Seit Jahrzehnten existiert in Deutschland ein politisches Grundproblem, das im Kern eine strukturelle und demokratische Schieflage erzeugt: Bundestagsabgeordnete bestimmen selbst über die Höhe ihrer Diäten, also ihrer eigenen Gehälter. Dieses Prinzip wurde zwar durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975 juristisch legitimiert, aber faktisch bedeutet es eines: Ein Selbstbedienungsmechanismus, der in modernen Demokratien weitgehend einzigartig ist. Denn während in den meisten europäischen Ländern unabhängige Kommissionen oder gesetzliche Mechanismen über Abgeordnetenbezüge entscheiden, hat Deutschland eine Konstruktion, in der diejenigen, die profitieren, zugleich diejenigen sind, die abstimmen.
Diese „Selbstregulierung“ ist in Wahrheit ein Automatismus: Die Diäten steigen jährlich entlang der allgemeinen Lohnentwicklung. Dass diese Kopplung nicht vom Parlament selbst beschlossen wurde, ändert nichts am Kernproblem. Das Ergebnis: Die Distanz zwischen politischer Elite und Bevölkerung wächst weiter – und das sichtbar und messbar.
Seit dem 1. Juli 2025 verdienen Bundestagsabgeordnete monatlich 11.833,47 Euro brutto. Dazu kommt eine steuerfreie Aufwandspauschale von 5.349,58 Euro monatlich, offiziell vorgesehen für mandatsbedingte Ausgaben wie die Zweitwohnung in Berlin und das Wahlkreisbüro. Zusätzlich steht ihnen eine Bürokostenpauschale von bis zu 12.000 Euro pro Jahr zu sowie der freie Zugang zur Deutschen Bahn.
Wichtig: Die Abgeordnetenentschädigung ist seit 1977 steuerpflichtig, aber sie sind von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit. Auch darin unterscheidet sich ihr Einkommen zentral von dem gewöhnlicher Arbeitnehmer, deren Netto- und Altersversorgung durch andere Mechanismen bestimmt werden.
Während der einfache Bürger mit stagnierenden Löhnen, hohen Lebenshaltungskosten und wachsenden finanziellen Belastungen ringt, erhält ein Bundestagsabgeordneter ein finanzielles Gesamtpaket, das sich zu einer privilegierten Absicherung summiert. Pflegekräfte etwa – oft in Teilzeit, oft mit Familienverantwortung – erreichen gerade einmal 1.200 bis 1.500 Euro netto. Vollzeitbeschäftigte im sozialen Bereich überschreiten selten die 2.500-Euro-Marke. Durchschnittsrentnerinnen und -rentner müssen mit 1.200 bis 1.500 Euro im Monat auskommen – ein Betrag, der in keiner Weise mit den Lebensrealitäten der politischen Entscheidungsträger vergleichbar ist.
Besonders brisant wird die Diskussion durch Berichte über hohe Zulagen in einzelnen Fraktionen. Medien berichteten, dass Mitglieder der AfD-Fraktionsspitze wie Alice Weidel und Tino Chrupalla durch interne Zuschläge auf Einkommen von bis zu rund 24.000 Euro im Monat kommen sollen. Solche Berichte heizen die Debatte zusätzlich an – gerade weil eine Partei, die sich selbst als Anwältin der „kleinen Leute“ inszeniert, damit in den eigenen Reihen hohe finanzielle Vorteile nutzt. Unabhängig von der Fraktion wird jedoch deutlich: Das Problem liegt nicht bei einzelnen Personen, sondern in einem System, das die Selbstbegünstigung strukturell ermöglicht.
Neben hohen Diäten kommt noch ein weiterer, besonders kritischer Punkt hinzu: Die Pensionsregelungen der Bundestagsabgeordneten. Bereits nach nur vier Jahren im Parlament erwerben Abgeordnete einen Pensionsanspruch von mehr als 4.300 Euro monatlich. Nach 27 Jahren erreichen sie einen Anspruch von 67,5 Prozent der letzten Diät – ein Niveau, von dem die meisten Bürger nur träumen können. Rentnerinnen und Rentner, die 40 oder 45 Jahre lang in das System eingezahlt haben, erhalten im Vergleich dazu nur einen Bruchteil.
Die Schere zwischen Politik und Bevölkerung ist dadurch nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch zu einem Abgrund geworden. Denn die Mehrheit der Bevölkerung sieht ein politisches Establishment, das zwar von sozialer Gerechtigkeit spricht, aber gleichzeitig ein System aufrechterhält, in dem es selbst maximale Privilegien genießt. Das Vertrauen bröckelt – und zwar tiefgreifend.
Hannah Arendt prägte den Begriff der „Banalität des Bösen“, um zu beschreiben, wie Menschen durch gedankenlose Akzeptanz von Systemen oder Befehlen erhebliches Unrecht ermöglichen können. Auch wenn sich das politische System Deutschlands selbstverständlich nicht mit totalitären Verbrechen vergleichen lässt, ist Arendts Konzept auf einer anderen Ebene alarmierend aktuell: Viele politische Akteure folgen einem System der Selbstprivilegierung, ohne es ernsthaft infrage zu stellen – weil es ihnen nützt.
Der Bund der Steuerzahler, Sozialverbände und politische Gruppen wie Die Linke oder Teile der SPD kritisieren seit Jahren genau das – und fordern eine grundlegende Reform: Eine unabhängige Kommission, die Diäten und Erhöhungen transparent und ohne Eigeninteresse festlegt. Ein Ende steuerfreier Pauschalen ohne Kontrolle. Eine vollständige Offenlegung aller Zusatzleistungen. Ein Rentensystem für Politiker, das nicht völlig entkoppelt von dem der Bevölkerung existiert.
Der internationale Vergleich zeigt, dass es alternative Modelle gibt. Das berühmteste Beispiel ist José Mujica, der ehemalige Präsident Uruguays, der über 90 Prozent seines Einkommens spendete und ein einfaches Leben führte. Natürlich ist dies kein allgemeingültiges Modell – aber es zeigt, dass politische Macht und persönlicher Verzicht sich nicht ausschließen müssen. In Deutschland hingegen ist politisches Spitzenpersonal oft Teil eines Systems, das finanziellen Komfort selbstverständlich macht – vom Dienstwagen über Luxuswohnungen bis zur Rundum-Absicherung.
Ganz nebenbei lebt Deutschland in einem paradoxen Zustand: Viele Bürger klagen lautstark über Ungerechtigkeiten, verstehen jedoch weder ökonomisch noch politisch, wie diese Ungerechtigkeiten strukturell entstehen – und handeln daher nicht. Stattdessen wird der Frust oft auf falsche Zielgruppen projiziert: auf „Ausländer“, Flüchtlinge oder Minderheiten. Eine Haltung, die nicht nur uninformiert, sondern gefährlich naiv ist, weil sie die wahren Macht- und Verantwortungsstrukturen ausblendet.
Es ist dringend Zeit für eine radikale, konsequente und transparente Reform. Nicht kosmetisch. Nicht kleinschrittig. Sondern grundlegend. Solange Politiker über ihre eigenen Einkommen entscheiden, solange steuerfreie Pauschalen ohne umfassende Kontrolle existieren und solange privilegierte Rentensysteme ohne gesellschaftliche Legitimation bestehen, wird die soziale Spaltung wachsen. Und mit ihr der Verlust an Vertrauen in die Demokratie.
Dieser Zustand ist politisch fahrlässig, moralisch fragwürdig und gesellschaftlich brandgefährlich. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn diejenigen, die sie repräsentieren, ihre Macht nicht als Automatismus persönlicher Vorteile begreifen, sondern als Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung.
Es liegt an uns, dieses System zu ändern. Und es liegt an der Politik, endlich die moralische Größe aufzubringen, auf Privilegien zu verzichten, die keine moderne Demokratie rechtfertigen kann.
Quellen
- Deutscher Bundestag, Abgeordnetenentschädigung seit 1. Juli 2025: 11.833,47 € Monatsdiät. Deutscher Bundestag+2Deutscher Bundestag+2
- Deutsche Bundestagsseite: Aufwandspauschale für Abgeordnete 5.349,58 €/Monat für Mandatskosten. Deutscher Bundestag
- Bund der Steuerzahler: Diäten Automatismus wird als überzogen kritisiert. Bund der Steuerzahler e.V.
- Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 5. November 1975 – Az. 2 BvR 193/74 („Diäten-Urteil“). Generationengerechtigkeit
- Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag: Erläuterung zur Kopplung der Diäten an den Nominallohnindex. Deutscher Bundestag
- ZEIT: Bericht über Diätenerhöhung, automatische Anpassung, Kritik von Linke und AfD. DIE ZEIT
