Der Weg zu Berufung und Verantwortung
Die große Ruth Weiss, am 26. Juli 1924 in Fürth geboren, ist am 5. September 2025 in Ålborg gestorben. 101 Lebensjahre sind in der Tat eine lange Zeit. Ihr wenige Wochen zuvor erschienenes neues Buch ist denn auch biografisch und doch weitaus mehr als nur eine Autobiografie. Es ist ein ethisches Vermächtnis und zugleich Stiftungs- und Auftragsbuch an uns. Die Tradition der Ermahnung zu einem friedlichen und freundlichen Miteinander kennt das Gegenargument loser Augenblicke miteinander verbundener, aber wandelbaren Wesen. Und so erzählt auch nicht nur von sich selbst, sondern von den großen Bewegungen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Shoah und Apartheid, antikolonialer Befreiungskampf, die Entstehung demokratischer Gesellschaften, die Kraft des Dialogs und die Notwendigkeit, sich einzumischen, sind ihre Themen und die Stützpunkte dieses schmalen Jahrhundertbuches.
Von Inhalt und Aufbau ist das Buch nicht gerade in klassische Kapitel gegliedert, sondern entfaltet sich als fortlaufende Erzählung, in die, wie ihre Leserschaft es von ihr kennt, Ruth Weiss ihre persönlichen Erfahrungen mit den historischen Entwicklungsstufen präzise und klar verknüpft. Geschichte ist ja empfundenes Höherschreiten. Dabei ist eine Klarheit vonnöten, schreibt, die, dass Narben die Zeit überdauern, auch wenn man das verdrängt oder, weitaus öfter, nicht wahrhaben will.
Und so geht es von ihrer der Kindheit und Schule in Fürth, über die Flucht vor den Nationalsozialisten, die jüdische Nachbarn öffentlich in Käfigen durch die Straße schleiften, bis zu ihrer Ankunft im traumatisch aufgeladenen Südafrika weißer Apartheid.
Da war ihr ethisches Fundament durch die traumatische Kindheit in einer Gesellschaft des politisch geschürten Rassenhasses bereits geprägt.
Die frühe Erfahrung der Ausgrenzung durch Antisemitismus hatte ihren Blick auf die Gegenwart geprägt und mit Sorge um die Zukunft gefüllt.
Denn auch die Flucht nach Südafrika wird zur ersten Konfrontation mit einem weiteren weitaus rassistischen System, der Apartheid.
Ihr Fazit ist einfach und für den Unterricht gut einsetzbar: Rassismus ist immer ungerecht, ob in Deutschland oder Afrika.
Im Kodex, was immer ungerecht ist, steht denn auch weitaus mehr als ein schlüssiges Gesetz, er fordert Widerstand. Was Mitgefühl mit Leid meint.
Ruth Weiss beschreibt denn auch die systematische Ausgrenzung Schwarzer Südafrikaner: innen, dass mit schwarzen Kindern nicht zu spielen, zur „gute Sitte“ gehörte. Die Geschichte mit ihrer Freundin Nellie, die ihr Prügel einbringen und Nellies Abgang von der Schule erzwingt, ist eine geschliffene Miniatur, die weitaus mehr als private Lektüre sein sollte.
Einschneidend wirken sowohl die Passgesetze, die schwarze Südafrikaner zwang, ein sogenanntes „Nachschlagewerk“ mit sich zu führen, das persönliche Daten, Arbeitsverhältnisse und Aufenthaltsgenehmigungen enthielt. Denn ohne dieses passähnliche Dokument durften sie sich nicht außerhalb ihrer zugewiesenen Gebiete (Homelands/Bantustans) bewegen. Als auch die wirtschaftliche Ausbeutung der als minderwertig betrachteten „Nicht-Weißen“. Ruth Weiss schreibt, wie sie durch eigene Erfahrung sich mit dieser Ausgrenzung identifizieren konnte.
Mit dieser Identität begleiten wir durch Jahrzehnte politischer Arbeit, journalistischer Recherche und persönlicher Entscheidungen – bis hin zu ihrem Engagement für Versöhnung und Erinnerung in Deutschland und Südafrika.
Ihre Freundschaft mit Menschen wie Nellie zeigt die emotionale Tiefe ihrer Empathie.
Sie begegnet Nelson Mandela, Denis Goldberg, Ruth First – und erkennt die Kraft des gewaltlosen Widerstands.
Journalismus als Berufung und Verantwortung
Ihre Arbeit als Journalistin wird zur nahezu zur Chronik des südlichen Afrikas: sie deckt Sanktionen, Korruption und politische Manipulation auf. Sie schreibt für internationale Medien, recherchiert investigativ und bleibt nah am Menschen. Eine Weise die ihre Haltung zu Fakten statt Meinung, Dialog statt Dogma weitaus prägt.
Mutterschaft und Selbstbestimmung
Ein roter Faden it die die Beziehung zu ihrem Sohn Sascha. Sie entscheidet sich auch wieder beruflicher Chancen, stets wieder für ihn. Ihre Mutterschaft ist geprägt von Fürsorge, Schuldgefühlen und der Suche nach Balance. Diese Suche wird zur Quelle ihrer Stärke.
Ein Leben zwischen den Welten
Sie führt sie zu einem Leben zwischen den Welten. Ruth Weiss lebt in London, Köln, Lusaka, Harare und bleibt doch innerlich mit Afrika verbunden. Bedrückend wirkt ihr Rückkehr nach Deutschland wird zur Konfrontation mit Erinnerung und Verdrängung. Die Kriegsgeneration hatte das Sagen, wollte nicht erinnert werden, sondern zeigen, was in ihr steckt, was sie störte, an den Rand drängen. Begegnungen mit Bürokraten, Vermieterinnen und Bürgermeistern zeigen, wie tief die NS-Vergangenheit noch wirkte.
Simbabwe und die Hoffnung auf Wandel
Dass die Welt weitaus mehr ist, erlebt Ruth Weiss mit der Unabhängigkeit Simbabwes, der mitschwingenden Euphorie und in den politischen Kämpfen um den erfolgreichen Weg in die eigenständige Zukunft.
Als Ausbilderin gibt sie ihr Wissen weiter und trägt zum Aufbau eines demokratischen Staates bei.
Bald erkennt sie die Schattenseiten der Unumgänglichkeit eine eben nicht wie in Indien langsam gewachsenen und funktionierenden Struktur: vor der grassierenden Korruption, dem Machtmissbrauch und dem Schweigen über Massaker zieht sich konsequent zurück.
ZISA: Brücken bauen für Versöhnung
Ihr Mitwirken am Projekt ZISA wird zum Höhepunkt ihres politischen Engagements. Ruth Weiss hilft, Gespräche zwischen dem ANC und weißen Südafrikanern zu ermöglichen, was zu einem entscheidenden Schritt der Beendigung der Apartheid wird.
Sie erlebt endlich die Kraft des Dialogs, die Bedeutung von Vertrauen und die Hoffnung auf ein demokratisches Südafrika.
Ethik, Empathie und Hoffnung
Ruth Weiss plädiert immer für den Dialog, und das ebenso im doch sehr einseitig forcierten „Nahostkonflikt“.
Sie erinnert nicht von ungefähr an Margot Friedländer und das jüdische Gebot „Sei ein Mensch“ – als universelle Haltung.
Ihr Optimismus ist kein blinder Glaube, sondern eine Haltung, geboren aus Erfahrung und Widerstand.
Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch Joachim Gauck wurde zur Anerkennung ihres praktischen Denkens der Versöhnung.
Thematische Tiefe
Erinnerung und Verantwortung sind die Säulen des eingeforderten Handelns, das damit zur ethischen Haltung wird.
Empathie, Widerstand und Solidarität mit Unterdrückten sind bei Ruth Weiss nie Pose, sondern gelebte Realität.
Dass Frauen und Öffentlichkeit kam etwas zu kurz, doch sie beschreibt weitaus mehr als anklagend und dabei – mit der Kunst der Verknappung -, ausführlich Arbeiten und Leben als Frau in männerdominierten Strukturen. Und sein behauptet sie sich mit Haltung und Intelligenz.
Und sie beschreibt auch diesen Kampf mit literarischer Eleganz, politischer Klarheit, und emotionaler Tiefe. Überhaupt ist ihre Sprache reflektiert, nahbar und voller moralischer Integrität.
Als Fazit las der Rezensent ein Buch über Mut, die Kraft der Worte und die Notwendigkeit, sich einzumischen. Ruth Weiss zeigt, dass Geschichte nicht nur erzählt, sondern gelebt werden muss – und dass Handeln eben immer auch bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Ruth Weiss wird fehlen und uns immer zum richtigen Handeln führen.
Ruth Weiss Leben heißt Handeln – Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit Verlag Herder, 1. Auflage 2025, Klappenbroschur, 176 Seiten, ISBN: 978-3-451-03621-7 Klappbroschur, 20 Euro. Kindle/PDF 15,99 Euro

