Etwas entstehen lassen, anstatt kreieren”

Richters Quevre, die sich darin aussprechende Diskontinuität, hatten Kritiker als „Stilbruch als Stilprinzip“ bezeichnet – doch genau dadurch zeichnet sich Richters Einmaligkeit aus. Er versteckt gegenständliche Motive hinter zahlreichen Übermalungsschichten, verwischt diese wieder in einem wilden Farbnebel, bricht mit tradierten Formen und beginnt neu. Der Stilbruch ist kein Tabu, sondern der kreative Akt selbst.

So sehr sich Richters Kunst zwischen Realismus und Abstraktion in einem Wechselspiel aufbaut, fotografischen Serien, Landschaften, Porträts, Stillleben und historische Stoffe zu neuer Lebendigkeit verhilft, es ist seine forschende und experimentierende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die seine Kunst zu etwas höchst Eigenständigen und Unverwechselbaren werden lässt. Und selbst wenn er auf klassische Sujets der Kunst zurückgreift, so sind seine fotorealistischen Naturdarstellungen, seine nach Fotografien gemalten unscharfen Gemälde sowie die Gemälde mit höchster Abstraktionskraft bis hin zu Glas- und Spiegelobjekten beziehungsweise Installationen immer Spiegel dessen, was sich nicht voraussehen lässt. Das Ergebnis ist jedes Mal ein anderes und nur bedingt steuerbar. „Etwas entstehen lassen, anstatt kreieren,” heißt es bei Richter. „Wenn ich nicht weiß, was da entsteht, also kein festes Bild habe wie bei einem Foto, das ich abmale, dann spielen Willkür und Zufall eine wichtige Rolle.”

Längst im Künstlerhimmel angekommen

Wenn es um Ehre, Weltruhm und Ewigkeit geht, ist Gerhard Richter schon längst im Götterhimmel der Kunst angelangt. Und dort hat der Ewig-Schaffende schon jetzt einen festen Platz, was gar nicht so einfach für einen Atheisten „mit Hang zum Katholizismus“ ist. Doch „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches“ könne er nicht leben. Es ist das Bekenntnis eines religiös nicht ganz unmusikalischen Malers, der faustisch mit den Energien des Kreativen ringt, mit dem produktiven Dämon, der ins Unendliche treibt und Werke schafft, die ihresgleichen suchen.

Starallüren hat sich Richter stets verweigert, er ist kein Markus Lüpertz. Richter ist ein unabhängiger Künstlertyp geblieben. Das Malergenie liebt es eher unprätentiös, er ist denkbar bescheiden, der Hype um seine Person ihm unangenehm. Lange schon hatte sich der heute 88-Jährige von der Oberfläche der Eitelkeiten verabschiedet und in das Villenviertel Hahnwald in seiner Wahlheimat Köln zurückgezogen. Den größten Teil der heutigen Auktionskunst hält er allerdings für überteuert. Was fehle, sei der Maßstab für die Beurteilung des Wertes von Kunstwerken. „Wenn Sie die Auktionskataloge sehen, da wird ja 70 Prozent Müll für teures Geld verkauft.“ „Die Kriterien­losigkeit, die ist schon das Härteste dabei.“ Zwar finde er es angenehm, er, der sich nie als Marketingstratege verkauft hat, dass für seine Werke Millionensummen bezahlt werden, es zeigt immerhin, dass er geschätzt werde. Aber zugleich ist es für ihn auch „unerträglich und pervers, dass es solche Unsummen sind“. Und auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass seine Kunst verstanden wird, antwortet er: „Manchmal ja. Sonst hätte ich ja nicht so viel Erfolg. Also irgendwas wird ja schon ab und zu verstanden.“

Mit 88 Jahren legt der Mann, dessen Maxime es war, dass die „Kunst die höchste Form der Hoffnung“ sei, der laut „Manager Magazin“ zu den 500 reichsten Deutschen zählt und als der wichtigste Künstler der Gegenwart gehandelt wird, nun den Pinsel aus der Hand. Richters Abschied als Maler war die Vollendung der drei Kirchenfenster im Kloster Tholey. „Irgendwann ist eben Ende.“ „Das ist nicht so schlimm. Und alt genug bin ich jetzt,“ erklärte er im September und sein Abschied von der Malerei glich einem Paukenschlag.

Richters Ruhestand wird ein Unruhezustand bleiben

Doch Richters Ruhestand wird ein Unruhezustand bleiben, zu aktiv, zu kreativ, zu sehr Schöpfungswille. Ganz kann er sich nicht zur Ruhe setzten. Er will noch ein wenig zeichnen. „Da wird wahrscheinlich noch was kommen, was im Februar gezeigt wird in München, eventuell in New York. Skizzen. Farbig-abstrakt. Nicht so doll“, kündigt er an. Dieses „nicht so doll“ ist typisch für Richter, spiegelt es doch die selbstkritische Haltung. In der Vergangenheit hatte er immer wieder fertige Gemälde verworfen und zerstört – so seine Werke aus der DDR-Vergangenheit, so seine frühen Werke im Westen. Doch Richter wird bleiben, selbst wenn er nicht mehr malt. Er ist jetzt schon unsterblich.

Interview mit Justizminister Eisenreich: „Wir müssen die großen Plattformen mehr regulieren“

Stefan Groß-Lobkowicz17.12.2020Medien, Politik

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich hat sich hohe Ziel gesetzt: Er will den großen Plattformen den Kampf ansagen. Google, Amazon, Facebook und Co. können nicht machen, was sie wollen. Auch den Hate-Speech im Internet will er juristisch Einhalt gebieten und hat sich den Kampf gegen Hassreden auf die Agenda geschrieben. The European traf den CSU-Politiker in München zum Interview.

Sehr geehrter Herr Staatsminister Eisenreich, nach einer Umfrage von „Forsa“ haben Hassreden seit 2016 zugenommen. Ist das ein Trend, der anhält?

Hass und Hetze nehmen in unserer Gesellschaft in wirklich erschreckendem Ausmaß zu. Die Ursachen sind vielfältig. Unser Rechtsstaat darf nicht zuschauen, wenn geistige Brandstifter und ihre Gefolgschaft das Klima in unserem Land vergiften. Hass und Hetze schränken die Meinungsfreiheit ein. Aus Worten können auch Taten werden. Deswegen muss der Staat entsprechend reagieren, und der Staat reagiert auch.

Jeder fünfte Mandatsträger wurde in Bayern mit Mord bedroht. Was kann man dagegen tun?

Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber Politikern, auch gegenüber Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern haben zugenommen. Ich sage in aller Klarheit: Wer Politiker angreift, greift auch unsere Demokratie an. Politiker dürfen nicht empfindlich sein. Aber niemand muss Beleidigungen oder Bedrohungen aushalten. Die bayerische Justiz hat daher ein Schutzkonzept entwickelt, das mit den Maßnahmen der bayerischen Polizei abgestimmt ist. Ein wichtiger Baustein dieses Konzepts: Betroffene können in einem neuen Online-Meldeverfahren schnell und einfach Anzeigen und Prüfbitten an die Generalstaatsanwaltschaft München übermitteln.

Was sind die Auslöser von Hate-Speech? Gesellschaftliche Umbrüche, eine Unzufriedenheit mit der Politik? Flüchtlingskrise, Corona-Politik?

Ich glaube, dass diese Themen viele Menschen bewegen und auch Teile der Gesellschaft polarisieren – das können die Digitalisierung, die Globalisierung, der Klimawandel, die Migrationspolitik oder die Corona-Maßnahmen sein. Was wir feststellen ist aber, dass etwa 80 Prozent der strafbaren Hass-Posts dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen sind.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz von SPD-Außenminister Heiko Maas war eine erste Antwort auf Hate-Speech. Reicht Ihnen das für den Anfang aus oder ist das zu wenig?

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz war ein richtiger und wichtiger Schritt. Die sozialen Netzwerke hatten anfangs die Haltung: Wir stellen nur eine Plattform zur Verfügung, für ihre Äußerungen sind die Nutzerinnen und Nutzer selbst verantwortlich. Das ist nicht akzeptabel. Gesetze, die in der analogen Welt gelten, müssen auch im Internet gelten. Es ist die Aufgabe des Staates, Recht durchzusetzen, auch im Internet. Deshalb brauchen wir eine entsprechende Regulierung der großen Social Media-Plattformen. Wir stellen fest, dass in der Anonymität des Internets die Beleidigungen wesentlich härter ausfallen, als wenn sich Menschen in der realen Welt gegenüberstehen. Auch die Reichweiten beispielsweise von Beleidigungen und Volksverhetzungen sind viel größer. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz war daher ein erster richtiger und wichtiger Schritt. Wir können hier aber nicht stehen bleiben. An einigen Stellen müssen wir nachschärfen.

Bayern hat als erstes Bundesland einen Hate-Speech-Beauftragten. Wie gut ist die Bayerische Justiz gegen Hass im Netz gerüstet?

Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen gehandelt werden muss. Es gibt die Ebene der Gesetzgebung – dafür sind Berlin und Brüssel zuständig. Zum Beispiel mit dem bereits angesprochenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das nachgebessert werden muss, oder der kürzlich vorgestellte Digital Services Act der Europäischen Kommission.

Die Länder können die Strafverfolgungsstrukturen noch weiter optimieren. Ich habe die Schlagkraft unserer bayerischen Strafverfolgungsbehörden in diesem Bereich erhöht. Bei jeder der 22 bayerischen Staatsanwaltschaften gibt es ein Sonderdezernat zur Bekämpfung von strafbarem Hass und Hetze. Im Januar habe ich zudem zentral für ganz Bayern Deutschlands ersten Hate-Speech-Beauftragten ernannt. Ich habe ihn ganz bewusst bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München angesiedelt. Das soll ein klares Signal sein: Kampf gegen Hate-Speech bedeutet auch Kampf gegen Extremismus.

80 Prozent der Hetze kommen aus dem rechten Bereich. Erfüllt dieser Hass damit auch den Tatbestand der Volksverhetzung?

Es gibt keinen Straftatbestand “Hass und Hetze”. Das Verhalten kann verschiedene Straftatbestände erfüllen. Das können Beleidigungsdelikte sein, also Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung; aber auch eine Bedrohung oder Volksverhetzung.

Wie hoch sind die Strafen, beispielsweise für Volksverhetzung?

Die jeweilige Strafe hängt immer vom Einzelfall ab. Unser Hate-Speech-Beauftragter hat Beispiele genannt: Bei einer Volksverhetzung kommt es bei einem Ersttäter in der Regel zu einer Geldstrafe. Bei Wiederholungstätern drohen empfindlichere Geldstrafen oder auch Freiheitsstrafen.

Wo sind für die Justiz die Graustellen im Netz? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den sozialen Netzwerken? Funktioniert diese?

Bei der Bekämpfung von Hass im Netz spielen die Betreiber sozialer Netzwerke eine wichtige Rolle. Wir können die Straftäter nur verfolgen, wenn wir die Urheber von Hass-Posts ermitteln können. An dieser Stelle müssen wir die sozialen Netzwerke stärker in die Pflicht nehmen. Die Zusammenarbeit mit Facebook und anderen Plattformen ist absolut unbefriedigend, weil die Anfragen der Staatsanwaltschaften teilweise nicht, teilweise unvollständig beantwortet werden. Meine Haltung ist klar: Die sozialen Netzwerke müssen die Auskunftsverlangen unserer Strafverfolger ohne Wenn und Aber beantworten.

Facebook, Google und Co sollen Ihrer Meinung nach mehr reguliert werden. Wie wollen Sie die Macht gegen die Tech-Giganten brechen?

Einige Internetkonzerne haben sich quasi zu Monopolisten entwickelt. Dies führt zu digitaler Abhängigkeit und gefährdet unseren Wohlstand, unsere Privatsphäre und unsere Werte. Deshalb müssen wir handeln. Gefordert sind der Bund und die Europäische Union.

Da der freie und faire Wettbewerb gefährdet ist, muss viel härter kartellrechtlich eingeschritten werden. Das fängt mit Geldbußen an, aber natürlich nicht mit lächerlichen Summen, die Tech-Giganten aus der Portokasse zahlen. Geldbußen müssen empfindlich hoch sein. Daneben muss die Macht der Monopole wirksam beschränkt werden, wenn nötig müssen Monopole zerschlagen werden.

Außerdem halte ich eine Digitalsteuer für notwendig. Die Tech-Monopolisten dürfen sich nicht länger einer Besteuerung entziehen. Es kann nicht sein, dass hohe Gewinne privatisiert werden, aber die Probleme und Kosten sozialisiert werden.

Bei der Medienregulierung sind wir mit dem Medienstaatsvertrag einen großen Schritt weiter. Diese Plattformen werden nun als das eingeordnet, was sie in Wirklichkeit sind: Medienunternehmen, die – wie alle anderen Medienunternehmen auch – reguliert werden müssen.

Unabhängig von dem Bereich der Regulierung brauchen wir in Europa auch eine eigene digitale Infrastruktur.

Das Gesetz gegen Hasskriminalität im Netz liegt seit Monaten beim Bundespräsidenten – es kann nicht ausgefertigt werden, weil es offensichtlich verfassungswidrig ist. Nun hat das BMJV ein Reparaturgesetz vorgelegt. Wie geht es weiter? Das Hate-Speech-Gesetz ist ein Prestigeprojekt von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). Ist sie damit gescheitert?

Nein, ich begrüße diese Gesetzesinitiative ausdrücklich. Sie ist ein wichtiger Schritt für eine noch effektivere Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet. Der Entwurf enthält auch wichtige bayerische Initiativen, für die ich mich lange eingesetzt habe, wie z. B. die Möglichkeit, antisemitische Straftaten und Beleidigungen im Netz mit höheren Strafen zu ahnden. Tatsächlich müssen aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes in einem Teilbereich dieses Gesetzes Änderungen vorgenommen werden. Da gibt es schon erste Vorschläge. Ich bin zuversichtlich, dass das Gesetz baldmöglichst in Kraft tritt.

Wir haben die Meinungsfreiheit auf der einen Seite, auf der anderen wird diese immer wieder ausgenutzt, um zu hetzen. Wie bekommen wir einen Kompromiss hin, dass die Meinungsfreiheit erhalten bleibt?

Die Meinungsfreiheit ist das Fundament unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Deshalb müssen wir sie verteidigen. Wir brauchen die Debatte und den Meinungsstreit in Deutschland. Es ist jedoch ein großer Irrtum zu glauben, dass jede Äußerung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Es gibt eine Grenze: Die Meinungsfreiheit endet dort, wo das Strafrecht beginnt. Niemand muss sich beschimpfen und bedrohen lassen, niemand muss Straftaten erdulden. An dieser Stelle muss der Rechtsstaat aktiv werden.

Strafbarer Hass und strafbare Hetze führen dazu, dass sich viele Menschen aus Angst vor hasserfüllten Reaktionen erst gar nicht mehr äußern. Wer die Meinungsfreiheit schützen will – so wie ich – der muss strafbaren Hass bekämpfen!

Wenn Angela Merkel im nächsten Jahr die politische Bühne verlässt, hat Ministerpräsident Markus Söder derzeit die besten Aussichten auf die Kanzlerschaft. Was sagen Sie zu einem Kanzler Markus Söder?

Er ist ein hervorragender Ministerpräsident und er wäre auch ein hervorragender Bundeskanzler.

Herzlichen Dank für das Gespräch

Das Gespräch führte Stefan Groß

Diese grüne Doppelmoral ist unerträglich – Hamburger Justizsenatorin Gallina: Vom Flüchtlingstermin zum Hummeressen

Sie haben beste Chancen, nächstes Jahr in einer neuen Bundesregierung mitzumischen. Doch mancher Grüner fährt zweigleisig – zumindest moralisch. So geht die Hamburger Justizministerin Anna Gallina schon mal gern vom Flüchtlingstermin zum hummeressen auf Kosten des Steuerzahlers und ein Tempolimit-Befürworter rast mit 57 km/h zu schnell durch Deutschland. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Was ist nur mit den Grünen los? Die Verbotspartei wird immer unglaubwürdiger, Was ist nur mit den Grünen los? Die Verbotspartei wird immer unglaubwürdiger, zumindest die schwarzen Schafe, von denen es doch einige zu geben scheint. Eigentlich wollen die Grünen doch das Gute, Schöne und Wahre, stehen für Offenheit und Transparenz, wollen sogar die Welt retten und das mit einem Image der Untadeligkeit. Mit ihrer Klimapolitik wollen sie hoch hinaus, den Verbrenner, Benzin und Dieselfahrzeuge, bis 2023 am Besten für immer abwracken und den grünen Energien zum Durchbruch verhelfen. Die Klimaziele sind ambitioniert und der Griff in der Klaviatur der Macht, das Mitregieren in einer neuen Bundesregierung 2021 unter Schwarz-Grün ein hochgestecktes und nicht unrealistisches Ziel. Alles schön, wären da nicht die ganz so Ungrünen unter den Grünen.

57 km/h zu schnell – Tempolimit für Grüne egal?

Der grüne Politiker Franz Untersteller, der baden-württembergische Umweltminister, entpuppte sich als Raser. Ein Grüner als Raser ist zumindest schlecht für die Reputation, wenn es darum geht, die Treibhausemmissionen zu senken und das Klima zu retten. Und seine Raserei ist kein Kavaliersdelikt. Der schnelle Minister und Befürworter eines generellen Tempolimits von 130 Kilometern pro Stunde wurde auf der Autobahn 8 von der Polizei bei einer drastischen Tempoüberschreitung erwischt – fast 60 km/h zu schnell. „Es tut mir leid,“ hatte er bekundet. Doch wer Wasser predigt und Wein trinkt, muss mit Konsequenzen rechnen. Nach seiner Tempoüberschreitung, immerhin 177 km/h hatte er auf dem Tacho, wurde er auf der Autobahn zwischen Stuttgart und Karlsruhe gestoppt – dort war Tempo 120 erlaubt. Das ganze hat schon jetzt ein Nachspiel: Der Chef der FDP-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Rülke, legte Untersteller den Rücktritt nahe. Auch die Junge Union hält ihn für nicht mehr tragbar. „Ein Umweltminister, der ein allgemeines Tempolimit fordert und dann selbst soviel zu schnell ist, hat sämtliche Glaubwürdigkeit verspielt und sollte zurücktreten“, sagte der Landeschef der CDU-Nachwuchsorganisation, Philipp Bürkle. „Wasser predigen und Wein saufen – das ist Grüne Doppelmoral pur.“

Hamburgs Justizsenatorin – Von der Weltrettung an die Hummerbar

Pikant ist auch die Angelegenheit von Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina. Flüchtlinge auf Malta besuchen, war das hehre Ziel. Doch die grüne Senatorin landete beim Hummeressen. Getreu dem Motto: Erst Flüchtlinge retten, dann Hummer schlemmen, offenbart sich auch hier wiederum die Doppelmoral der Grünen. Das passt eigentlich auch in das Bild der Grünen-Ex-Ministerin Sylvia Löhrmann. Die wechselte 2017 kurzerhand vor einem Wahlkampftermin von ihrem teuren Audi-A8-Dienstwagen in ihr Hybrid-Auto. Der Ex-Bildungsministerin und stellvertretenden Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen wurde damals vorgeworfen, eine Öko-Heuchlerin zu sein.

Ob Baden-Württemberg, Nordrhein-Westphalen oder eben Hamburg – die Moral lässt zu wünschen übrig. Unter Feuer steht derzeit die Grüne Senatorin Gallina. Natürlich ist nichts gegen die Flüchtlingsrettung zu sagen, dies ist moralisch sogar zu goutieren. Aber die Sache ist, dass sie ihr späteres Hummeressen, wohlverdient nach dem Anblick des Elends der ankommenden Migranten, sich direkt vom Steuerzahler bezahlen ließ. „Bewirtungsanlass Flüchtlingsrettung“. Auch dies ist kein Kavaliersdelikt – und das sieht die Hamburger Staatsanwaltschaft mittlerweile auch so. Die ist bei ihren Spesen-Ermittlungen gegen den ehemaligen Lebensgefährten der Senatorin, Michael Osterburg, jetzt auf Belege gestoßen, die Gallina weiter in Bedrängnis bringen können.

Der Fall mit dem Ex: Opulente Essen von Michael Osterburg auf Kosten des Steuerzahlers

Osterburg, selbst Grüner und ehemaliger Fraktionschef der Bundespartei Hamburg Mitte, nahm es nie so genau mit dem Geld des Steuerzahlers. Mittlerweile hat der wegen Untreueverdacht stehende Ex-Politiker Michael Osterburg den Landesverband der Hamburger Grünen verlassen, ein bitterer Geschmack bleibt. Osterburg steht derzeit im Zentrum eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Veruntreuung von Fraktionsgeldern. Auch die Summe ist beachtlich: 67,900 Euro sind kein Pappenstiel. Und damit kein Ende. Die Staatsanwaltschaft hat mehr als 4000 Quittungen des Lebemanns und spendierfreudigen Grünen gefunden. Darunter eine Quittung für einen Strauß mit 40 roten Rosen, die Osterburg im Juni 2016 zwei Tage vor Gallinas 40. Geburtstag gekauft hatte. Und natürlich hat er auch diesen nicht aus der eigenen Tasche bezahlt, sondern großzügig von der Bezirksfraktion, also aus Steuergeldern, erstatten lassen. Osterburg war eigentlich nie zimperlich, wenn es um Bewirtungsbelege in Restaurants ging. Darunter sollen immer wieder angeblich dienstliche Termine mit Journalisten gewesen sein, die sich aber an derartig luxuriöse Einladungen nicht erinnern konnten, als die Pressevertreter vom Landeskriminalamt danach befragt wurden.

Was aber buchstäblich das Fass zum überlaufen gebracht hatte, war jenes ominöse noble Hummeressen in Malta im Jahr 2017, wofür der Steuerzahler immerhin 250 Euro mitbezahlen musste. Vom Termin von „Sea-Eye“, einer Regensburger Nichtregierungsorganisation, die mit ihrem Rettungsschiff „ALAN KURDI“ im Mittelmeer in Seenot geratene Flüchtlinge rettet, eilte die Grüne zum Hummeressen. Und der obligatorische Bewirtungsanlass auf dem Luxus-Beleg stellte dann tatsächlich einen Bezug zum Thema Flüchtlingsrettung her. Allerdings tauchte der Name der Hamburger Grünen nicht auf.

Osterburgs Ex kostet Gallina vielleicht das Amt

Justizsenatorin Anna Gallina leidet nunmehr unter Amnesie, da die Angelegenheit heiß und ihr womöglich gar das Amt kostet. Sie will von allem nichts gewusst haben. Und gegenüber der „dpa“ erklärte sie: „Ich habe weder Kenntnis vom Stand der Ermittlungen, noch habe ich Einfluss auf diese.“ Es sei aber „wichtig, dass die erheblichen strafrechtlichen Vorwürfe gegen Herrn Osterburg aufgeklärt werden.“ Ihr Nichtwissen deckt sich aber auch nicht mit den Inhabern eines italienischen Restaurants, von dem die meisten Belege stammen und in dem das Paar gern gegessen hatte. Die bestätigten unterdessen, dass Osterburg mit seiner damaligen Lebensgefährtin Anna Gallina ausschließlich zum Essen kam.

Ob die Justizsenatorin jetzt tatsächlich eine Vorladung von der Staatsanwaltschaft erhalten wird, ist noch nicht geklärt. Doch Rückendeckung hat Gallina unterdessen von der Zweiten Bürgermeisterin, Katharina Fegebank, ebenfalls von den Grünen, bekommen. Fegebank erklärte sich solidarisch mit der Hummeresserin und betonte. „Mir ist wichtig klarzustellen: Das Ermittlungsverfahren gegen Michael Osterburg ist kein Ermittlungsverfahren gegen Anna Gallina.“

Und die Moral von der Geschichte: Wenn es um den eigenen Vorteil geht, drücken selbst die Grünen mal ein Auge zu. Natürlich gibt es solch Unanständigkeiten auch in anderen Parteien, keine Frage: nur die Grünen, die als Verbotspartei immer mit dem Finger auf die anderen zeigen und diese moralisch disqualifizieren, hätten auch mal guten Grund ihre Moral selbst kritisch zu hinterfragen.

Der Musiker der Freiheit – Ludwig van Beethoven feiert seinen 250. Geburtstag

Stefan Groß-Lobkowicz12.12.2020Medien, Wissenschaft

Es gibt Meisterdenker und Klassiker der Musikgeschichte. Ludwig van Beethoven war Deutschlands Genius der Symphoniekantate. Damit betrat er neuen Boden und schuf eine Musik, die auch nach zwei Jahrhunderten immer noch fasziniert. Vor 250 Jahren wurde das Genie in Bonn geboren, doch zu Ruhm wird er erst in seiner Wiener Zeit gelangen. Was aber fasziniert Beethoven an den Idealen der Aufklärung? Wir begeben uns auf Spurensuche. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Vor 250 Jahren, am 17. Dezember 1770, wurde er in Bonn geboren, das Genie Ludwig van Beethoven. Und er war der Revolutionär in Geist und Musik, Sprengstoff pur, emotional wie ein Vulkan, ein Übermensch, der für eine neue Epoche der Musik steht und Mozarts fulminanter Klassik seine Symphoniekantate entgegensetzen wird. Bekannte sich der Salzburger Wunderknabe bereits in, „Le nozze di Figaro“, im „Don Giovanni“ und in der „Der Zauberflöte“ zu den freiheitlich-bürgerlichen und antimonarchischen Idealen der Freimaurer, folgt ihm Beethoven dann, wenn er sich selbst als glühender Verfechter der französischen Revolutionsideen versteht, die er dann heroisch in seiner 9. Sinfonie als sein höchstpersönliches Glaubensbekenntnis manifestiert.

Der Ruf nach Freiheit war explosiv

Es war der Sieg der Aufklärung über den Absolutismus. Was 1789 als Französische Revolution begann, hatte die Weltgeschichte gründlich verändert und die Fundamente der Moderne gezimmert. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pfiff es durch die Gassen und zündete dann in den Köpfen jene Feuer, die seither für die Freiheit brennen. Ob die deutschen Idealisten, ob Friedrich Schiller oder die Romantiker – ihnen allen wurde Freiheit zum Losungswort von Dichtung und Kultur – und für den Bonner Ludwig von Beethoven zur Passion. Schillers Ode „An die Freude“ ist es, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird, die er aber erst 1824, drei Jahre vor seinem Tod, grandios und gigantisch in Musik vollenden kann.

Beethovens Angst vor dem System Metternich

Schillers Ode, das „umschlungen Millionen“ im vierten Satz von Beethovens „Neunter“, war auch für den Bonner das Menschheitsideal. Und wie sich einst Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts über den „Policeystaat“ beklagt, so litt auch Beethoven an der Bespitzelung, an der Restauration und einem aufstrebenden Adel unter Metternich nach dem Wiener Kongress 1814/15. „Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick“, heißt es bekanntlich im Freiheitschor der einzigen Oper, dem „Fidelio“. Der Ruf nach Freiheit drohte in Deutschland zumindest wieder zu ersticken. Und wie einst Jean-Jacques Rousseau ein „Zurück zur Natur“ einklagen wird, so ist Beethovens Neunte ein Aufruf an das entmündigte Bürgertum, liberal, grenzenlos, für die Ewigkeit der Menschheit gedacht, ein globaler Freiheitsruf par excellence, der mit Schiller an das Frankreich im Jahr 1789 erinnert und die Bande neu knüpfen will.

Schiller, der Meisterdenker der Freiheit

Beethoven war ein glühender Verfechter der französischen Ideen und Schiller lieferte den Stoff dazu. 1885 hatte der Dichter in Leipzig-Gohlis für seinen Freund Körner, wie Mozart ebenfalls Freimaurer und Aufklärer, die Strophen geschrieben, die Weltgeschichte machen sollten. Doch dieser Schiller war kein unbeschriebenes Blatt. War er doch der Autor der „Die Räuber“ und in ganz Deutschland frenetisch gefeiert. Und Schiller selbst derzeit noch ein Ausgestoßener und Flüchtiger, verbannt aus dem Herzogtum Württemberg unter Herzog Karl Eugen, hatte das Joch der Tyrannei endgültig abgestreift. Der Verve der Ode war geballte Kraft eines Genius, der sich die Freiheit geradezu aus der Seele schreibt. Dieser Wille zur Unbändigkeit, dieser Frevel, die bestehende Ordnung kritisch zu hinterfragen, diese Lebendigkeit und das Pathos der Freiheitsbeschwörung haben Beethoven, der seit 1802 zunehmend an Schwerhörigkeit litt und dies im berühmten „Heiligenstädter Testament“ verewigte, beflügelt, gegen das Räderwerk des Absolutismus zu opponieren. Diese Energie hat dem Krankheitsgeplagten immer wieder das Blut in den Adern auflodern lassen.

Faszination und Geheimnis – Der wird keine Zehnte geben

Die 9. Sinfonie, die d-Moll-Symphonie, sei vergleichbar mit Da Vincis Mona Lisa, so zumindest hatte sie Claude Debussy 1901 beschrieben. Faszinierend und zugleich geheimnisvoll. Faszinierend wirkte sie auf Robert Schumann, für den sie einen Endpunkt markierte, wo Maß und Ziel der Instrumentalmusik erschöpft seien. Von Erlösung wird später Richard Wagner sprechen, da „auf sie kein Fortschritt mehr möglich“ sei, „denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeine Drama folgen.“ Der Barrikadenstürmer Wagner, der Revolutionär, wurde sodann von den Aufständischen feurig begrüßt, als am 6. Mai 1849 die Alte Dresdner Oper in den Flammen aufging. „Herr Kapellmeister, der ‚Freude schöner Götterfunken’ hat gezündet, das morsche Gebäude ist in Grund und Boden verbrannt“.

Die Interpretationsgeschichte eine der bekanntesten deutschen Symphonien, Beethovens „Neunter“, hat sich leicht neben Hegels berühmter Dialektik geschrieben und hatte statt Harmonie Dissonanzen wie Unkraut hervor treiben lassen. Zerfiel Hegels Philosophie einerseits mit Kierkegaard in den Existentialismus, mit Marx bekanntlich in den fatalen sozialistischen Realismus, der mit Lenin und Stalin die Orgien des Todes feierte, so hat kaum ein anderes Kunstwerk als die 9. Symphonie weit über Beethovens Tod hinaus den deutschen Geist polarisiert. Beethoven starb 1827, krank, taub, vom Leben stigmatisiert, doch ungebrochen blieb sein Pathos für die Freiheit.

Thomas Mann warnte vor der „Neunten“

Widmete Beethoven einst die „Neunte“ Friedrich Wilhelm III. von Preußen, in Erwartung, dass sich der zögerliche und zaudernde Regent, der reformwillig, aber nach der Restauration zugleich wieder zum Hardliner wurde, Pressefreiheit und bürgerliche Freiheitsrechte zugunsten des Adels verbrämte, für den Gedanken bürgerlicher Freiheit begeistern möge, forderte später Dichterfürst Thomas Mann sogar in seinem „Doktor Faustus, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“, die 9. Sinfonie zurückzunehmen. „Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen,“ so der Protagonist Leverkühn. Doch was trieb den Literaturpreisträger Mann dazu, Beethovens „Neunte“ zurücknehmen zu wollen?

Von links bis rechts

Beethovens 9. Symphonie orchestrierte die Welt, ob von links oder von rechts. Als Hymne der Befreiung aus geistiger Sklaverei, selbstherrlichem Despotentum erwachte sie als musikalisches Manifest der Arbeiterbewegung, trug sie doch wie kaum ein anderes Werk den Emanzipationsgedanken von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie ein glorreiches Transparent vor sich her. Sie galt für die Lohnarbeiter als Befreiungsschlag gegenüber der Tyrannei eines entfesselten kapitalistischen Unterdrückungssystems.

Ideologisierung durch den Diktator Josef Stalin

Für den sowjetischen Diktator Josef Stalin, der Millionen von Menschen in die Gulags oder auf dem Schafott seiner Ideologien opferte, war sie „die richtige Musik für die Massen“, die „nicht oft genug aufgeführt werden“ könne. Ein geradezu linksradikaler Beethovenkult hatte sich in der Stalin-Ära etabliert, eine Beethoven-Epidemie überschwemmte regelrecht die sozialistische Sowjetrepublik und Beethovens Freiheitsideal wurde von den linken Machthabern instrumentalisiert, so dass vom ursprünglichen Freiheitsgedanken rein nichts mehr übrig bleiben sollte.

Radikalisierte Stalin die „Ode an die Freiheit“ in ihrer Einseitigkeit, so fand auf der anderen Seite geradezu eine nationale Hysterie um Beethoven statt. Die deutschnationale Bewegung entflammte mit ihren Stereotypen für die 9. Symphonie, verdrehte die einstigen Ideale, stellte sie quasi vom Kopf auf die Füße und rechtfertige samt ihrer den grausamen Kampf der NS-Regimes. Freiheit hieß nun bei Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels, was die Nazis darunter verstanden: Säuberung von unwertem Leben, Volk ohne Raum-Politik und die Auslöschung ganzer Ethnien wie sie sich im Holocaust spiegelte.

Beethovens Vereinnahmung durch die Nazis

Was der Stürmer und Dränger und spätere Klassiker Friedrich Schiller einst in rauschhafter Freude verfasste und Beethoven in Musik verwandelte, entartee im Dritten Reich zur nationalistischen Hybris, zur Titanenmusik von Krieg, Terror und dem zweifelhaften Freiheitsgedanken der Nazis. So verkündigte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1942 auf einer Feier der NSDAP zum 53. Geburtstag von Adolf Hitler: „Diesmal sollen die Klänge der heroischsten Titanenmusik, die je einem faustischen deutschen Herzen entströmten, dieses Bekenntnis in eine ernste und weihevolle Höhe erheben.“ Und Goebbels weiter: „Wenn am Ende unserer Feierstunde die Stimmen der Menschen und Instrumente zum großen Schlussakkord der neunten Sinfonie ansetzen, wenn der rauschende Choral der Freude ertönt und ein Gefühl für die Größe und Weite dieser Zeit bis in die letzte deutsche Hütte hineinträgt, wenn seine Hymnen über alle Weiten und Länder erklingen, auf denen deutsche Regimenter auf Wache stehen, dann wollen wir alle, ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Soldat, ob Bauer, ob Arbeiter oder Beamter, zugleich des Ernstes der Stunde bewusst werden und ihm auch das Glück empfinden, Zeuge und Mitgestalter dieser größten geschichtlichen Epoche sein zu dürfen.“

Vielleicht hätte Beethoven, so er denn den Weitblick in die Zukunft gehabt hätte, die „Neunte“ gar nicht geschrieben, weil sie von links und rechts missbraucht wurde? Doch, er hätte sie geschrieben, weil er als überzeugter Idealist auch daran glaubte, dass man doch aus der Geschichte lernen kann und letztendlich die Freiheit über die Tyrannei siegen wird.

Die Erlösung wartet noch

Aber geheimnisvoll blieb sie, weil sie mit der Aura des Todes seltsam umwoben war, gar eine Offenbarung des nahen Endes bedeuten sollte. Beethoven wird keine „Zehnte“ mehr schreiben, ebenso wenig wie Anton Bruckner. Auch Gustav Mahler hatte Angst vor dem Begriff „Neunte Symphonie“. Und auch er wird seine nicht überleben. Der Mythos der Neunten kulminierte so im Aberglauben, dass kein Symphoniker darüber hinauskommen sollte. Wie sehr Segen und Fluch sich in ihr verbanden, brachte 1912 Arnold Schönberg auf den Punkt: „Die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könne, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schrieb.“

Mehr Aktualität Beethovens geht nicht

Spätestens als Europahymne, die die 9. Symphonie seit 1972 ist, steht sie für Beethovens Wunsch nach universaler und globaler Freiheit. Jenseits von Blutrausch, Nationalismus und Chauvinismus, „was der Mode Schwerd getheilt“, bleibt die Vision des Bonner Musikers zu höchst aktuell in einem Europa, das sich „Einheit in Vielfalt“ auf die Fahnen geschrieben hat. Und Beethoven wie Schiller sind auch nach über 200 Jahren die geistigen Vordenker für eine Welt, wo gemeinsame Werte regieren, wo Verschiedenheit der Kulturen kein Frevel, sondern eine Bereicherung ist, und wo es den Gedanken zu verteidigen gilt, dass alle Menschen Brüder werden.

Die nächste Pandemie wird eine bakterielle sein – und viel tödlicher als Corona

Stefan Groß-Lobkowicz11.12.2020Gesellschaft & Kultur, Medien, Wissenschaft

Fast ein Jahr dominiert Corona das Leben auf der ganzen Welt. Über 68 Millionen haben sich inzwischen mit Covid-19 infiziert, 1,5 Millionen sind daran gestorben. Doch es könnte noch schlimmer werden, wenn wir es nicht schaffen, endlich neue Antibiotika gegen multiresistente Erreger zu entwickeln. Dagegen wäre Covid-19 geradezu harmlos. Jetzt warnt die Welternährungsorganisation: Noch gefährlicher als SARS-CoV-2. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Ausgerechnet uns Lebensoptimieren traumatisiert ein einziges, kaum sichtbares Covid-19 Virus und stellt die Moderne vor die Zerreißprobe. Krankheit und Tod waren stets allmächtige Begleiter der Evolution, die die Menschheit auf die Probe stellten, oft sogar bis zur Erschöpfung hin auf die Knie zwangen. So sehr Krankheitserreger zur Natur gehören und der Mensch Teil derselben ist, wird diese Bedrohung ein ständiger dunkler Gesellschafter, sein Schatten sein.

Was interessieren Viren und Pestbakterien unsere Vernunft? Geschichtlich sind sie älter als wir. Bakterien existieren seit 250 Millionen Jahren und gelten als die ältesten Lebewesen der Welt; Viren sind Gene von Lebewesen, die vor der ersten Zelle entstanden – als RNA-Genome stehen sie allesamt für Überbleibsel der Prä-DNA-Welt. Viren und Bakterien bleiben es auch, selbst in der vernunft-affinen Moderne, sind sie – metaphysisch gesehen – ungelöste Probleme.

Das bestätigt auch ein Blick in die jüngste Geschichte der Pandemie. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem ersten Technikkrieg der Menschheitsgeschichte, wird die Spanische Grippe 50 Millionen Menschen hinwegraffen. Cholera und Tuberkulose erobern sich ihre Domänen zurück. In den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts wütete die Hongkong-Grippe als eine der letzten großen Grippepandemien mit weltweit mehr als einer Million Toten zwischen 1968 und 1970. Auch die „Vogelgrippe“, bekannt als Influenza-A- Virus H1H5, richtete in den Jahren 2003-2020 ihre Schreckensherrschaft auf. Gegen diese Pandemien ist aktuell rückblickend Corona noch ein Infektionszwerg.

Die unterschätzte Gefahr – Die multiresistenten Erreger

Doch hinter Pest und Corona wartet ein möglicherweise, ein noch größeres Übel, auf die Menschheit. Die multiresistenten Erreger, der bekannteste ist MRSA, unempfindlich gegenüber unseren derzeitigen Antibiotika, wüten verstärkt seit 2019. Gelingt es moderner Technik und Wissenschaft nicht, diesen resistenten Bakterienstämmen ein völlig neuartiges Antibiotika entgegenzusetzen, wird die Medizin vor einem weiteren Gau stehen. Höchstkomplizierte Operationen und Transplantationen sind möglich, doch die kleinste bakterielle Entzündung führt die Hightech-Medizin an die Grenze. Der banale Tod an einer nicht behandelbar-lapidaren Grippe zu sterben, könnte die Menschheit zurück in die Steinzeit bombardieren. Was nutzt Jens Spahns Votum für die Organspende, wenn die postoperative Genesung plötzlich zur Herausforderung wird, weil die Antibiotika nicht wirken?

Die Gefahr steht im Raum, die Medien warnen, sie haben das Klagelied schon angestimmt, doch die Pharmaindustrie reagiert nicht. Gegen jede praktische Vernunft wird an keinem neuen Antibiotikum geforscht, weil es zu teuer ist und sich als Präventiv finanziell nicht lohnt. Im Kampf gegen das Coronavirus wird die Antibiotika-Resistenz vorerst beiseite geschoben. Milliarden werden weltweit auf der Suche nach einem Covid-19-Impfstoff investiert. Doch wenn nicht parallel dazu an der Entwicklung eines neuen „anti bios“, eines neuartigen Antibiotikums geforscht wird, wird uns in Zukunft Covid-19 wie ein peripheres unerhebliches Ereignis samt Todesstatistik in Erinnerung bleiben.

Viel gefährlicher als Covid-19

Die Gefahr unterstreicht auch eine Warnung der Welternährungsorganisation (FAO) Mitte Dezember 2020. Die Wissenschaftler betonten, dass die Antibiotikaresistenz von Bakterien „potentiell noch gefährlicher als Covid-19“ ist. Schon jetzt ist die Zahl der Fälle, in denen kein Antibiotikum mehr gegen den Erreger hilft, dramatisch gestiegen. Bereits jetzt sterben 700.000 Menschen an den Folgen antibiotikaresistenter Infektionen „Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, könnte die nächste Pandemie eine bakterielle sein – und viel tödlicher“, alarmierte FAO-Generaldirektorin Maria Helena Semedo.

Hagen Rickmann: „Der Digitalisierungszug rollt endlich!“

Stefan Groß-Lobkowicz10.12.2020Medien, Wirtschaft

Hagen Rickmann ist Geschäftsführer für den Bereich Geschäftskunden bei der Deutschen Telekom. Er blickt trotz Corona-Krise mit Zuversicht in die Zukunft, denn in der Wirtschaft sind viele positive Entwicklungen zu beobachten. Die wichtigste: Der digitale Wandel läuft endlich mit hohem Tempo. The European traf ihn zum Interview.

Herr Rickmann, die Corona-Pandemie hat die deutsche Wirtschaft hart getroffen, es droht ein dramatischer Konjunkturrückgang. Die Regierung stemmt sich mit Milliardensummen dagegen. Schaffen wir es so, den ganz großen Einbruch zu verhindern?

Rickmann: Die deutsche Wirtschaft ist stabiler, als man es vor der Pandemie von ihr gedacht hätte. Das zeigen auch die jüngsten Prognosen der Wirtschaftsexperten: Für Deutschland sagt der IWF ein Minus von 6 Prozent voraus. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehen wir damit gut da; Spanien etwa hat mit 13 Prozent zu kämpfen. Ich glaube, dass wir mit dem Konjunkturpaket einigermaßen gut durch die Krise kommen können – vorausgesetzt, die Mittel werden zielführend eingesetzt.

Was meinen Sie damit? Was sollte Ihrer Meinung nach vornehmlich gefördert werden?

Rickmann: Digitalisierung! Sicher, ein gutes Drittel der Konjunkturpaketmittel ist bereits für digitale Projekte vorgesehen. Davon geht aber ein sehr großer Teil in die Forschung oder in die Infrastruktur-Entwicklung – etwa in die KI-Forschung, die mit 5 Milliarden Euro unterstützt wird, oder in die Netztechnologie-Forschung. Das ist gut und richtig, aber dem Mittelstand hilft es nur bedingt. Für den Mittelstand brauchen wir dedizierte Digitalisierungsförderungsmaßnahmen, damit die Unternehmen sich digital transformieren können. Insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen haben noch viel Nachholbedarf in Sachen Prozessoptimierung, Automatisierung und Umstellung auf digitale Kundenkommunikation. Dafür muss es Anreize geben.

Immerhin gibt es das „Digital-Jetzt“-Programm des Ministerium für Wirtschaft und Energie. Es bietet KMUs finanzielle Zuschüsse für Digitalinvestitionen.

Rickmann: Und genau das ist der richtige Ansatz. Das „Digital-Jetzt“-Programm ist meines Erachtens eines der wichtigsten Elemente der Digitalförderung – neben der Förderung von digitalen Start-ups und der forcierten Digitalisierung des Schulwesens. Das Programm sollte aber noch umfassender sein. Beratungsleistungen, insbesondere zur Erstellung eines Digitalisierungsplans, sind zum Beispiel von einer Förderung durch das „Digital-Jetzt“-Programm ausgenommen. Dabei ist gerade die Erstellung eines Digitalisierungsplans etwas, wobei Unternehmen Hilfe gebrauchen können. Man sieht ja am Schulwesen, wie sehr fundierte Beratung bei der Planung von Digitalisierungsvorhaben vonnöten ist.

Worauf beziehen Sie sich da konkret?

Rickmann: Auf Medienentwicklungspläne. Alle Schulen, die Fördergelder für Digitalisierungsmaßnahmen beantragen, müssen ihrem Träger einen Medienentwicklungsplan vorlegen. In diesem muss aufgeführt sein, welche digitalen Werkzeuge oder Programme zu welchem Zweck angeschafft werden sollen. Um so etwas festlegen zu können, braucht man allerdings eine gewisse Digitalkompetenz – und diese haben die meisten Schulen nicht. So ist es zum Teil zu erklären, dass von den über fünf Milliarden Euro, die der Bund über den Digitalpakt Schule bereitgestellt hat, bisher gerade einmal fünf Prozent abgerufen wurden. Da sich die Deutsche Telekom das Thema Förderung der digitalen Bildung groß auf die Fahne geschrieben hat – wir haben dafür eigens eine Konzernbeauftragte ernannt –, bieten wir den Schulen hierbei Unterstützung an.

Für das Bildungswesen gilt Digitalisierung ja als Krisenbewältigungsrezept Nr. 1. Für die Wirtschaft auch?

Rickmann: Ja. Ich bin davon überzeugt, dass ein hoher Digitalisierungsgrad für jedes Unternehmen ein entscheidender Resilienzfaktor ist. Digital gut entwickelte Unternehmen kamen im Frühjahr viel besser durch den vollständigen Lockdown als digital rückständige Firmen. Besonders deutlich zeigte sich das in Branchen, die voll vom Lockdown betroffen waren, wie etwa Gastronomie und Hotelgewerbe: Restaurants mit Online-Bestellsystem konnten über den Außer-Haus-Verkauf auch bei geschlossenem Ladenlokal noch in akzeptablem Maße Umsatz machen, und Hotels mit schnellem WLAN konnten ihre Zimmer als Home-Office-Ersatzquartiere anbieten – für Büroangestellte, die zu Hause zu viel Ablenkung hatten.

Seit dem zweiten November gibt es erneut einen bundesweiten Lockdown, und man muss befürchten, dass es nicht der letzte gewesen sein wird. Ist die deutsche Wirtschaft inzwischen digitalisiert genug, um derartige Maßnahmen auch künftig gut überstehen zu können?

Rickmann: Ich möchte da nicht „genug“ sagen. Viele Unternehmen haben erst mit dem Ausbruch der Pandemie ernsthaft angefangen, sich zu digitalisieren, und ein knappes Dreivierteljahr dürfte bei den wenigsten Betrieben für eine komplette Transformierung ausgereicht haben. Aber: Der Digitalisierungszug rollt endlich! Corona hat auch dem letzten Analogbetrieb-Verfechter klar gemacht, dass gute Umsätze kein Grund sind, auf Digitalisierung zu verzichten, denn praktisch über Nacht können sich die Dinge ändern. Wir konnten den Sommer über einen starken Anstieg an Digitalisierungsaktivitäten verzeichnen, was mich optimistisch stimmt. Digitalisierte Unternehmen können ihre Wertschöpfung schneller und einfacher erhöhen, und sie machen sowohl in Krisenzeiten als auch in Normalzeiten mehr Umsatz – das belegt unser Digitalisierungsindex Mittelstand seit Jahren. Also ja, ich denke, dass die Wirtschaft auch künftige Lockdown-Maßnahmen gut überstehen kann.

Aber Sie sagen selbst, dass viele Unternehmen eben noch nicht vollständig digitalisiert sind.

Rickmann: Das müssen sie auch nicht. Es reicht, wenn sie die Digitalisierungsnotwendigkeit erkannt haben und mit ersten Schritten befasst sind. Die Telekom hat zahlreiche Einstiegslösungen im Angebot, die schon eine Menge leisten – und diese lassen sich innerhalb kürzester Zeit implementieren. Mit unserem OnlineStore-Bundle für die Gastronomie zum Beispiel können Restaurants in nur zwei Stunden einen webbasierten Take-Away-Service einrichten, mitsamt kontaktlosem Bezahlsystem. Oder nehmen Sie unsere HomeOffice-Pakete für Angestellte und Freiberufler: Da gibt’s drei verschiedene, vom einfachen Starter-Paket über das Sorgenfrei-Paket bis zum Power-Paket mit Webex-Meetingsoftware und -hardware – sie alle können binnen 48 Stunden nach Bestellung einsatzbereit sein.

Home-Office ist ein gutes Stichwort: Die Corona-Pandemie hat die Akzeptanz für das Arbeiten von Zuhause aus drastisch erhöht; es ist verbreitet wie nie zuvor. Wird das so bleiben? Wird Home-Office vielleicht sogar bald der Normalfall in der Büroarbeitswelt sein?

Rickmann: Heimarbeit hat zahlreiche Vorzüge, sowohl für Unternehmen als auch für Angestellte. Sie macht einen Betrieb unabhängiger von äußeren Einflüssen, sie steigert die Mitarbeiterzufriedenheit und sie erspart Pendlern die Pendelei. Insofern schont Heimarbeit auch die Umwelt. Unser Konzern setzt seit Beginn der Pandemie in großem Stil auf Heimarbeit: Beim ersten Lockdown wurden innerhalb einer einzigen Woche rund 16.000 Telekom-Mitarbeiter auf Home-Office umgestellt. Bisher hat das sehr gut funktioniert. Aber Home Office hat erwiesenermaßen auch Nachteile. Zum Beispiel leidet die teaminterne Zusammenarbeit bei Projekten, und Brainstormings per Video-Schalte sind einfach deutlich weniger effektiv als Face-to-Face-Meetings. Umfragen zeigen außerdem, dass viele Angestellte mit reiner Home-Office-Arbeit nicht glücklich sind. Ihnen fehlt die Interaktion mit Kollegen. Einige haben für sich auch festgestellt, dass Arbeit und Freizeit sich im Home Office stärker miteinander verquicken, als ihnen das lieb ist. Ich glaube daher nicht, dass Heimarbeit bald der Normalfall sein wird. Sie wird aber künftig einen höheren Anteil in der Arbeitswelt haben. Hybride Arbeitsmodelle, die aus Präsenzarbeit und aus Home-Office-Arbeit bestehen, sind die Zukunft.

Abschließend – was sollte die Wirtschaft Ihrer Ansicht nach aus der Corona-Krise gelernt haben? Oder anders gefragt: Was möchten Sie Unternehmen und Angestellten als Botschaft mit auf den Weg geben?

Rickmann: Meine Botschaft für Unternehmen lautet: Lassen Sie sich von der Lage der Dinge nicht entmutigen! Ich weiß, dass es derzeit viele Betriebe im Land gibt, die um ihre Zukunft bangen – sicher zurecht, ich will da nichts beschönigen. Der deutsche Mittelstand hat aber immer schon die Fähigkeit gehabt, sich in Produktion, Logistik und Vertrieb schnell auf aktuelle Gegebenheiten einstellen zu können, und das kann er auch in Corona-Zeiten. Es gibt so viele Beispiele, die das belegen. Während der ersten Welle der Pandemie war von Spirituosenherstellern zu lesen, die ihre Produktion auf Desinfektionsmittel umstellten, weil ihnen der Absatz in Gaststätten fehlte, und von Automobilzulieferern, die mit Schläuchen für Beatmungsgeräte Umsatz generierten. Der Schlüssel zu solchen Adaptionen ist Digitalisierung. Sie ist nicht nur ein Motor für das Kerngeschäft, sondern auch die Basis für Optimierungen, die über das eigene Produkt oder die eigene Dienstleistung hinausgehen und die Erschließung neuer Geschäftsfelder ermöglichen. Und meine Botschaft für Angestellte lautet: Unterstützen Sie Ihren Arbeitgeber, indem sie Ideen zur Unternehmensentwicklung beisteuern! Ich weiß von einem Messebauer, der sich mit seiner Kompetenz für Holzverarbeitung ein zweites Standbein im Gewerbeimmobilien-Innenausbau errichtet hat und so durch die Corona-Krise kommt. Das war nur deshalb möglich, weil die Mitarbeiter kreativ geworden sind und bei ihren persönlichen Kontakten nachgefragt haben, ob es irgendwo Bedarf für diese Art von Arbeit gibt.

Herr Rickmann – wir bedanken uns für das Gespräch!

Corona-Pandemie: Virologe Alexander Kekulé hält Lockdown-Verlängerung für nicht sinnvoll

Stefan Groß-Lobkowicz9.12.2020Medien, Wissenschaft

Der Lockdown hat Deutschland fest im griff, die Todeszahlen steigen und die Ohnmacht der Bundesregierung bei der Bewältigung der Corona-Pandemie wird immer offensichtlicher. Eine Glosse von Stefan Groß-Lobkowicz.

Deutschland probt den Ausnahmezustand. Mal wieder! Der Lockdown geht in die Verlängerung auf unbestimmte Zeit. Seit fast einem Jahr fährt das Land, wie einst in der Schwerindustrie im Ruhgebiert, die Öfen und Motoren des Wirtschaftens und damit des gesellschaftlichen Lebens herunter. Inmitten des Winters friert das Emotionale noch mehr ein. Der ohnehin graue Winter drückt mit Corona noch einmal in die Stimmungsgelage einer kränkelnden Gesellschaft, die immer mutloser wird und deren einstige Vitalität sich zusehends erschöpft.

Und der „Lockdown light“ zeigt wenig Wirkung, die Todeszahlen steigen exponentiell und die Last des Virus drückt beklemmend auf die Seelenlandschaft der Individuen. Noch nie war die Selbstmordrate so hoch wie in diesen Zeiten, die für viele sowohl familiär, existentiell und wirtschaftlich ein Szenario darstellt, das an Finsternis und Düsterheit, ja, an Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit kaum zu überbieten scheint. Die familiäre Gewalt wächst graduell zu den verlängerten strengen Regularien, die Jugend ist sich ihres Lebensoptimismus unsicherer, die Alten vegetieren in Pflegeheimen jenseits häuslicher Nähe und liebevoller Umarmung – jenseits jeglichem Trost. Die Würde des Sterbens verkommt und der Tod banalisiert sich ein einer anonymen Sterbeindustrie, die nur noch reagieren, nur noch das Leichentuch zu spannen vermag. Der Tod wird zum bitteren Gesellen – und die Einsamkeit auf den Sterbestationen gleicht einem horror vacui, weil es nur das Nichts ist, das die Einsamkeit umspült.

Die Schockstarre bleibt bis zum 10. Januar. Doch dabei wird es nicht bleiben. Corona schiebt sich unaufhaltsam in die Zukunft. Restaurants, Museen, Theater und Freizeiteinrichtungen haben die Lichter ausgeschaltet, eine beunruhigende Ruhe nebelt das Land in den Winterschlaf.

Der Zickzackkurs der Bundesregierung

Bei all dem Pessimismus, der in den Wintertagen Deutschland eisern in Griff hält, hat nun der Münchner Virologe Alexander Kekulé davor gewarnt, den Teil-Lockdown zu verlängern. Derartige Maßnahmen greifen nur, wenn sie gerade beschlossen würden. Eine Verlängerung würde in der Regel keine stärkere Bremsung bewirken. Kekulé wirft in Sachen rigider Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung eine Art moderierender, auf Sicht fahrender Vorgehensweise vor, die mit einem Zickzackkurs die eigene Ohnmacht und Regielosigkeit bei der Bewältigung der Corona-Pandemie durch eine lavierende Unentschlossenheit zu kompensieren sucht. Entweder man macht einen Teil-Lockdown oder einen kompletten. Man muss sich hier zwischen Pest und Cholera letztendlich entscheiden. Eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen speziell für die Weihnachtstage sei aber nicht sinnvoll, „weil wir damit gerade diejenigen nicht mitnehmen würden, die sowieso schon nicht mehr mitmachen bei den Maßnahmen.“ Er selbst setzt auf ein schärferes Vorgehen und betont, dass es nur zehn Prozent der Bevölkerung seien, die die Corona-Maßnahmen ignorierten und damit die Zahlen hochhalten. Die Corona-Maßnahmen-Verweigerer müssten jedoch in ein Lockdown-Konzept integriert werden; man muss sie einkalkulieren und die Strategien daraufhin fokussieren. Gelingt das nicht, bleibt nicht nur dieses Weihnachtsfest für viele Menschen ein vielleicht noch einsameres als es das schon viel zu oft war.

Hintergrund

Am vergangenen Mittwoch hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) darauf  verständigt, den Teil-Lockdown mit geschlossenen Restaurants, Museen, Theatern und Freizeiteinrichtungen bis zum 10. Januar zu verlängern. Zunächst sollte der Shutdown bis kurz vor Weihnachten verlängert werden.

ARD-Volontäre würden mit absoluter Mehrheit die Grünen wählen

Stefan Groß-Lobkowicz3.12.2020Medien, Politik

Die nächste Generation von Journalisten bei ARD und Deutschlandradio wählt überwiegend Grüne, Linkspartei und SPD. Dies ist das Ergebnis einer Befragung von ARD-Volontären unter dem Journalistennachwuchs des Rundfunkverbundes und dem Deutschlandradio.

Seit Gründung der Bundesrepublik ist ein spürbarer Drall nach links in den Medien zu verzeichnen. Diesen Trend hatte auch die Flüchtlingskrise und die Corona-Pandemie nicht gravitätisch verändern mögen. Nach wie vor verfängt im Gewand des Journalismus des 21. Jahrhunderts der gute alte Geist der 68er. Er weht gleichsam progressiv wie veränderungswütig, oft einseitig und borniert, durch die Reihen des publizistischen sowie journalistischen Nachwuchses. Diese hohe Affinität zu Rot-Rot-Grün, so Publizistik-Professor Gregor Daschmann, hatte eben seine Anfänge im Revoluzzer-Geist der Studentenrevolution der Nachkriegsära. Das Gros der damaligen Linken war, wenn es nicht Hörsäle stürmte, Barrikaden aufrichtete oder Autos der gehassten Springerpresse anzündete, damals mit der Überzeugung in den Journalismus gegangen, die Welt zu verändern – und dies am besten mit Tinte und Schreibmaschine, die links intellektuelle Weltrevolution vor Augen. Selbst nach fünfzig Jahren hat sich diese Einstellung nicht verändert – dieser Idealismus ist immer noch tief im Journalismus verankert. „Es ist wohl vor allem das Berufsbild der öffentlich-rechtlichen Journalist*innen, das eher Menschen mit einer linken und grünen Haltung anzieht.“

Gerade junge Journalisten der Öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind es im Jahr 2021, die sich politisch immer mehr in Richtung grün ausrichten. 60 Prozent der künftigen Medienmacher sind weiblich, 30 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Die meisten von ihnen, 95 Prozent, bringen einen Studienabschluss mit und kommen aus einem Akademikerhaushalt. Die Journalisten von morgen sind zudem keine Landeier, sondern rekrutieren sich aus den Großstädten mit über 100.000 Einwohnern, vorzugsweise aus Berlin oder München.

Laut Umfragen von „Die Welt“ und „Journalist verortet sich die neue Generation an den Schreibtischen der

Neue Berater-Affäre: Ursula von der Leyen in der Kritik – Berater-Affäre belastet die EU-Chefin

Seit einem Jahr ist Ursula von der Leyen die wichtigste Frau in der Spitze Europas. Doch es droht neues Ungemach. In Deutschland wurde sie dafür kritisiert, dass sie Unsummen für Berater ausgab. Um ihren „Green-Deal“ durchzusetzen, hat sie nun einen neuen Deal mit Blackrock eingefädelt. Doch in Brüssel regt sich Unwille.

Eigentlich sollte sie es gar nicht werden – Kommissionspräsidentin. Doch Angela Merkel (CDU) und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatten sich durchgesetzt und dem vom EU-Parlament favorisierten EVP-Chef Manfred Weber (CSU) nicht als Nachfolger von Jean-Claude Juncker zum höchsten Mann Europas gekrönt.

Das war eine herbe Niederlage für die Demokratie und seitdem wird das Spitzenkandidatenmodell noch kritischer hinterfragt. Zudem blieb ein spürbarer Riss zwischen Europäischem Parlament, Europäischer Kommission und Europäischem Rat. Und der lässt sich auch nicht so schnell wieder kitten. Nicht nur in Brüssel ist das Vertrauen in die Demokratie und beim Kampf um hohe Funktionsposten deutlich erschüttert. Auch die deutsche Ratspräsidentschaft unter Kanzlerin Angela Merkel, ihre zweite, kann derzeit nicht überzeugen. Sicherlich, die Coronakrise hat die deutschen Ambitionen ausgebremst, Europa wieder weiter zu vereinen und endlich die Frage nach einem der Hauptstreitpunkte der EU, dem Verteilungsschlüssel von Migranten, zu lösen. Doch der verbleibende letzte Monat wird an der deutsch-europäischen Stagnation nichts mehr ändern. Schade für die ambitionierte Europäerin Merkel, die zum Ende ihrer Amtszeit kein transnationales Zeichen einmal mehr setzen konnte. Deutschland hat die wichtige Ratspräsidentschaft ungenutzt verstreichen lassen. Unterdessen gerät die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem neuen Beratervertrag wieder unter Beschuss. Wiederholt sich Berlin in Brüssel wieder?

Die Urvertraute Merkels

Vor einem Jahr hatte Merkel noch ihre Urvertraute ins Amt von Europas wichtigsten Posten gehoben und damit dem Kurs der Kanzlerin auf europäischen Boden Rückhalt gegeben. Dabei war die ehemalige Familienministerin, Bundesarbeitsministerin und spätere Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bis zuletzt nicht unumstritten. Anders als Karl Theodor zu Guttenberg hatte sie nicht wirklich Rückendeckung in der Truppe. Gender, Uniformen, Kindergärten und Frauenquote waren zu randständig für die Berufsarmee. Den zunehmenden Rechtsextremismus, wie bei Franco A, kommentierte von der Leyen damals als „Haltungsproblem“. Die Durchsuchung von Kasernen und auch Büros nach Wehrmachtsdevotionalien wurde von vielen als Entgleisung empfunden, ein Vertrauensbruch, der nicht mehr zu heilen war. Was die Bundeswehr von damals auszeichnete, war vor allem eins, dass sie kampfunfähig war. Flugzeuge waren nicht einsatzbereit, die Moral der Truppe am Boden oder teilweise infiltiert mit rechtem Gedankengut.

„Man darf froh sein, wenn etwas fliegt, fährt, schwimmt oder schießt in dieser Armee“, schrieb damals Ulrich Berls. Und der scheidende US-Präsident Donald Trump hielt den Zustand der deutschen Armee für einen Skandal. Darüber hinaus zeigte der Sanierungsfall „Gorch Fock“ die Abgründe des Ministerial- und Instandsetzungswesens noch tiefer auf. Die Instandsetzung des Segelschulschiffes hatte sich zu einem Millionen-Krimi entwickelt. Aus 10 Millionen Euro wurden durch Fehlplanungen und Missmanagement 135 Millionen Euro.

Neben viel Kritik hatte von der Leyen auch positive Akzente gesetzt – gerade bei der internationalen Sicherheitspolitik. Sie verstärkte die Rolle Deutschlands als verlässlicher Partner der NATO und untermauerte, dass die Bundeswehr in Europa weiterhin als verlässlicher Verbündeter gilt. Von der Leyen hatte das schwierige transatlantische Verhältnis versucht wieder zu glätten und der deutsch-französischen Partnerschaft neuen Schwung verliehen. Dieses kontinuierliche außen- und sicherheitspolitische Engagement letztendlich hatte viele der 27 ausländischen Staats- und Regierungschefs letztendlich überzeugt, sie als Präsidentin der Europäischen Kommission zu nominieren.

Kurz bevor von der Leyen ins höchste politische EU-Amt geschoben wurde, hatte sie einen Untersuchungsausschuss im Bundestag erfolgreich ausgesessen. Auch die Affäre um die Löschung von wichtigen Daten auf ihrem Handy hatte sie überlebt wie zuvor eine Plagiatsaffäre. Der damalige Untersuchungsausschuss hatte der im belgischen Elsene 1958 geborenen Politikerin nachgewiesen, dass sie in ihrer Zeit als Bundesministerin der Verteidigung (2013 bis 2019) ein System der Vetternwirtschaft etabliert hatte. Den Steuerzahler kostete dies, so der Bundesrechnungshof, einen dreistelligen Millionenbetrag kostete. Profiteur war der Beratungsriese McKinsey. Letztendlich verlief  in Deutschland alles glimpflich, die „Gorch-Fock-Affäre“ eingeschlossen – zumindest karrieretechnisch für von der Leyen.

Emily O’Reilly kritisiert Deal mit Blackrock

Doch Europa ist mehr Weltbühne und von der Leyen kann nicht mehr ganz unbeschwingt auf die schützende Hand der Kanzlerin zählen, der Welpenschutz ist ausgelaufen. Nun hagelt es Kritik ausgerechnet von einer Frau – Emily O’Reilly. Die Irin Emily O’Reilly ist EU-Bürgerbeauftragte und sie kritisierte die Vergabe eines Auftrags der EU-Kommission an BlackRock. Ausgerechnet der größte Investmentfonds der Welt soll der Kommission Vorschläge machen, wie europäische Banken dazu gebracht werden, stärker in nachhaltige Energien statt in Kohle, Gas und Öl zu investieren. Es geht um nichts anderes als um von der Leyens Prestige-Projekt, den „Green Deal“. Eine Billion Euro will die Klimaschützerin von der Leyen im Kampf gegen die Erderwärmung investieren. O’Reilly hingegen moniert, das BlackRock als größter Anteilseigner an vielen europäischen Großbanken, darunter Deutsche Bank, Société Générale, Unicredit, ING, gar kein Interesse daran habe, in nicht fossile Energien zu investieren. Auch die Nichtregierungsorganisation „Change Finance“ klagte in einem offenen Brief an von der Leyen, dass hier „der Bock zum Gärtner gemacht wird“.

Hinter der Kritik der EU-Bürgerbeauftragten steckt aber noch mehr: Es geht um nichts anderes als um den Ausverkauf der demokratischen Kontrolle über die Wirtschaft. Der viel gehypte „Green Deal“ wäre dann nichts anderes als ein Propaganda-Coup, der vor allem privatwirtschaftlichen Interessen dient.

Derartige Machenschaften kann sich aber die Kommissionspräsidentin eigentlich nicht leisten. Unter ihrer Ägide als Verteidigungsministerin hatte sie für ihre Idee, die Bundeswehr „attraktiver“ und familienfreundlicher zu machen, Katrin Suder von McKinsey abgeworben. Was folgte war eine Millionensause für Suders Beraterfreunde. Dem Ansehen beider Frauen hat das in Deutschland nachhaltig geschadet. Erst die amtierende Verteidigungsministerin, die geradlinie CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer, hatte das Berater-Unwesen als rufschädigend im Ministerium beendet. Will Ursula von der Leyen politisch ihre Glaubwürdigkeit bewahren, muss sie den BlackRock-Deal beenden. Dass derartige Verstrickungen ihrem Ansehen schaden, müsste sie eigentlich aus ihren Berliner Jahren gelernt haben. Nur jetzt fragen sich nicht mehr nur 80 Millionen Deutsche wessen Interessen die wichtigste Frau Europas vertritt, sondern fast 500 Millionen EU-Bürger.

Samoa meldet ersten Corona-Fall

Stefan Groß-Lobkowicz20.11.2020Medien, Politik

Fast hätte es das Coronavirus nicht an das Ende der Welt geschafft. Doch nun meldet Samoa die erste Corona-Infektion. Für die Inselgruppe ist das nun eine Katastrophe. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Idyllisch liegt Samoa in Polynesien inmitten des Südpazifiks. nach Australien ist es näher als zum südamerikanischen Festland. Und die Inseln sind ein Paradies der Abgeschiedenheit. Strände, vorgelagerte Riffe, ein wildes, von Regenwald bedecktes Landesinneres mit Schluchten und Wasserfällen, prägt das Eiland. Fast 200.000 Menschen leben auf den Inselgruppen. Und eines kannten die Insulaner, die ihre traditionellen Bräuche pflegen, vom Fischfang und auch von einem ökologischen Tourismus leben und profitieren, bislang nicht – Corona. Selbst um das weit gelegene Australien scheint die Pandemie derzeit einen großen Bogen zu machen. Wie in Taiwan sind die Corona-Zahlen rückläufig und viele denken nicht im Traum daran, sich möglicherweise gegen Covid-19 impfen zu lassen. Doch ausgerechtet der einzige Fall, der die Insulaner in helle Aufregung versetzt, kam mit dem Flugzeug aus dem Land, das für die Oper von Sydney, das Great Barrier Reef, für eine einzigartige Fauna und Flora bekannt ist.

Bislang wurde Samoa von Corona verschont

In Samoa ist das ein wenig anders. Selbst der Regierungschef Tuilaepa Sailele Malielegaoi ist alarmiert. Die Insulaner blieben bislang von SARS-CoV-2 verschont. Doch nun wurde der Traum vom Corona-freien Paradies erst einmal erschüttert. Ein Mann wurde in einer Quarantäneeinrichtung für Reisende positiv auf das Virus getestet. Und Tuilaepa Sailele Malielegaoi fügt bitter hinzu: „Damit kommen wir nun auf die Liste der Länder, die das Coronavirus haben“

Das Inselparadies reagierte schnell mit strikter Abschottung

Dass sich das Coronavirus gegenüber dem Rest der Welt nicht so schnell verbreiten konnte, liegt vor allem am Sicherheitskonzept der Pazifikinsel. Wie auf dem Urlaubsparadies Fernando de Noronha vor der brasilianischen Küste, wo Urlauber derzeit nur einreisen dürfen, wenn sie schon mit dem Coronavirus infiziert wurden, hatte sich Samoa und andere pazifische Inselstaaten zu Beginn der Pandemie rasch isoliert und ihre Grenzen geschlossen. Da spielt es auch keine Rolle, ob die Tourismusbranche massive Rückgänge bei Buchungen in Kauf nehmen musste. Scchon früh hatte sich die Pazifikinsel radikal abgeschottet, weil ihr Gesundheitssystem auf einen großen Ausbruch von Corona mit einer Vielzahl von Kranken und möglichen Toten nicht ausgerüstet uns vor allem vorbereitet sind. Schmerzlich erinnert man sich noch an eine Masernepidemie Ende 2019. Insgesamt 83 Menschen waren auf Samoa daran gestorben, vor allem Babys und kleine Kinder. Dieses Horrorszenario wünschte man sich nicht mehr zurück.

Doch dass die Insel trotz aller Sicherheitsmaßnahmen immer weiter in den Fokus des Virus rückte, zeichnete sich in den letzten Wochen bereits ab. Zuletzt hatten Vanuatu, die Salomonen und die Marshallinseln ers­te Corona-Fälle gemeldet. Die abgelegenen Inselstaaten und Territorien Kiribati, Mikrone­sien, Nauru, Palau, Tonga und Tuvalu sind dagegen immer noch virenfrei.

Ausgerechnet ein Matrose hat die Corona-Negativ-Bilanz außer Kraft gesetzt

Bei der ersten Person, die mit dem hochinfektiösen Coronavirus auf Samoa infiziert war, handelte es sich um einen Matrosen. Er war von einer Rückholaktion mit einem Flugzeug aus dem neu­seeländischen Auckland ins Land gekommen. Vor dem Abflug wurde er noch negativ auf das Coronavirus getestet. Regierungschef Tuilaepa Sailele Malielegaoi hofft, dass es der einzige Fall im Paradies bleiben wird. Bei mehr Fällen würde die Insel kapitulieren. Und davor hat man große Angst inmitten der Wellen des Pazifiks

Löw und Trump wollen einfach nicht gehen

Stefan Groß-Lobkowicz19.11.2020Medien, Politik, Sport

Nach dem Fußball-Desaster gegen Spanien ist es jetzt amtlich – Jogi Löw bleibt Bundestrainer der Deutschen Fußball-Elf. So wurde es nach der historischen 0:6-Klatsche gegen Spanien beim Krisen-Gipfel mit DFB-Präsident Fritz Keller (63), Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff (52) und Co-Trainer Marcus Sorg (54) am Münchner Flughafen beschlossen. Das Elend geht also in die nächste Runde und die Welt schaut wie bei Donald Trump zu. Doch Löw müsste nun eigentlich selbst die Reißleine ziehen. Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.

Der eine stammt aus New York, der andere aus dem besinnlichen Schönau im Schwarzwald. Doch beide Männer, der Noch-US-Präsident Donald Trump und der deutsche Bundestrainer Jogi Löw haben eins gemeinsam – sie klammern mit allen nur erdenklichen Mitteln an ihren Posten. Fehlbesetzungen waren sie, so sind sich Kritiker einig, eigentlich immer gewesen. Doch der immer ein wenig traurig und romantisch dreinblickende Löw und sein agiles Gegenteil, der impulsive, vor Kraft und Stärke strotzende Twitterkönig aus den USA – Trump wissen nicht, wann die Stunde schlägt oder wem sie bereits geschlagen hat. So darf sich Löw, mittlerweile 60 Jahre, weiter durchwursteln. Trump versucht das auch – doch er verspielt mit dieser kindischen Art eines krampfhaften Festhaltens an der Macht mittlerweile jedwede Würde. Wenn der Republikaner nicht aufpasst, wird einzig und allein die Rolle der beleidigten Leberwurst an ihm und seiner Amtszeit für künftige Generationen kleben bleiben. Dabei war seine Bilanz gar nicht so schlecht. Immerhin hat er als einziger US-Präsident der vergangenen Jahre keine Kriege vom Zaun geledert, sondern zieht seine Elite-Einheiten zur Hälfe aus den Krisengebieten, dem Irak und Afghanistan, ab. Damit erfüllt Trump immerhin noch ein Wahlversprechen, sein letztes womöglich.

Woher beide ihren Willen beziehen, wenn sie doch scheitern oder miserable Leistungen wie Jogi Löw nach der 0:6 Pleite gegen Spanien abliefern, bleibt ihr Geheimnis. Das sieht zumindest der „Kicker“ bei Löw so. Auch in der „FAZ“ findet man bittere Zeilen über das Urgestein aus dem Schwarzwald. „Im Erfolg, heißt es gerne, mache man die größten Fehler. Weil zu lange an dem festgehalten wird, was funktioniert hat, weil vor allem nicht mehr hinterfragt wird, warum etwas Erfolg gebracht hat. Der Selbstbetrug rund um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft geht deshalb einher mit dem aufsehenerregendsten Sieg, den das Team seit dem WM-Sieg 1954 errungen hat. Im Halbfinale der WM 2014 besiegte Deutschland den WM-Gastgeber Brasilien 7:1. Ein paar Tage später wurde der vierte WM-Titel im ganzen Land gefeiert. Seitdem geht es bergab. Weil manche Frage gar nicht mehr gestellt werden durfte.“

Das Löw seine Leistungen zunehmend – wie jenseits des Atlantiks Donald Trump – überschätzt und die Mannschaft derzeit eher unter dem Bundestrainer leidet, als von ihm zum Erfolg geführt zu werden, kann sich auch der „Tagesspiegel“ nicht verkneifen. „Womöglich hat Löw sich und seine Fähigkeiten überschätzt, als er nach der vermaledeiten WM im Amt geblieben ist; als er angeblich noch genügend Kraft und Energie und Lust auf einen Neuanfang verspürte. In ihrer sportlichen Entwicklung ist die Mannschaft seit 2018 nicht entscheidend vorangekommen. Im Gegenteil: Die Kritik will einfach nicht verstummen.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ spricht von einer Erosion seiner Trainerkunst. Löw ist angezählt und wie er auch entscheidet, er wird es keinem mehr recht machen. „Man wird ihm vorhalten, dass er Hummels, Boateng und Müller nicht beruft, und man würde es ihm auch vorhalten, wenn er sie wieder beriefe. Seine Spieler werden es spüren, das Vertrauen in seine Trainerkunst wird erodieren.“ Und „Der Spiegel“ setzt noch eines drauf. Das Nachrichtenmagazin spricht von einer fatalen Selbstzufriedenheit, in die sich das deutsche Team nach dem Titelgewinn 2014 eingenistet habe, in eine „Selbstzufriedenheit, die selbst das Vorrundenaus bei der WM 2018 nicht nachhaltig hat erschüttern können. Nach dem Russlanddebakel war viel von einer radikalen Fehleranalyse die Rede gewesen. Aber diese Analyse war allein verbalradikal, sie ging, zumindest soweit sie öffentlich kommuniziert wurde, niemals an die Wurzel.“

Jogis Niederlage beim herabwürdigen 0:6 gegen die Spanier würde nicht einmal mehr der glorreiche Donald Trump in einen Sieg verwandeln können. Zuletzt hatte 1909 eine deutsche Nationalmannschaft so hoch verloren.

Fazit zu Jogi Löw: Das wird nichts mehr mit dir und dem Fußball. Und die Mehrheit der Fans sehnt sich ehedem nach einem Neuanfang. Vielleicht sucht Donald Trump, bis er im Jahr 2024 wieder für das Amt des US-Präsidenten kandidieren wird, noch einen Coach. Dann aber müsste Jogi Löw noch mehr golfen als Trump, der seine Niederlage auf dem Golfplatz einlochen musste. Egal, wo der neue Bundestrainer spielt, er hat den Ball eh schon verloren.