Von außen sauber, von innen marode
Deutschland, Bildungsnation? Ein Blick auf die Schulgebäude sagt mehr als tausend Statistiken: graue Betonkästen, wie Kasernen aus der wilhelminischen Ära. Der Anstrich mag modern sein, das System dahinter ist es nicht. Seit über 180 Jahren hat sich an der Struktur unseres Schulsystems kaum etwas verändert. Was Richard David Precht einmal als „preußische Dressuranstalt“ beschrieb, ist nach wie vor Realität: Ein System, das nicht bildet, sondern sortiert, nicht entfaltet, sondern standardisiert – und das dabei Menschen zu Funktionskörpern degradiert.
Pisa-Schock ohne Konsequenzen
Die Pisa-Studien sprechen seit Jahren eine deutliche Sprache: Deutschland rangiert in zentralen
Bildungsfragen bestenfalls im Mittelmaß, teilweise im Abstieg. Laut Pisa 2022 sinken die
Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften deutlich – trotz aller politischen
Lippenbekenntnisse. Besonders dramatisch: Kinder aus bildungsfernen oder migrantischen Familien schneiden signifikant schlechter ab. Nicht wegen Intelligenz, sondern wegen systematischer Benachteiligung.
Ein Bildungssystem, das Gerechtigkeit verspricht, aber systematisch diskriminiert, hat seine Legitimation verloren.
Minderheiten im Abseits: Wenn Herkunft über Zukunft entscheidet
Schüler*innen mit Migrationshintergrund bekommen bei gleicher Leistung schlechtere Noten. Das ist durch zahlreiche Studien belegt – darunter Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Universität Mannheim. Lehrerurteile sind oft unbewusst von Vorurteilen beeinflusst.
Laut DAK leidet ein erheblicher Teil dieser Kinder unter psychischen Belastungen, verursacht durch Mobbing, ständige Ausgrenzung oder strukturelle Benachteiligung. Die traurige Realität:
40 Prozent der ausländischen Kinder berichten laut diverser Erhebungen über diskriminierendes Verhalten durch Lehrkräfte.
Doch wer sich beschwert, landet im bürokratischen Labyrinth. Beschwerden müssen an dieselbe Schule, an denselben Direktor, dieselben Kolleg*innen gerichtet werden – die sich gegenseitig decken. Ein Kind, das wagt, sich zu wehren, wird oft härter getroffen als zuvor. Das nennt man institutionelle Gewalt.
Suizidversuche durch Schule sind Alarmjet
Was passiert mit einem Kind, das jeden Tag in eine Umgebung gehen muss, die es nicht versteht, nicht schützt und nicht sieht?
Die Antwort ist erschütternd: Im Jahr 2023 nahmen sich 195 Jugendliche in Deutschland das Leben – darunter 22 Kinder unter 15 Jahren. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen.
Laut Studien haben etwa 40 % aller 14- bis 17-Jährigen bereits Suizidgedanken, 8 % unternahmen mindestens einen Versuch. Besonders tragisch: Jungen sterben häufiger durch Suizid, während Mädchen öfter versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Diese Zahlen sind keine statistischen Randnotizen – sie sind ein Hilfeschrei.
Ein Hilfeschrei gegen ein System, das Kinder durch Leistungsdruck, Mobbing, Versagensangst und emotionale Vernachlässigung an ihre psychischen Grenzen bringt.
Psychische Einsamkeit ist eine der gefährlichsten Erfahrungen für ein Kind – und viele erleben sie genau dort, wo sie eigentlich wachsen sollten: in der Schule.
Nicht selten sind es Lehrer*innen, die durch autoritäres Verhalten, fehlende Empathie oder bewusste Benachteiligung diese Isolation mitverursachen. Die Schule – eigentlich ein Ort des Miteinanders – wird zum Ort der Vereinzelung.
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Dr. Katja Becker fordert deshalb eine bundesweite, niedrigschwellige Suizidprävention an Schulen.
Auch der renommierte Kinderpsychiater Dr. Michael Winterhoff prangert an, dass Schulen heute psychische Stabilität eher untergraben als fördern. Er fordert: mehr Psycholog*innen an Schulen, weniger Verwaltungsapparat – und endlich ein Bildungssystem, das Kinder versteht.
Psychisch am Limit: Lehrer als Opfer – und Täter
Auch auf der anderen Seite des Pults sieht es düster aus: Rund 30 Prozent der Lehrkräfte leiden unter psychischen Erkrankungen, wie Burn-out oder Depression, so ein Gutachten des Aktionsrats Bildung.
Laut „Spiegel“ bricht fast jeder zweite Lehramtsstudent sein Studium ab – vor dem Referendariat. Die Gründe: Überforderung, Angst vor dem System, mangelnde Perspektiven.
Die Folge: Der Lehrerberuf wird zunehmend zur Notlösung. Viele, die sich nicht mehr halten können, bleiben trotzdem im System – und übertragen ihren Frust auf Kinder.
So entstehen die stillen Dramen im Klassenzimmer: Lehrer, die Kinder anschreien, stigmatisieren, bewusst benachteiligen.
Das ist Mobbing mit Amtsstempel. Und niemand schreitet ein.
Schule als Fabrik – nicht als Ort der Bildung
Der deutsche Unterricht gleicht einem Fließband. Quantität schlägt Qualität. Es geht nicht um Verstehen, sondern um Wiedergeben. Nicht um Neugier, sondern um Gehorsam.
Oder wie der große Humanist Rabelais sagte:
„Kinder sollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Leuchten entzündet werden.“
In der Praxis bedeutet das: Kinder lernen auswendig, um Noten zu bekommen, nicht um die Welt zu begreifen. Sie wissen nicht, wofür sie lernen – nur, dass sie müssen.
Kinder, die in Musik brillieren, in Mathematik aber schwach sind, werden „defizitär“ genannt. Die Schule zwingt die Ente zum Klettern, den Tiger zum Schwimmen und das Pferd zum Fliegen – und wundert sich, wenn sie alle versagen.
Albert Einstein sagte einst:
„Jeder ist ein Genie. Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, er sei dumm.“
Unser Bildungssystem verlangt von Kindern, Fische zu sein, die klettern müssen. Es ignoriert individuelle Talente und Bedürfnisse und zwingt alle in ein starres Korsett von Normen und Erwartungen.
Diese brutale Normierung ist nicht Bildung – sie ist Selektion.
Was Maria Montessori längst wusste
Bereits vor 100 Jahren zeigte Dr. Maria Montessori, dass Kinder lernen wollen – wenn man sie lässt. Ihre Pädagogik der Freiheit, Verantwortung und Selbstentfaltung hat weltweit Anerkennung gefunden – nur nicht im Land Goethes und Humboldts.
Während Montessori-Schulen weltweit wachsen, bleiben sie in Deutschland Randerscheinung – weil das System auf Kontrolle basiert, nicht auf Vertrauen.
Keine Bewegung, keine Vision
Seit den 60ern reden wir von „Reformpädagogik“. Passiert ist: fast nichts. Ein bisschen weniger Prügelstrafe, ein bisschen mehr Ganztag. Aber das System blieb gleich. Warum?
Weil das Bildungssystem in Deutschland keine pädagogische Vision verfolgt – sondern eine politische Funktion erfüllt: Menschen zu sortieren, disziplinieren und zu funktionalen Arbeitskräften zu machen.
Daher auch die groteske Schieflage in der Finanzierung:
200 Milliarden für Rüstung – 50 Milliarden für Bildung, davon das meiste für Verwaltung. Schulen vergammeln, Lehrkräfte brennen aus, Kinder verzweifeln – aber das System verwaltet sich weiter selbst.
Was sich jetzt grundlegend ändern muss
Diese Kritik ist kein Ruf nach Revolution – sondern nach Evolution, wie Richard David Precht es formuliert hat. Doch selbst diese findet nicht statt.
Was es braucht:
- Eine Abschaffung der Notenpflicht bis zur 10. Klasse.
- Selbstorganisiertes Lernen statt Stundenplan-Diktat.
- Pflichtfach Psychologie und emotionale Bildung.
- Bessere Lehrer-Ausbildung, psychologische Eignungstests.
- Ein echtes Recht auf Beschwerde für Kinder und Eltern – mit unabhängiger Instanz.
- Architektonische Neugestaltung der Schulen – Orte der Kreativität, nicht Gefängnisse.
Die Zeit der Dinosaurier ist vorbei
Wir leben in einer Zeit künstlicher Intelligenz – doch unser Bildungssystem steckt noch in der Dampflok-Ära.
Es geht nicht darum, Kinder für den Arbeitsmarkt zu optimieren – sondern Menschen zu fördern, die in sich ruhen, denken, fühlen und Verantwortung übernehmen können.
Solange wir das nicht verstehen, machen wir weiter unsere Kinder kaputt – Tag für Tag, Stunde für Stunde, Zeugnis für Zeugnis.
Wenn wir ein gutes, menschliches Bildungssystem hätten, könnten wir eine bessere Welt gestalten – mit mehr Frieden, mit mehr Menschlichkeit, mit echtem Klimaschutz. Aber dafür müssen wir uns zuerst um unsere Kinder kümmern.
Kinder, die sich selbst verstehen. Die ihre Bedürfnisse kennen. Und die wissen, wie sie mit sich selbst okay sein können.
Denn:
„Was nützt es dem Menschen, wenn er Lesen und Schreiben gelernt hat, aber nicht gelernt hat, zu denken?“ – Bertrand Russell
