Die vergessenen Kinder der Scheidung – Deutschlands stilles Versagen – Die übersehene Tragödie einer kalten Gesellschaft

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Kein Kind entscheidet sich dafür, geboren zu werden. Kein Kind wählt seine Eltern oder die Umstände, in die es hineingeboren wird. Und doch wird Kindern in unserer modernen Gesellschaft oft das grundlegendste Recht verwehrt – das Recht auf eine stabile, liebevolle und sichere Kindheit. Besonders dann, wenn ihre Eltern sich trennen, werden Kinder zu Opfern eines Systems, das ihre Bedürfnisse hinter Paragrafen, Aktenordnern und bürokratischer Gleichgültigkeit versteckt. Kinder geschiedener Eltern sind die unsichtbare Minderheit unserer Zeit – leise leidend, statistisch erfasst, aber menschlich vergessen.

Während über Klimawandel, Migration und Wirtschaftskrisen endlos debattiert wird, bleibt das Schicksal dieser Kinder ein Randthema. Dabei sind sie die zerbrechlichsten Glieder unserer Gesellschaft. Sie tragen die Last von Entscheidungen, die sie nie treffen durften, und ihre Stimmen verhallen in den Korridoren von Jugendämtern, Gerichtssälen und Ministerien. Man spricht über das „Kindeswohl“, doch in Wahrheit geht es viel zu oft um Zuständigkeiten, Fristen und Formulare – nicht um Menschen.

Im Jahr 2024 wurden laut Statistischem Bundesamt rund 129.300 Ehen in Deutschland geschieden. Mehr als die Hälfte dieser Paare – 50,8 Prozent – hatten minderjährige Kinder. Damit waren etwa 111.000 Kinder direkt betroffen. Auch 2023 und 2022 lag die Zahl bei über hunderttausend. Jahr für Jahr also verlieren hunderttausende Kinder den emotionalen Boden unter den Füßen. Diese Zahlen sind mehr als Statistik. Sie sind stille Zeugnisse einer kollektiven Gleichgültigkeit. Denn während Erwachsene neu beginnen, beginnen Kinder zu zweifeln – an Liebe, an Sicherheit, an sich selbst.

Die psychologischen und sozialen Folgen sind tief. Studien zeigen, dass Kinder aus Trennungsfamilien deutlich häufiger unter Angstzuständen, Depressionen, Vertrauensstörungen und schulischen Problemen leiden. Viele verlieren die Fähigkeit, stabile Bindungen aufzubauen. Besonders verheerend ist der Verlust oder die massive Einschränkung des Kontakts zu einem Elternteil – meist zum Vater. Obwohl das deutsche Recht formal die gemeinsame elterliche Sorge vorsieht, zeigt die Praxis ein anderes Gesicht.
Väter verlieren nach der Trennung häufig den Zugang zu ihren Kindern, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil ihnen ein System gegenübersteht, das Misstrauen, Schuld und Strafe besser verwalten kann als Nähe, Dialog und Verantwortung.

Das Jugendamt, das eigentlich Schutz bieten soll, wird in vielen Fällen zu einer Behörde der Angst. Eltern berichten von willkürlichen Entscheidungen, mangelnder Transparenz und fehlender Empathie. Ein falsches Wort, ein Missverständnis – und ein Elternteil wird zum „Problemfall“ erklärt. Kinder werden zwischen Protokollen und Gerichtsbeschlüssen hin- und hergeschoben. Das „Kindeswohl“ wird zu einer juristischen Formel, die ihren Sinn verloren hat. Und während Beamte diskutieren, was gut für das Kind sei, wächst das Kind in einem Klima der Unsicherheit, der Schuld und der Sprachlosigkeit auf.

Die Familiengerichte wiederum handeln in vielen Fällen nach Mustern, nicht nach Menschen. Entscheidungen folgen oft Gewohnheit statt Gerechtigkeit. Das Ergebnis: gebrochene Familien, entfremdete Kinder, verzweifelte Eltern.
Deutschland nennt sich einen Rechtsstaat – aber für viele Trennungskinder ist es ein Land, in dem Gerechtigkeit an Formalitäten scheitert.

Hinzu kommt die soziale Dimension: In einem der reichsten Länder der Erde lebt jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze. Kinder aus Trennungsfamilien sind überdurchschnittlich häufig betroffen. Nach einer Scheidung sinkt das Haushaltseinkommen drastisch, meist zu Lasten der Mütter, die alleine für Betreuung und Beruf kämpfen. Der Staat bietet Programme, doch sie sind kompliziert, bürokratisch, kaum zugänglich. Die geplante Kindergrundsicherung soll verschiedene Leistungen bündeln – ein Schritt in die richtige Richtung, aber kein Durchbruch. Denn Geld allein heilt keine seelischen Wunden. Kinder brauchen mehr als finanzielle Unterstützung. Sie brauchen Zuwendung, Verlässlichkeit und emotionale Sicherheit.

Auch die deutsche Familiengesetzgebung ist im europäischen Vergleich rückständig. Länder wie Schweden, Norwegen und die Niederlande fördern längst flexible Modelle gemeinsamer Elternschaft. Deutschland dagegen klammert sich an ein veraltetes Verständnis von Betreuung, in dem Trennung vor allem Streit bedeutet. Der Kampf um Sorgerecht, Unterhalt und Wohnort des Kindes zieht sich durch Gerichtssäle, oft über Jahre. Das Gesetz soll ordnen – doch es spaltet.
Besonders problematisch ist auch die Aussetzung des Familiennachzugs für Menschen unter subsidiärem Schutz bis mindestens 2027. Damit wird bewusst in Kauf genommen, dass Kinder über Jahre getrennt von Eltern aufwachsen – ein Bruch internationaler Menschenrechtsnormen, wie etwa Pro Asyl betont. Deutschland schützt Grenzen besser als Familien.

Gesetze aber sind nur ein Teil des Problems. Der andere Teil ist das gesellschaftliche Desinteresse. Nach einer Scheidung richtet sich der Blick meist auf die Erwachsenen: Wer zahlt Unterhalt? Wer behält das Haus? Wer hat Schuld?
Doch kaum jemand fragt: Was passiert mit dem Kind, das plötzlich zwei Zimmer hat, aber kein Zuhause mehr?
Was denkt ein Fünfjähriger, der ständig gepackt wird wie ein Koffer? Wie fühlt sich ein Achtjähriges Mädchen, das nicht weiß, bei wem es „richtig“ ist? Was geschieht mit einem Zwölfjährigen, der begreift, dass sein Vater nicht freiwillig verschwunden ist, sondern verdrängt wurde – von einem System, das Liebe in Aktenordnern archiviert?

Deutschland ist ein Land, das Kinder sonntags liebt und montags vergisst.
Die politischen Programme sind voll schöner Worte: „Chancengleichheit“, „Kindeswohl“, „Familienfreundlichkeit“. Doch in der Realität verwalten Behörden das Leid, statt es zu lindern.
Das System kontrolliert, aber es begleitet nicht. Es spricht von Schutz, aber schützt die Strukturen – nicht die Kinder.

Trotzdem gibt es Hoffnung – sie kommt von unten.
Organisationen wie Väteraufbruch für Kinder e.V., STARKE VÄTER e.V. oder der Bundesverband der Väteraufbruch für Kinder kämpfen seit Jahren dafür, dass Kinder beide Eltern behalten dürfen. Sie fordern gerechtere Verfahren, psychologische Begleitung und verbindliche Mediationen. Doch ihr Engagement stößt auf die Trägheit einer Gesellschaft, die lieber wegschaut. Ihr Kampf ist der Kampf Davids gegen Goliath – gegen eine übermächtige Bürokratie, die Menschlichkeit als Störung begreift.

Es ist Zeit, dieses Schweigen zu brechen. Kinder von geschiedenen Eltern brauchen mehr als Paragraphen. Sie brauchen eine Gesellschaft, die sie sieht – nicht erst, wenn sie scheitern.
Jede Scheidung ist eine private Tragödie, aber ihre Folgen sind öffentlich. Diese Kinder sind unsere Zukunft. Wenn wir zulassen, dass sie ohne Halt, ohne Vertrauen, ohne Gerechtigkeit aufwachsen, dann verlieren wir als Gesellschaft nicht nur unsere Moral, sondern unsere Zukunft.

Ein Land, das sich „sozial“ nennt, muss Kinder schützen – nicht Akten.
Ein Staat, der Familien zerreißt, weil seine Gesetze zu starr sind, hat sein Herz verloren.
Kinder haben das Recht auf Liebe, Sicherheit und eine Zukunft – unabhängig davon, ob ihre Eltern zusammenleben oder nicht. Dieses Recht darf nicht länger ein schöner Satz in der Verfassung sein. Es muss Realität werden – in Schulen, Ämtern, Gerichtssälen und in den Herzen der Menschen.
Denn kein Kind sollte Opfer einer Erwachsenenwelt werden, die zu beschäftigt ist, um hinzusehen.

Quellen:

  • Statistisches Bundesamt (Destatis), Scheidungsstatistik 2022–2024
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
  • Pro Asyl, Bericht zur Aussetzung des Familiennachzugs 2023
  • Spiegel Online, „Wie Kinder mit späten Scheidungen umgehen“ (2020)
  • Bundesverband „Väteraufbruch für Kinder e.V.“
  • UNICEF-Bericht zur Kinderarmut in Deutschland (2024)
  • Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Kinderarmutsbericht 2023
Über Hossein Zalzadeh 22 Artikel
Hossein Zalzadeh ist Ingenieur, Publizist und politisch Engagierter – ein Mann, der Baustellen in Beton ebenso kennt wie die Bruchstellen von Gesellschaften. Zalzadeh kam Anfang zwanzig zum Studium nach Deutschland, nachdem er zuvor in Teheran als Lehrer und stellvertretender Schulleiter in einer Grundschule tätig gewesen war. Er studierte Bauwesen, Sanierung und Arbeitssicherheit im Bereich Architektur sowie Tropical Water Management an mehreren technischen Hochschulen. An bedeutenden Projekten – darunter der Frankfurter Messeturm – war er maßgeblich beteiligt. Seine beruflichen Stationen führten ihn als Ingenieur auch in verschiedene afrikanische Länder, wo er die großen sozialen Gegensätze und die Armut unserer Welt ebenso kennenlernte wie ihre stillen Uhrmacher – Menschen, die im Verborgenen an einer besseren Zukunft arbeiten. Bereits während des Studiums engagierte er sich hochschulpolitisch – im AStA, im Studierendenparlament sowie auf Bundesebene in der Vereinten Deutschen Studentenschaft (VDS) – und schrieb für studentische Magazine. In diesem Rahmen führte er Gespräche mit Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Herta Däubler-Gmelin über die Lage ausländischer Studierender. Seit vielen Jahren kämpft er publizistisch gegen das iranische Regime. Geprägt ist sein Schreiben vom Schicksal seines Bruders – Jurist, Schriftsteller und Journalist –, der vom Regime ermordet wurde. Derzeit schreibt er an seinem Buch Kampf um die Menschlichkeit und Gerechtigkeit – ein Plädoyer für Freiheit, Würde und den Mut, der Unmenschlichkeit zu widersprechen.