Gemeinsam sterben – Der assistierte Doppelsuizid der Kessler-Zwillinge

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In der Nachkriegszeit waren die eineiigen Zwillinge Alice und Ellen Kessler die Ikonen des deutschen Showbusiness. Sie zählten zu den erfolgreichsten deutschen Sängerinnen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen und Entertainerinnen der 50er Jahre. Es folgte bald eine internationale Karriere und sie lebten 24 Jahre lang bis zu ihrem 50. Lebensjahr überwiegend in Italien. Ihr Ruhm war im Ausland größer als in Deutschland und in Italien hatten sie die größten Erfolge. Sie lebten fast jeden Tag zusammen, waren nie verheiratet, hatten keine Kinder und waren als „unzertrennliche Zwillinge“ eine besondere Schicksalsgemeinschaft. Ihren Lebensabend verbrachten sie im Münchner Nobelvorort Grünwald.  Sie lebten immer zusammen und starben auch gemeinsam – durch einen assistierten Doppelsuizid am 17. November 2025.

Kurzes biografisches Porträt

Alice und Ellen Kessler wurden am 20. August 1936 in Nerchau in Sachsen geboren. Mit 11 Jahren wurden sie bereits im Kinderballett der Leipziger Oper aufgenommen. Mit 14 Jahren bestanden sie mit Auszeichnung die Aufnahmeprüfung für die Leipziger Operntanzschule. Die beiden Zwillinge hatten zwei ältere Brüder, die beide an Gelbsucht und Typhus starben. Mit 16 Jahren flüchtete die Familie aus der DDR in die Bundesrepublik. Bald wurden sie im Jahr 1952 im Düsseldorfer Revuetheater Palladium engagiert. Dort sah sie der Chef des weltberühmten Lidos in Paris und warb sie für seine Show. Dort waren sie etwa acht Jahre. Dann folgte eine lange Welttournee durch alle Kontinente, die in fast allen Ländern sehr erfolgreich verlief. Von 1962 bis 1986 hatten sie ihren Hauptwohnsitz in Italien. Die letzten 40 Jahre ihres Lebens verbrachten sie in München-Grünwald. Sie starben am 17. November 2025 im Alter von 89 Jahren durch einen assistierten Doppelsuizid (Biografische Daten nach Bartels 2025, Frank 2025, Schilling 2025).

„Vereint bis in den Tod.“

„Im Tod vereint, so hätten wir es gerne“ sagten die beiden Kessler-Zwillinge in einem gemeinsamen Interview. Sie waren unzertrennlich und traten in der Öffentlichkeit fast immer gemeinsam auf. Da sie beide unverheiratet blieben und immer zusammenwohnten waren sie eine Einheit, die sich nach außen abschloss. Sie hatten keine Kinder. Es gab wohl bei beiden längere Partnerbeziehungen, aber sie wohnten nie mit einem Partner zusammen. Ihre Mutter und ihr Hund waren die wichtigsten Vertrauten. Ihr letzter testamentarisch verfügter Wunsch war deshalb, in einer Urne gemeinsam mit der Asche der bereits verstorbenen Mutter und des Hundes bestattet zu werden.

„Durch Angst zusammengeschweißt.“

Die Kindheit der beiden Kessler-Zwillinge war von erheblichen Belastungen geprägt. Beide älteren Brüder starben frühzeitig an Krankheiten. In der Familie herrschte ein ausgeprägtes Angstklima: der Vater war Alkoholiker und gewalttätig. Er verprügelte regelmäßig seine Frau und seine Kinder. Als die Zwillinge 16 Jahre alt waren, floh die Familie aus der DDR in den Westen. Heimat und Geborgenheit gehörten nicht zu ihren Lebensgrundlagen. In ihrem neuen Domizil lebten sie nur kurz – mit 18 Jahren gingen sie bereits nach Paris. Von dort aus waren sie Jahrzehntelang auf „Welttournee“ mit Rückzugsort in Italien.

Die enge Bindung zwischen den eineiigen Kessler-Zwillingen war besonders ausgeprägt, noch mehr als bei anderen eineiigen Zwillingen, die fast immer einen engen Zusammenhalt aufweisen. Doch viele Zwillingen lernen irgendwann Partner kennen, mit denen sie zusammenwohnen, irgendwann vielleicht heiraten und eine eigene Familie gründen. Bei den Kessler-Zwillingen war das ganz anders. Sie lebten 89 Jahre lang fast jeden Tag zusammen – zuerst in der Familie und dann als berühmtes Zwillingspaar auf Weltreisen. In Interviews betonten sie, dass die Angst vor dem gewalttätigen Vater sie frühzeitig intensiv „zusammengeschweißt“ hat, dass sie fest aneinander klammerten aus einem Überlebensinstinkt heraus.

Gemeinsam Sterben – als Todesart wählten sie den gemeinsamen assistierten Suizid

Alice und Ellen Kessler hatten bezüglich ihres Lebensendes lange vor ihrem Tod bereits die unveränderliche Vorstellung, gemeinsam sterben zu wollen – so wie sie ja auch immer zusammengelebt haben. Dass eine von ihnen stirbt und die andere zurückbleibt – das war für sie unvorstellbar und inakzeptabel. Das gemeinsame Sterben geht nicht über den Weg eines natürlichen Todes (Csef 2022, 2024). Die einzige Möglichkeit, das Ziel des gemeinsamen Sterbens zu erreichen, ist der gemeinsame Suizid. Dieser kann von eigener Hand geschehen oder durch einen assistierten Suizid erfolgen. Die Kessler-Zwillinge entschieden sich für die letztere Variante.

Lange Reihe von Doppelsuiziden seit Heinrich von Kleist im Jahr 1811

Doppelsuizide gibt es sicherlich seit Jahrtausenden. Früher wurde darüber wenig gesprochen und geschrieben. Die erste berühmte Handlung dieser Art war der Doppelsuizid von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel am 21. November 1811 in Berlin am Wannsee.

Die Doppelsuizide der bekannten Dichter Stefan Zweig im Jahre 1942 und von Arthur Koestler im Jahr 1983 sind vielfach ausführlich beschrieben und verfilmt worden. Der Verfasser dieses Beitrags hat in einer Monographie die berühmtesten Doppelsuizide beschrieben (Csef 2023). Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mussten Doppelsuizide „durch eigene Hand“ durchgeführt werden. „Hand an sich legen“ nannte der berühmte Schriftsteller Jean Amery sein Buch über den „Freitod“ – wie er den Suizid nannte (Amery 1976). Er selbst suizidierte sich im Jahr 1978. Doppelsuizide wurden meistens von Ehepaaren begangen. Die deutschsprachige Suizidforschung widmete sich ausführlich diesem Thema (Elsässer & Hänel 2000, Wolfersdorf 2010, Csef 2016, Deschins et al 2020). Doppelsuizide von Zwillingen hingegen sind eine Rarität.

Seit den 1980er Jahren gab es in der Schweiz und in den Niederlanden neue Sterbehilfegesetze, die eine Suizidassistenz oder Aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubten (Csef 2019). In der Schweiz gab es von dieser Zeit an auch assistierte Doppelsuizide mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation wie Exit oder Dignitas. Die assistierten Doppelsuizide wurden überwiegend mit älteren und kranken Ehepaaren durchgeführt. Der berühmte britische Dirigent Edward Downes und seine Ehefrau oder der deutsche Politiker Eberhard von Brauchitsch und seine Ehefrau gingen diesen Weg zum assistierten Doppelsuizid in die Schweiz (vgl. Csef 2023).

Die Entwicklungen in der Schweiz und in den Niederlanden veränderten auch in Deutschland die gesellschaftliche Einstellung zum Lebensende, zum selbstbestimmten Sterben, zur Sterbehilfe und zum Suizid. Es kam zu heftigen Debatten in der Öffentlichkeit, in Deutschland ähnliche Sterbehilfegesetze zu erlassen wie in der Schweiz oder in den Niederlanden. Weiterhin entwickelte sich ein „Sterbehilfe-Tourismus“ von Deutschland in die Schweiz. Weil in Deutschland der assistierte Suizid durch eine Sterbehilfeorganisation bis ins Jahr 2020 verboten war, in der Schweiz aber straffrei blieb, reisten deutsche Sterbewillige in die Schweiz, um sich dort „einen Tod erster Klasse zu holen“ (Zitat des Schriftstellers Fritz J. Raddatz, zit. nach Csef 2021).

Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 das damals gültige deutsche Sterbehilfegesetz für ungültig erklärt und den Deutschen Bundestag aufgefordert, ein neues Sterbehilfegesetz zu verabschieden, das mehr ein Selbstbestimmtes Sterben berücksichtigt. Dem Deutschen Bundestag ist es in den letzten 5 Jahren nicht gelungen, diesen Auftrag zu erfüllen. Das Verbot der Suizidassistenz durch Sterbehilfeorganisationen wurde durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020 aufgehoben. Deshalb werden in dieser „Grauzone“ seither von Sterbehilfeorganisationen in Deutschland assistierte Suizide durchgeführt, auch wenn ein neues Sterbehilfegesetz bislang nicht vorliegt. Die Kessler-Zwillinge entschieden sich frühzeitig für diesen Weg und wurden Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, deren Mitarbeiter sie schließlich in den assistierten Doppelsuizid begleiteten. Diese Todesart war ihr letzter Wille.

Literatur

Amery, Jean (1976), Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Klett-Cotta, Stuttgart

Bartels, Gunda (2025), Unzertrennlich im Leben und im Tod. Nachruf auf die Kessler-Zwillinge. Tagesspiegel vom 17. November 2025

Csef, Herbert (2016), Doppelsuizide von Paaren nach langer Ehe. Verzweiflungstaten oder Selbstbestimmung bei unheilbaren Krankheiten?  Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2016, Ausgabe 1, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2019), Neuere Entwicklungen der Sterbehilfe in den Niederlanden, Belgien und in der Schweiz. Suizidprophylaxe, Jahrg. 46, Heft 1, S. 28 – 32

Csef, Herbert (2021), Chronik eines angekündigten Suizids. Tod und Sterben von Fritz J. Raddatz. Tabularasa Magazin vom 24. Juni 2021

Csef, Herbert (2022), Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer-Verlag, Regensburg

Csef, Herbert (2023), Gemeinsam sterben. Die berühmtesten Doppelsuizide. Roderer-Verlag, Regensburg

Deschins, Jennifer, Holz, Franziska, Duttge Gunnar et al  (2020) Der Doppelsuizid. Juristische Aspekte und historische/zeitgeschichtliche Fälle. Rechtsmedizin 30: 438 – 450

Elsässer, Petra,  Haenel, Thomas (2000) Doppelsuizid und erweiterter Suizid. Suizidprophylaxe 27, Heft 4, S. 126–131.

Feckl, Johanna, Hermanski, Susanne (2025), Sie lebten, sie tanzten, sie starben gemeinsam. Nachruf auf die Kessler-Zwillinge. Süddeutsche Zeitung vom 17. November 2025

Frank, Arno (2025), Sie starben, wie sie gelebt haben: gemeinsam. Zum Tod der Kessler-Zwillinge. Spiegel vom 17. November 2025

Schilling, Michael (2025), Selbstbestimmtheit bis in den Tod. Abschied von den Kessler-Zwillingen. Münchner Abendzeitung vom 17. November 2025

Wedler, Hans (2014) Assistierter Suizid: Die Entwicklung in Deutschland und international. Suizidprophylaxe 41 (2), S. 63–68.

Wolfersdorf, Manfred (2010) Der Doppelsuizid (-versuch). Charakteristika erweiterter suizidaler Handlungen. Suizidprophylaxe 37, Heft 3, S. 92–101.

 

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.