Es gehört zu den eigentümlich aufgeladenen Momenten des politischen 20. Jahrhunderts, dass eine Denkerin wie Hannah Arendt – getragen von jener charakteristischen Verbindung aus analytischer Nüchternheit, biographischer Tiefenerfahrung und intellektueller Unabhängigkeit – im Frühjahr und Frühsommer 1961 nach Jerusalem reist, um einem Prozess beizuwohnen, der von Anfang an weniger als juristische Einzelverhandlung, sondern vielmehr als symbolische Selbstbefragung eines Jahrhunderts begriffen werden muss, da sich in diesem unscheinbaren israelischen Gerichtssaal nicht nur das Schicksal eines einzelnen Angeklagten entscheidet, sondern eine Epoche, die sich ihrer eigenen Abgründe bewusst werden soll; und Arendt, die als Beobachterin kommt, nicht als Anklägerin, entwickelt aus diesem Ereignis einen Text, dessen Spannung bis heute nicht nachgelassen hat.
Eichmanns Erscheinung – das Unheimliche der Mittelmäßigkeit
Dass Adolf Eichmann, der zuvor in Argentinien aufgespürt und nach Israel überführt worden war, nicht als dämonische Figur, sondern als äußerlich blasser Bürokrat erscheint, dessen innere Reduktion mit seiner administrativen Selbstgefälligkeit merkwürdig korrespondiert, bildet den Ausgangspunkt ihrer Analyse; eine Analyse, die sich der später berühmt gewordenen Formel von der „Banalität des Bösen“ annähert, indem sie zeigt, dass die zerstörerische Kraft des Jahrhunderts sich nicht notwendig aus der Übersteigerung ideologischer Motive speist, sondern ebenso aus einer Denkfaulheit, die sich in der Routine häuslich einrichtet und die moralische Frage gleichsam an die Mechanik der Abläufe delegiert, wodurch Arendt jene paradoxe, aber erschütternde Einsicht gewinnt, dass das Unheil nicht nur in den Händen der fanatischen Überzeugungstäter liegt, sondern ebenso – und vielleicht nachhaltiger – bei jenen, die sich ohne größere Reflexion der Apparatur ihrer Zeit anvertrauen.
Nüchterne Sprache als analytische Entscheidung
Dass Arendt mit dieser nüchternen Darstellung auf breite Kritik stoßen würde, war absehbar, doch das Ausmaß der Empörung, das ihr Bericht auslöste, zeigt, wie tief die Erwartungen nach moralischer Dramatisierung saßen; Hans Jonas etwa sah in Arendts Ton eine nicht einzulösende Distanz zum Grauen, Gershom Scholem wiederum – ihr langjähriger Freund und Korrespondenzpartner – warf ihr einen Mangel an „Herz“ vor, eine Formulierung, die, wenngleich verständlich im biographischen und historischen Schmerzkontext, nicht die Struktur ihres Schreibens traf, da Arendt, in ihrer Antwort deutlich, hervorhob, dass jede linguistische oder emotionale Überhöhung die Klarheit des Blicks trüben und somit die Wahrheit eher verhüllen als freilegen würde; eine Wahrheit, die sie nicht in Überwältigung, sondern in präziser Darstellung sucht.
Arendt stützt sich maßgeblich auf die damals grundlegenden Werke zur Vernichtungspolitik wie Reitlingers „Die Endlösung“ und insbesondere Hilbergs monumentale Untersuchung „The Destruction of the European Jews“, einem Werk, dessen Quellenfülle und analytische Strenge bis heute unbestritten sind und das sie – nach einer anfänglich skeptischen Einschätzung – zu ihrem wichtigsten Fundament macht; doch die Figur Eichmanns bleibt durch diese Grundlage nicht frei von Ambivalenzen, da die später öffentlich gewordenen Sassen-Protokolle, in denen Eichmann sich vor seiner Entführung als überzeugter Antisemit und aktiver Gestalter der Vernichtung präsentiert, einen Kontrast zur prozessualen Selbstdarstellung bilden, die Arendt beobachtet und analysiert, während Avner Werner Less, der Ermittler, in Eichmanns Aussagen ein taktisches Lügengewebe erkennt, wohingegen Arendt in ihnen primär die Leere eines Menschen sieht, der sich in der bürokratischen Phrase eingerichtet hat.
Bonders heftig wurde über Arendts Kapitel zu den Judenräten gestritten, da sie beschreibt, wie nationalsozialistische Behörden bestehende jüdische Verwaltungsstrukturen – unter Zwang und Täuschung – in die Organisation der Deportationen einbanden, wodurch Arendt jenes „dunkelste Kapitel“ markiert, das die moralische und historische Sensibilität jüdischer Gemeinschaften zwangsläufig berührt, weil die Darstellung eines bürokratischen Mechanismus, in dem Opfer unter extremer Nötigung zu Handlungen gezwungen werden, die sie nie hätten verantworten dürfen, leicht als moralische Bewertung missverstanden werden konnte; doch Arendt betont, dass ihre Analyse weder Anklage noch Distanzierung intendiert, sondern die administrative Perfektion der Vernichtung sichtbar machen will, deren Grauen gerade darin besteht, dass sie die Opfer in eine Struktur einbindet, die ihnen keine Wahl lässt – ein Punkt, den Scholem und andere zwar kritisierten, der aber Arendts methodische Präzision nicht in Frage stellt.
Individuelle Schuld statt kollektiver Verstrickung
In den Vorträgen „Persönliche Verantwortung in der Diktatur“, die Arendt in den Jahren 1964 und 1965 in Deutschland hält, vertieft sie ihre Überzeugung, dass Schuld – im moralischen wie juristischen Sinn – untrennbar an das Individuum gebunden ist und nicht auf Kollektive ausgedehnt werden darf, da das Modell der „Kollektivschuld“ das Verantwortungsgefüge eher verwischt als klärt; Arendt beobachtet dabei, dass in der deutschen Nachkriegsgesellschaft merkwürdige Verschiebungen auftraten: Menschen ohne persönliche Schuld trugen die Last moralischer Selbstbezichtigungen, während zahlreiche Beteiligte an der Vernichtungspolitik ohne sichtbare Reue weiterlebten, weshalb sie betont, dass Eichmann nicht als Teil eines anonymen Getriebes verurteilt wurde, sondern als Person, die Entscheidungen traf, die sie hätte unterlassen können, weshalb seine Berufung auf Befehlsnotstand für sie nicht stichhaltig ist.
Aus der öffentlichen Kontroverse um das Eichmann-Buch heraus entsteht Arendts Essay „Wahrheit und Politik“, in dem sie – ausgehend von der Erfahrung, wie Tatsachenwahrheiten im Streit um Interpretationshoheit deformiert werden können – die Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten, die aus Logik und Denken hervorgehen, und Tatsachenwahrheiten, die aus Dokumenten und Zeugenschaft entstehen, wieder scharf zieht; besonders deutlich hebt sie hervor, dass gerade die Tatsachenwahrheiten in politischen Kontexten der Manipulation, der Verzerrung und dem bewussten Verschweigen ausgesetzt sind, wodurch sie zur verletzlichsten Form der Wahrheit werden, und dass der Eichmann-Prozess wie auch die Reaktionen auf ihre Darstellung ein Beispiel für jene prekäre Zone darstellen, in der politische Interessen, moralische Erwartungen und historische Rekonstruktion unentwirrbar ineinandergreifen.
Vom Ereignis zum Denkmodell – Arendts späte Philosophie
Wenn Arendt später an ihrem großen Spätwerk „Vom Leben des Geistes“ arbeitet, wird der Jerusalemer Prozess – als negatives Modell, als dramatischer Knotenpunkt, an dem die Abwesenheit des Denkens sichtbar wird – zum Leitfaden ihres Nachdenkens über „Denken“, „Wollen“ und „Urteilen“; denn indem sie in Eichmann jene Figur erkennt, der der innere Dialog, das „Zwiegespräch der Seele mit sich selbst“, offensichtlich fehlte, begreift sie das Denken als moralische Grundfunktion, ohne die der Mensch nicht in der Lage ist, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, während das Wollen die Voraussetzung für jede Handlung bildet und das Urteilen – in Anlehnung an Kant – die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen, die Bedingung einer gemeinsam verantworteten politischen Welt ist.
Hannah Arendts Bericht aus Jerusalem ist, trotz seiner historischen Gebundenheit, kein abgeschlossenes Dokument, sondern ein Prüfstein, an dem jede Generation neu abliest, wie sie mit Macht, Verantwortung und Wahrheit umgeht; er zeigt, dass die Moderne nicht allein durch ihre ideologischen Extreme gefährdet wird, sondern durch die Routine, durch die sprachliche Erstarrung, durch jene gedankliche Trägheit, die sich im administrativen Vollzug verankert, und dass das Böse – so unscheinbar es erscheinen mag – gerade in der Abwesenheit des Urteilens seine Wirksamkeit entfaltet, weshalb Arendt nicht Antworten liefert, sondern Fragen offen hält, die sich gegen jede bequeme Gewissheit richten und die bis heute eine unabgegoltene Herausforderung darstellen.
