Vom NS-Hinrichter zum Rechts-Professor Vor dreißig Jahren, am 30. April 1994, starb in Marburg an der Lahn ein allseits geschätzter Bürger, der in der Nazizeit als Kriegsgerichtsrat Todesurteile fällte und nach dem Krieg zum ehrenwerten Rechts-Professor aufstieg: Erich Schwinge. Helmut Ortner über eine exemplarische Täter-Karriere in der frühen Bundesrepublik. An einem schwülen Sommertag im August 1984 betritt ein korrekt gekleideter Herr mit randloser Brille das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in der Wiener Wipplingerstraße, stellt sich dem Archivleiter als der emeritierte Rechtsprofessor Erich Schwinge aus Marburg in der Bundesrepublik vor und ersucht um Einsicht in die Akte „Reschny, Anton“. Er wird in den Benutzerraum geführt, wo er zwei bis drei Stunden Akten studiert und sich Notizen macht. Er sucht nach dem Namen Reschny, Anton. Dieser, ein Wiener Vulkanisierungslehrling, hatte am 23. August 1944 – gerade eine Woche Soldat und noch nicht über seine militärischen Pflichten belehrt – nach einem Bombenangriff freiwillig bei Räumungsarbeiten mitgeholfen und dabei aus der Wohnung eines Staatsanwalts einen Ring, zwei Uhren, eine Geldbörse und eine leere Brieftasche entwendet. Eine der Uhren schenkte der Siebzehnjährige einem Mädchen, das sie stolz herumzeigte. Sechs Tage nach dem Diebstahl wurde Reschny verhaftet. Am 14. September 1944 verurteilte das Divisionsgericht 177 unter Vorsitz des Kriegsrichters Schwinges den jungen Anton Reschny wegen Plünderung zum Tode. Aus Schwinges Urteilsbegründung: „Der Angeklagte … behauptet, sich der Tragweite seines Tuns nicht bewusst gewesen zu sein. Bei der Festsetzung der Strafe musste unter Annahme eines besonders schweren Falles im Sinne des Abs. 2 und des § 129 Militärstrafgesetzbuches auf Todesstrafe erkannte werden.“ Der Angeklagte habe „im Felde (d. h. im Kriege) unter Ausnützung der Kriegsverhältnisse Sachen, die deutschen Volksgenossen gehören … an sich genommen, in der Absicht, sie sich rechtswidrig anzueignen“. Und weiter: „Kriminelle Elemente, die Lust in sich verspüren, sich am Eigentum vom Bombengeschädigten zu bereichern, müssen wissen, dass sie ihren Kopf riskieren, falls sie dieser Neigung nachgehen; anders können derartige Elemente nicht in Schach gehalten werden.“ »Ein ungewöhnlich diensteifriger und arbeitsamer Richter mit guter Verhandlungstechnik und sicherem Urteil …« Dass Schwinge fast auf den Monat genau vierzig Jahre, nachdem er den Lehrling zu Tode verurteilte, im Wiener Archiv seine eigenen Spuren rekonstruiert, hat seinen Grund. Was Schwinge offensichtlich auf Recherche-Tour treibt, sind Veröffentlichungen über sein Wirken in der NS-Zeit als führender Kommentator des Militärstrafrechts und vor allem als Kriegsrichter in Wien. Zahlreiche Unterlagen und Dokumente darüber hatte der Privatforscher Fritz Wüllner, ein pensionierter Wirtschaftsmanager, entdeckt, als er sich um die Aufklärung des Schicksals eines angeblich „auf der Flucht“ erschossenen Bruders bemühte und dabei ein bislang wenig erforschtes schlimmes Kapitel der NS-Zeit stieß: die Militärjustiz. Wüllner, der in- und ausländische Archive durchforschte, fand so gut wie nichts über seinen Brud

Vom NS-Hinrichter zum Rechts-Professor Vor dreißig Jahren, am 30. April 1994, starb in Marburg an der Lahn ein allseits geschätzter Bürger, der in der Nazizeit als Kriegsgerichtsrat Todesurteile fällte und nach dem Krieg zum ehrenwerten Rechts-Professor aufstieg: Erich Schwinge. Helmut Ortner über eine exemplarische Täter-Karriere in der frühen Bundesrepublik.  An einem schwülen Sommertag im August 1984 betritt ein korrekt gekleideter Herr mit randloser Brille das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in der Wiener Wipplingerstraße, stellt sich dem Archivleiter als der emeritierte Rechtsprofessor Erich Schwinge aus Marburg in der Bundesrepublik vor und ersucht um Einsicht in die Akte „Reschny, Anton“. Er wird in den Benutzerraum geführt, wo er zwei bis drei Stunden Akten studiert und sich Notizen macht. Er sucht nach dem Namen Reschny, Anton. Dieser, ein Wiener Vulkanisierungslehrling, hatte am 23. August 1944 – gerade eine Woche Soldat und noch nicht über seine militärischen Pflichten belehrt – nach einem Bombenangriff freiwillig bei Räumungsarbeiten mitgeholfen und dabei aus der Wohnung eines Staatsanwalts einen Ring, zwei Uhren, eine Geldbörse und eine leere Brieftasche entwendet. Eine der Uhren schenkte der Siebzehnjährige einem Mädchen, das sie stolz herumzeigte. Sechs Tage nach dem Diebstahl wurde Reschny verhaftet. Am 14. September 1944 verurteilte das Divisionsgericht 177 unter Vorsitz des Kriegsrichters Schwinges den jungen Anton Reschny wegen Plünderung zum Tode. Aus Schwinges Urteilsbegründung: „Der Angeklagte … behauptet, sich der Tragweite seines Tuns nicht bewusst gewesen zu sein. Bei der Festsetzung der Strafe musste unter Annahme eines besonders schweren Falles im Sinne des Abs. 2 und des § 129 Militärstrafgesetzbuches auf Todesstrafe erkannte werden.“ Der Angeklagte habe „im Felde (d. h. im Kriege) unter Ausnützung der Kriegsverhältnisse Sachen, die deutschen Volksgenossen gehören … an sich genommen, in der Absicht, sie sich rechtswidrig anzueignen“. Und weiter: „Kriminelle Elemente, die Lust in sich verspüren, sich am Eigentum vom Bombengeschädigten zu bereichern, müssen wissen, dass sie ihren Kopf riskieren, falls sie dieser Neigung nachgehen; anders können derartige Elemente nicht in Schach gehalten werden.“  »Ein ungewöhnlich diensteifriger und arbeitsamer Richter mit guter Verhandlungstechnik und sicherem Urteil …« Dass Schwinge fast auf den Monat genau vierzig Jahre, nachdem er den Lehrling zu Tode verurteilte, im Wiener Archiv seine eigenen Spuren rekonstruiert, hat seinen Grund. Was Schwinge offensichtlich auf Recherche-Tour treibt, sind Veröffentlichungen über sein Wirken in der NS-Zeit als führender Kommentator des Militärstrafrechts und vor allem als Kriegsrichter in Wien. Zahlreiche Unterlagen und Dokumente darüber hatte der Privatforscher Fritz Wüllner, ein pensionierter Wirtschaftsmanager, entdeckt, als er sich um die Aufklärung des Schicksals eines angeblich „auf der Flucht“ erschossenen Bruders bemühte und dabei ein bislang wenig erforschtes schlimmes Kapitel der NS-Zeit stieß: die Militärjustiz. Wüllner, der in- und ausländische Archive durchforschte, fand so gut wie nichts über seinen Brud