Ein Kommentar von Stefan Groß-Lobkowicz.
Es gehört zu den bittersten Erfahrungen unserer Gegenwart, dass sich in Deutschland ein gesellschaftlicher Ton breitmacht, der weniger an demokratische Mündigkeit erinnert als an eine unentwegt vibrierende Gereiztheit. Was einst als Stärke galt – nämlich die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, ohne einander existenziell infrage zu stellen – erscheint heute wie eine verblasste Tugend aus einer anderen Epoche. Wir beobachten eine Entwicklung, die sich ohne Übertreibung als Erosion des öffentlichen Gesprächs bezeichnen lässt. Die Bereitschaft, einem anderen zuzuhören, ohne sofort in Alarmbereitschaft zu verfallen, ist rar geworden. Der Diskursraum einer offenen Gesellschaft schrumpft – und an seine Stelle tritt eine Atmosphäre aus Misstrauen, Umsichtlosigkeit und aggressiver Selbstbehauptung.
Wenn Kritik zur Identitätsfrage wird
Arthur Schopenhauer hat in bemerkenswerter Klarheit eine Unterscheidung formuliert, die bis in unsere Gegenwart hineinleuchtet: „Hass ist Sache des Herzens, Verachtung des Kopfs.“ Dieser Satz ist mehr als ein psychologischer Aphorismus. Er beschreibt präzise jene Verwechslung, die unsere gesellschaftliche Kommunikation lähmt. Wir haben verlernt zu unterscheiden, ob wir eine Meinung ablehnen, weil sie schlecht begründet ist, oder ob wir den Menschen ablehnen, der sie äußert. So wird jede Form der Kritik zu einer Frage der Identität – und jede Form der Identität zu einem möglichen Auslöser von Hass.
Was sich heute abzeichnet, ist eine Kultur, in der die Stimme des anderen nicht mehr als Chance empfunden wird, die eigene Erkenntnis zu schärfen, sondern als Angriff auf die persönliche Selbstbeschreibung. Die politische und gesellschaftliche Kommunikation ähnelt immer stärker einem System verletzlicher Empfindlichkeiten, in dem jede Abweichung als Zumutung gilt. Diese permanente Anspannung erzeugt ein Klima, in dem niemand mehr riskieren möchte, als Abweichler zu erscheinen. Und aus der Angst vor Missachtung entsteht eine Spirale gegenseitiger Dehumanisierung.
Hass als abstrakte Kategorie – die neue soziale Dynamik
Aristoteles (384–322 v. Chr.) hat in seiner „Rhetorik“ eine Analyse formuliert, deren Schärfe bis in unsere Gegenwart reicht. Er unterscheidet zwei Grundformen negativer Affekte: den Zorn und den Hass. Zorn (ὀργή), so schreibt er, richtet sich auf Einzelne (ἄτομον) und ist durch Zeit heilbar (ἰᾶται χρόνῳ). Hass (μῖσος) hingegen richtet sich auch auf Gattungen, Arten oder Klassen (γένος) und ist unheilbar (ἀνίατον).
Diese Differenz ist nicht nur begrifflich, sondern gesellschaftstheoretisch entscheidend. Zorn entsteht aus konkreten Verletzungen – aus Krisen, Konflikten, persönlichen Kränkungen. Er bleibt an ein Gesicht gebunden und eröffnet die Möglichkeit einer späteren Befriedung. Hass hingegen verlässt das Feld des Individuellen. Er richtet sich gegen Zuschreibungen: gegen Gruppen, Milieus, politische Lager, religiöse oder kulturelle Identitäten. Er braucht keine konkrete Begegnung mehr, um wirksam zu sein. Wer nicht mehr einen Menschen ablehnt, sondern eine „Gattung“, ermöglicht Entmenschlichung.
Genau das geschieht heute. Der Hass unserer Zeit entzündet sich nicht mehr an Ereignissen, sondern an der bloßen Existenz eines Gegenübers, das man einer feindlichen Kategorie zuordnet. Politische Debatten verlieren ihre argumentative Substanz und folgen der Logik symbolischer Feindbilder. Das Gegenargument wird nicht mehr als Herausforderung verstanden, sondern als Bedrohung. Und aus dieser Bedrohung entsteht eine Feindschaft, die sich kaum noch mildern lässt, weil sie nicht mehr auf etwas Konkretes gerichtet ist.
Die gesellschaftlichen Folgen sind gravierend. In Talkshows dominieren jene Stimmen, die durch Lautstärke statt durch Komplexität überzeugen wollen. In den Sozialen Medien verbreitet sich jede polarisierende Aussage schneller als ein differenziertes Argument. Kommentare werden nicht mehr abgewogen, sondern zu Munition für den nächsten Schlagabtausch. Und in der politischen Arena reagieren Parteien nicht mehr mit Konzepten, sondern mit reflexhaften Abwehrgesten gegenüber jenen Stimmungen, von denen sie sich abhängig gemacht haben.
Das Ergebnis ist ein Land in innerer Zersplitterung. Der Hass, der sich gegen „Gattungen“ richtet – seien es politische Lager, soziale Milieus oder kulturelle Identitäten –, wird zur dominierenden Kraft sozialer Interaktion. Es ist ein Hass, der keinen Adressaten mehr braucht, weil er auf Symbolen ruht: auf Bildern, auf Narrativen, auf Erzählungen. Damit verlagert sich die Auseinandersetzung aus der Wirklichkeit in die Fiktion. In dieser Fiktion kämpft jeder gegen jeden – und jeder fühlt sich bedroht.
Zwischen Empörung und Verständigung
Doch es gibt einen Ausweg, und er beginnt mit einer nüchternen Einsicht: Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Bereitschaft, den anderen auszuhalten. Nicht jede abweichende Meinung ist ein Angriff. Nicht jedes Gegenargument ist eine Kriegserklärung. Und nicht jede Differenz ist ein unüberbrückbarer Graben. Die Fähigkeit, Widerspruch zu ertragen, ist kein Zeichen der Schwäche, sondern der politischen Reife.
Weil Hass eine Bewegung des Herzens ist, lässt er sich nur durch eine geistige Disziplin überwinden, die uns verloren zu gehen scheint: die Bereitschaft, den anderen nicht in seiner Zuschreibung, sondern in seiner Menschlichkeit zu sehen. Dies ist die Grundlage jeder freiheitlichen Ordnung. Und es ist die Bedingung dafür, dass wir die Zukunft nicht verspielen, weil wir die Gegenwart nicht mehr aushalten.
Deutschland steht an einem Punkt, an dem es eine Entscheidung treffen muss: Empörung oder Verständigung. Unheilbarer Hass – oder heilbare Differenz. Die Antwort darauf entscheidet, wie dieses Land künftig miteinander leben wird. Und ob es ein Land bleibt, das trotz aller Spannungen zur Vernunft findet – oder eines, das sich selbst an die Mechanik des Hasses ausliefert.
