Die Wirtschaft versinkt in Bürokratie, die Gesellschaft in Kulturkämpfen. Wie soll daraus eigentlich eine Grundstimmung entstehen, in der nicht gleich alles schlecht ist und jeder Versuch, es zu ändern, als sinnlos erachtet wird? Der Glaube an Fortschritt ist verschwunden. Fast alle Krisen der Vergangenheit haben zu einer Konservierung von Bestehendem geführt und somit im Ergebnis zu Rückschritt statt zu Fortschritt. Eine aktuelle McKinsey-Studie hat gezeigt, dass in Deutschland Produktivitätszuwächse nur noch durch inkrementelle Effizienzgewinne entstanden sind, aber nicht mehr durch strukturelle Reallokationsprozesse. Kleinteilige Management-Aufgaben haben disruptive Schumpeter-Prozesse unterdrückt. Trauen wir uns keinen großen Fortschritt mehr zu? Wo ist das Selbstvertrauen hin?
In der derzeitigen Politik steckt wenig Progressivität, stattdessen viel neue Biederkeit. Dass wieder mehr Marktwirtschaft in die Wirtschaftspolitik einzieht, ist sehr zu begrüßen. Falsch aber wäre es, wenn sie alles zurückdrehen wollte, was an Transformation auf den Weg gebracht worden ist. Die Industriepolitik von Habeck war in weiten Teilen falsch, doch die sehr konventionelle Wirtschaftspolitik, die Wirtschaftsministerin Reiche gerade etabliert, wirkt zu wenig ambitioniert. Ähnliches gilt für die Sozialpolitik. Die Wissenschaft hat mittlerweile modernere und klügere Ansätze entwickelt.
Viele der angekündigten Politikmaßnahmen zielen vornehmlich auf eine Erhöhung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit ab: Energiekosten senken, Lohnzusatzkosten begrenzen, Bürokratiekosten verringern. Alles das ist richtig. Allein die preisliche Wettbewerbsfähigkeit durch Kostensenkungen zu stärken, wäre eher eine Form konjunktureller Verteilungspolitik als einer strukturellen Wachstumspolitik. Wenn die Energie-, Sozial- und Bürokratiekosten morgen um zehn Prozent sinken würden, wäre die deutsche Wirtschaft dadurch nicht automatisch zukunftsfähig. Die Ursachen liegen weit tiefer. Die deutsche Wirtschaftskrise ist auch eine Krise der Geschäftsmodelle.
Deshalb darf die notwendige Korrektur der Energiewende nicht darin bestehen, einfach zu mehr fossiler Energie zurückzukehren, die notwendige Reform des Sozial- und Rentensystems nicht allein längere Arbeitszeiten bedeuten und der notwendige Bürokratieabbau nicht einfach nur Vorschriften vereinfachen. Deutschland konnte immer dadurch ein Hochlohnland sein, dass die deutsche Wirtschaft technologisch führend, unternehmerisch innovativ und in den internationalen Lieferketten unersetzbar war.
Ganz wesentlich hat der zweite „China-Schock“ die dominierende Position der deutschen Wirtschaft in der Weltwirtschaft unter Druck gesetzt und damit ihren langen Aufschwung in der Phase der Globalisierung beendet. China ist plötzlich in den „deutschen“ Industrien mindestens auf Augenhöhe und verdrängt viele deutsche Unternehmen in den Wertschöpfungsketten nach „unten“. China hat Deutschland durch die Übernahme der Technologieführerschaft in einen Kostenwettbewerb gezwungen, den es kaum gewinnen kann. Zudem hängt Deutschland bei digitalen Geschäftsmodellen immer noch hinterher. Die neue digitale Ökonomie funktioniert nach gänzlich anderen Organisationsprinzipien als die alte industrielle. Geringere Kosten können industrielle Geschäftsmodelle nicht retten.
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik muss daher unbedingt transformativ bleiben. Das bedeutet, die Energiewende vor allem technologisch anzugehen (China macht es bereits), die Künstliche Intelligenz als Jahrhundertchance zu begreifen (die USA tun es sowieso), die Rentenreform an neue Arbeitswelten und Produktivitätspotentiale anzupassen (sie werden alle heutigen Szenarien über den Haufen werfen), und schließlich den Bürokratieabbau mit einer smarten Regulierung zu verbinden (sonst wird kein Wandel stattfinden). Die heutigen Kostensenkungen dürfen nicht mit den Abschreibungen der Gegenwart bezahlt werden. Im Gegenteil: Echte Reformen refinanzieren sich mit den Renditen des Fortschritts.
Davon ist die Bundesregierung derzeit weit entfernt. Der Bundeshaushalt für 2025, der insgesamt rund 500 Milliarden Euro umfasst, verzeichnet knapp 82 Milliarden Euro an Nettokreditaufnahme. Die Bundesbank hat in ihrem jüngsten Monatsbericht berechnet, dass durch das Sondervermögen und die Lockerung der Schuldenbremse die zusätzliche Verschuldungsmöglichkeit des Bundes rund 69 Milliarden Euro beträgt, von denen aber im aktuellen Haushalt lediglich 16 Milliarden Euro tatsächlich in Infrastruktur und Verteidigung fließen. Die Befürchtung eines „Verschiebebahnhofs“ zwischen Bundeshaushalt und Sondervermögen hat sich also bereits bestätigt.
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik von CDU/CSU und SPD wirkt rückwärtsgewandt. Die Instrumente sind nicht geeignet, den epochalen Wandel zu gestalten und die enormen Zukunftspotenziale zu heben. Es gibt angesichts der sich beschleunigenden Entwicklungen und den erkennbaren Ambitionen der Systemwettbewerber USA und China keine Alternative dazu, deutlich mutiger zu werden. Die groß angekündigte Politikwende muss vielleicht nicht gleich eine geistig-moralische, aber doch eine kulturell-mentale sein, wenn mehr Fortschritt gelingen soll.
Quelle: https://www.cep.eu/
