Buchbesprechung: Geöffnet Gelenkt Umgebaut

Buchbesprechung: Geöffnet Gelenkt Umgebaut

Unter sowjetischer Ägide gelang es trotz Befreiung vom Nationalsozialismus nicht, die Bibliotheken wieder in freie Wissensspeicher zu verwandeln. Vielmehr wurde die Bibliothek – … – neuerlich zur ‚ideologischen Einrichtung‘, die diesmal ‚mittels des Buches unmittelbar die Formierung des gesellschaftlichen Bewußtseins beeinflusst und das Ziel der kommunistischen Erziehung der Werktätigen verfolgt‘.

Geöffnet Gelenkt Umgebaut
Die Frage, welche Rolle Bibliotheken … für das Leben und den Fortbestand des demokratischen Gemeinwesens einnehmen, wird seit Jahren … nicht grundsätzlich neu diskutiert. … Seit ich mich Ende der 2000er Jahre näher mit der neueren Geschichte der Leipziger Universitätsbibliothek auseinandergesetzt hatte, beschäftigte mich die Frage, wie es gelingen konnte, welche Mechanismen geschaffen werden mussten, um das Bibliothekswesen des SED-Staates systematisch zum Werkzeug der Einengung und Umdeutung von Wissen und Information zu transformieren.“ (S. 9/10.)

Die Friedliche Revolution 1989 brachte nicht nur Freiheit und Demokratie für die Ostdeutschen. Auch für Wissenschaft, Forschung, Literatur und Kunst öffnete sich die Welt. Bibliotheken und Bücher wurden quasi mitsamt ihren Lesern und Nutzern mitbefreit. Vorbei die so miefigen wie ideologischen Jahrzehnte der „Giftschränke“ (Erich Loest rspkt. Wolfgang Wülff in „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene “) in den Bibliotheken.

Warum das Beispiel Leipzig? Der Verfasser ist gebürtiger Zwickauer, Sachse, Deutscher in Europa. Katholik ist er noch obendrauf. Seit vielen Jahren in Leipzig lebend, stolz auf diese in der DDR geschundenen (Buch-)Stadt und maßgeblichem Ort der Friedlichen Revolution, immer wachsame Augen in Richtung der politischen Ränder, verbunden mit dem Willen, die demokratischen Spielregeln zu schützen und sich dafür auch persönlich einzubringen, nahm sich Soilihi Mze mit dem Blick auf die Leipziger Bibliothekslandschaft im Wandel zwischen Diktatur und Demokratie eines öffentlich weniger im Zentrum stehenden Themas an. Eine gute Idee!

Die Buchhändler- und Verlegerstadt Leipzig, hinter dem „Eisernen Vorhang Verliererin innerhalb Deutschlands Bibliotheks- und Archivarlandschaft, lebt seit 1989 nicht mehr im Schatten Frankfurts am Main vor sich hin. Deutsche Bücherei/Deutsche Nationalbibliothek, Universitätsbibliothek und Stadtbibliothek gehören zu Deutschlands und Europas Creme de la Creme auf ihrem Gebiet und sind Frankfurt mindestens ebenbürtig. Was wiederum gut für Deutschland ist.

Zu nennen wäre noch die reichhaltige und sehr wertvolle Reichsgerichtsbibliothek als Fachbibliothek, deren historische Bestände zum größten Teil wieder nach zwischenzeitlicher Auslagerung nach Forst/Lausitz (DDR) und Karlsruhe (zwischen Deutscher Einheit und Rückführung nach Leipzig ab 1997). Hier könnte Dr. Soilihi Mze noch einmal nachgraben. Ein Tipp von Freund zu Freund. Wie überhaupt der Standortkampf Frankfurt/M. vs. Leipzig in den 90ern erschreckend war.

Hassan Soilihi Mze schließt eine Lücke. Beide Diktaturen formten die Bibliothekslandschaft. Die nationalsozialistische hatte hierfür zwölf Jahre 1933-1945, die kommunistische vierundvierzig Jahre zwischen 1945 und 1989 Zeit und Gelegenheit. Ein Vergleich beider schmählicher Epochen im Bereich der Leipziger Bibliothekslandschaft könnte auch eine weitere so interessante wie reizvolle Aufgabe sein. Zum Nutzen der nach uns Kommenden, um die Wiederkehr der schmählichen Praktiken schon im Ansatz verhindern zu helfen. Soilihi Mzes Schwerpunkt liegt auf der DDR-Zeit. Die liegt am kürzesten zurück. Er ist Zeitzeuge.

Soilihi Mzes Schwerpunkte sind:
Wiedereröffnung nach 1945/Bauliche Kriegsschäden/Universitätsbibliothek-Deutsche Bücherei- Stadtbibliothek
Personelle Veränderungen/Führungswechsel/Kontinuitäten/Diskontinuitäten
Personelle Veränderungen/Belegschaft
Bestandspolitische Herausforderungen/Rückführungen
Bestandspolitische Herausforderungen/Die Säuberung/Sonderausschüsse/hausinterne Prüfungsverfahren
Entbürgerlichung/Selektion-, Sekretions- und Sperrungsmechanismen/Schlaglichter deutsch-deutscher Spannungen/bürgerliche Entlassungen/sozialistischer Ersatz
Sozialistische Umgestaltung/Aspekte der Transformation/DB als sozialistische Nationalbibliothek/Beseitigung der wissenschaftlichen Stadtbibliothek/Transformation als Liquidation
ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis.

Soilihi Mzes‘ Urteil ist deutlich: „Unter sowjetischer Ägide gelang es trotz Befreiung vom Nationalsozialismus nicht, die Bibliotheken wieder in freie Wissensspeicher zu verwandeln. Vielmehr wurde die Bibliothek – … – neuerlich zur ‚ideologischen Einrichtung‘, die diesmal ‚mittels des Buches unmittelbar die Formierung des gesellschaftlichen Bewußtseins beeinflusst und das Ziel der kommunistischen Erziehung der Werktätigen verfolgt‘.“(S.20).

„Giftschrank“
Interessant in diesem Zusammenhang ist das Kapitel III.1.5 Der hausinterne Umgang mit inkriminierter Literatur an der DB (S.111 ff).

Erich Loests „Giftschrank“ bzw. der Drahtseilakt des Umgangs mit dem diffizilen Problem erfährt hier seine verwaltungstechnische Offenlegung. Einerseits ergab sich aus dem Archivierungsauftrag der DB das Sammeln sämtlicher deutschsprachiger Literatur und dies keineswegs nur aus der DDR und andererseits mussten zwangsläufig DDR-Bürger in ihrer Eigenschaft als Mitarbeiter der DB mit der Erfassung, Dokumentierung und Archivierung befasst sein. Diese Aufgabe war nur mit sehr gutem sozialistischen Bewusstsein lösbar. Ohne Haltung ging da nichts.

Sozusagen hätte die nicht aus der DDR stammende Literatur bereits vor dem Lesen weggeschlossen werden müssen. Damit bei den Mitarbeitern keine geistigen Schäden entstanden wären. Doch wäre in diesem Fall das inhaltliche Erfassen und dokumentieren nicht möglich gewesen. Ein dialektisches Problem.

Die „geheimzustellende Literatur“ wurde generell in einem „Geheimmagazin“ hinter einem Lattenverschlag aufbewahrt.

Die Eingangstür zum Geheimmagazin ist durch ein Spezialschloss gesichert, zu dem nur zwei Schlüssel existieren. Den ersten Schlüssel hat der Magazinaufseher, der im Geheimmagazin Dienst verrichtet, in Händen, den zweiten verwahrt der Leiter des Benutzungsdienstes.“ (Schreiben an das Ministerium für Volksbildung der DDR 1950).

Haltung und sozialistische Persönlichkeit hatten gemäß sämtlicher Regelungen konform zu sein. Die Praxis sah oft anders aus. Nicht auf allen politischen Ebenen wurde überzeugend gearbeitet. Das Bibliothekspersonal litt an ideologischem „Mangel“ (S.122). Den wissenschaftlichen Bibliothekaren ging der Ruf nach „in ihrer Arbeit dem Objektivismus, Formalismus und Individualismus verhaftet zu sein und sich zu wenig von politischen Erwägungen leiten zu lassen.“ (S.122).

Die SED zog daraus ihre Konsequenzen und nahm sich der endgültigen „Entbürgerlichung“ im Bereich der Bibliotheken an. Soilihi Mze bezieht sich dabei auf die DB und die Universitätsbibliothek, doch dürfte das Vorhaben Vorbildcharakter für alle DDR-Bibliotheken gehabt haben.

Stand 2024 würde ich meinen, die SED hätte auf die gloriose Idee von Meldestellen eines schon damals zu schaffenden Hinweisgeberschutzgesetzes kommen können.

Die Konkurrenz aus Frankfurt/M.
1947 wurde in Frankfurt/M. die Deutsche Bibliothek gegründet, die einen ähnlichen Sammelauftrag deutschen Schriftgutes wie die Deutsche Bücherei in Leipzig bekam. Auf Grund des bereits damals deutlichen Auseinanderfallens Deutschlands in den Einfluss des freien Westens und des unfreien Ostens war der Vorgang logisch und setzte die Deutsche Bücherei in Leipzig sofort unter Zugzwang. Der Abgang in die mögliche Bedeutungslosigkeit musste vermieden werden. Es bedurfte weiterhin des Zugangs zum gesamten deutschsprachigen Raum.

Den Umgang mit der Konkurrenz am Main schilderte Soilihi Mze auf den Seiten 129 bis 132.  Die SED-Betriebsparteiorganisation schrieb 1952 an Walter Ulbricht ua. „Der Deutschen Bücherei diesen gesamtdeutschen Charakter zu erhalten, ist gerade darum so wichtig, weil die Kräfte der Bonner Regierung, … , in Frankfurt am Main 1947 eine Deutsche Bibliothek gegründet haben, die ein Konkurrenzunternehmen zur Deutschen Bücherei darstellen… soll.“ (S.131).

Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt/M. entwickelte sich rasant zu einem Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Das war zu erwarten. Was so nicht zu erwarten war, dass genau diese Gründung im Westen, den Osten Deutschlands zwang, den gesamtdeutschen Sammelauftrag der Deutschen Bücherei Leipzig mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Wenn auch mit der Einschränkung der sozialistischen Vorenthaltung großer Teile der Literatur vor der eigenen Bevölkerung. Stichwort „Giftschrank“.

Mir als Verfasser dieser Rezension wurde beim Lesen der Doktorarbeit Hassan Soilihi Mzes‘ noch einmal deutlich, was meinen mit dem Thema befassten Kollegen und mir zum Disput Büchereien Frankfurt-Leipzig im Deutschen Bundestag widerfuhr. Nach der Deutschen Einheit ging es nicht mehr um den Wettbewerb und den Streit der Systeme. Der freie Westen hatte gewonnen. Die kommunistischen Diktaturen des Sowjetimperiums hatten verloren. Nun ging es um das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehörte (Willy Brandt 1989).

Auch Deutsche Bücherei (Leipzig) und Deutsche Bibliothek (Frankfurt) konnten und wollten zusammenwachsen. Irgendwie jedenfalls. Zu diesem Prozess scharten sie ihre Heimatländer hinter sich. Die Frankfurter drückten mit dem soliden Hessen, die Leipziger mussten erst lernen, ihr altes und zugleich neues wirtschaftlich noch unsolides Bundesland Sachsen für sich einzuspannen. Die Hessen drückten mit der Kraft ihres Landes, die Sachsen mit der Kraft ihrer Bedeutung für die Friedliche Revolution und die Deutsche Einheit. Die Mühen der Ebenen unterschieden sich vom Gang auf den Höhen der Sonntagsreden. Für Ostdeutsche war das eine Enttäuschung, für eine Demokratie ist das normal. Demokratie ist offener Interessenstreit unter friedlichen Bedingungen verbunden mit der Suche nach konsensualen Lösungen.

Im Falle der beiden nationalen Büchereien gewann vorerst die Wirtschaftskraft über die Bedeutung. Frankfurt wurde Hauptsitz, Leipzig Zweigstelle. Die Eigennamen wurden beibehalten. Der Standortkampf mit den Beinen unter dem Tisch blieb bis 2006 erhalten.

In den 90ern versuchten die Frankfurter noch über den Bundesrechnungshof, den Standort Leipzig zu marginalisieren. Aus dem Konkurrenzkampf zu Teilungszeiten wurde nach 1990 ein Streit der Platzhirsche um Bedeutung, auch um Arbeitsplätze.

Der Vorstoß des Bundesrechnungshofes konnte im Rechnungsprüfungsausschuß erfolgreich abgewehrt werden. Von Stund an stand fest, Frankfurt und Leipzig sind gleichrangig. Seit 2006 ist das auch im Namen „Deutsche Nationalbibliothek“ mit ihren Standorten Frankfurt und Leipzig deutlich gemacht.

Die Beseitigung der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek (Leipzig)
Die Wissenschaftliche Stadtbibliothek war städtisch getragen und passte mit diesem Format nicht in das sowjetische Bibliothekswesen. Der Kommunismus kannte weder kommunale Selbstverwaltung noch private Mäzenaten. Leipzigs Stadtbibliothek verdankte ihre segensreiche Existenz ihrem Stifter Huldreich Groß (1605-1677). Groß hatte diese Bibliothek zu Studienzwecken eingerichtet. Das sollte nach seinem Willen immer so bleiben. Der Geruch des Bürgerlichen haftete der Bibliothek wie Pestgeruch für die Nasen der kommunistischen Transformateure an.  Lange konnte das nicht mehr gutgehen. 1952 wurde die Wissenschaftliche Stadtbibliothek in eine Volksbücherei umgewandelt. Damit einher ging der Verlust hochqualifizierten Personals, transformatorisch als Entbürgerlichung geframt.

Hassan Soilihi Mze legt eine fundierte Beschreibung der sozialistischen Umgestaltung der Leipziger Bibliothekslandschaft vor und vergisst dabei nicht den Hinweis, dass die Thematik weitere Forschungsarbeit verdient. Das gesamte Gebiet Universitätsbibliotheken, nationalbibliothekarische Konzepte, wissenschaftliche Stadtbibliotheken in der DDR harrt der tiefgründigen Forschung. Landesbibliotheken, Spezialbibliotheken wie die Leipziger Blindenbücherei oder die Zwickauer Ratsschulbibliothek stellen immer noch „Desiderate der Forschung“ dar. (S.186). Auch verweist Soilihi Mze auf die Aspekte berufspraktischer Opportunismus und bibliothekarische Widerständigkeit der der Transformation nachfolgenden Berufsgeneration in den Büchereien und Bibliotheken der DDR. Recht hat er!

Als ein von der Materie in den 90er/200er Jahren zum Teil tangierten Bundestagsabgeordneten füge ich eine inhaltliche Ergänzung für eine auf Soilihi Mzes‘ Forschungen fortgeführten Arbeit bei:

Vorschlag für eine Weiterführung dieser Forschungsarbeit:
Föderaler Standortkampf Karlsruhe/Frankfurt vs. Leipzig zwischen 1992 und 2002/Gerichtsstandorte/Reichsgerichtsbibliothek/Deutsche Bücherei/Bundesamt Kartografie und Geodäsie

Nicht nur die Reichsgerichtsbibliothek sollte nach 1990 ahistorisch von Leipzig abgetrennt werden, weil Karlsruhe und der Bundesgerichtshof den Bestand förmlich für sich eingekrallt hatten. Auch die Deutsche Bücherei war kurzzeitig in Gefahr, nicht mehr ebenbürtiger Standort neben Frankfurt/M. bleiben zu können. Der Bundesrechnungshof wollte den großen historischen Lesesaal vor der Allgemeinheit aus angeblich zu hohen Unterhaltskosten verschließen. Erst schwerer Druck aus dem Rechnungsprüfungsausschuß des Bundestages machte das Vorhaben zunichte und den Weg zu zwei Standorten auf Augenhöhe frei…

Noch härter gingen der Bundesrechnungshof und die Bundesregierung mit dem Leipziger Institut für Karthografie und Geodäsie um. Der Standort sollte komplett geschlossen und das Personal nach Frankfurt umgesetzt werden. Dieser Kampf dauerte mehr als fünf Jahre und musste gegen zwei Bundesinnenminister im Schlepptau des Bundesrechnungshofes (´bzw. umgekehrt) geführt werden.

Die Geschichte der Deutschen Bücherei, der Leipziger Universitätsbibliothek und der Leipziger Stadtbibliothek ist längst noch nicht vollständig geschrieben. Hassan Soilihi Mze sei Dank für die Erforschung der SBZ/DDR-Zeit. Nun wartet auf die Forschung der innerdeutsche Prozess des Zusammenwachsens auch auf diesem Gebiet. Wo Menschen handeln, tun sie dies nicht ohne Interessen.

Geöffnet Gelenkt Umgebaut / Dr. Hassan Soilihi Mze
Leipziger Universitätsbuchverlag 2023; 266 Seiten; ISBN 978-3-9602023-555-2

Quelle: Weissgerber – Freiheit