„Les intellectuels“ – Wir brauchen mehr Intellektuelle, die die Menschen verstehen

Der Philosoph, Foto: Stefan Groß

Als der Philosoph Ernst Cassirer im Jahre 1934 auf Albert Schweitzer traf, war dieser ihm zutiefst sympathisch. Dies lag wohl auch daran, dass Schweitzer jemand war, der nicht weltfremd theoretisierte, sondern ein Mann der Tat sei, jemand, der versuchte, in seiner Philosophie ein Antidot gegen die Krise seiner Zeit zu entwerfen. Und das für jedermann.

Mit dieser Begegnung im Hinterkopf bemängelte Cassirer in seiner Göteborger Antrittsvorlesung, dass die Philosophie zu sehr Schulbegriff und zu wenig Weltbegriff sei. Schulbegriff, eine von Kant entlehnte Bezeichnung, bedeutet dabei die streng akademische, fachorientierte, mit Fachtermini durchsetzte Philosophie. Weltbegriff hingegen jene Philosophie, die sich mit fachübergreifenden, für alle (oder zumindest viele) relevante Thematiken auseinandersetz.

Dies gilt auch für die Gegenwart. Nicht nur die Philosophie – die sich gegenwärtig gerne über Eigennamen und andere analytische wie linguistische Probleme den Kopf zerbricht –, nein, auch der Intellektuelle per se, besonders der „public intellectual“, ist hierzulande oft mehr dem Schul- als dem Weltbegriff verschrieben.

Genau das ist der Fall, wenn Weltbegriffsphilosophen wie Richard David Precht für ihre angebliche Popphilosophie angefeindet werden. Dabei versucht er genau das, was Schweitzer tat und Cassirer forderte: das thematisieren, was alle betrifft, und zwar mit einem Duktus, der nicht nur für eine Bildungselite zugänglich ist.

Auf der anderen Seite werden immer noch Philosophen wie Peter Sloterdijk veneriert. Zweifelsohne, Sloterdijk ist ein origineller, beeindruckender Denker, mit einer Prosa, die einen neidisch werden lässt. Aber hinabgerufen von einem vergeistigten Elfenbeinturm, so dass er für viele nur schwer verständlich ist.

So sehr ich mich wie manch anderer für Sloterdijk auch begeistern kann, so muss ich eingestehen, dass Precht sicherlich mehr Menschen dazu gebracht hat, über ihren Fleischkonsum oder das archaische Schulsystem nachzudenken.

Wenn man zurück auf die Ursprünge des Intellektuellen blickt, wird einem gewahr, dass die klassische Intellektuelle nicht unbedingt die bebrillte, belesene Frau ist, die schon einmal das Essen über ein Buch vergisst.

Der Begriff trat das erste Mal im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre auf. Nachdem sich der Schriftsteller Émile Zola in seinem offenen Brief J’accuse…! für Dreyfus eingesetzt und sich damit gegen Machtmissbrauch sowie dem grassierenden Antisemitismus positioniert hatte, wurde er und seine Anhänger zunächst mit dem Begriff „les intellectuels“ geschmäht.

Diese redeten der Politik nicht das Wort, waren unabhängig und setzten sich für Wahrheit als auch Gerechtigkeit ein. Wohlgemerkt zählten zu den Intellektuellen im Jahre ihrer Manifestpublikation, 1898, unter anderem auch Köche und Druckvertreter.

In diesem Sinne schrieb Antonio Gramsci in einem Gefängnis Mussolinis: „Alle Menschen sind Intellektuelle […], aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ Die Aufgabe der Intellektuellen sei es daher, die Massen intellektuell zu fördern, um so die erwünschte Veränderung in der Gesellschaft bewirken zu können.

Die Bezugslosigkeit der heutigen Intellektuellen zum „einfachen Mann“ ist auch dem – von Gramsci so ersehnten – Verschwinden der Klassen geschuldet. Denn indessen die Elite samt ihrer Hochkultur und ihrer intellektuellen Überlegenheit der Popkultur und dem Mittelmaß der Gleichgestellten weichen muss, tendieren sie in einem letzten Rettungsversuch dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen.
Die bildende Kunst wird intellektualisiert und lässt „ungebildeten“, anders als in der klassischen Moderne, gar nicht erst einen Schritt in das Museum oder die Galerie wagen. Das Gedicht hermetisiert sich zunehmend, hinterlässt immer mehr Weiß auf dem Papier und Unverständnis beim Leser.

Auch diese Entwicklungen hat ihre Berechtigung. Auch sie können faszinieren. Genau wie der Hyperintellektuelle oder die analytische akademische Philosophie. Und doch ist in Zeiten des Populismus und dem Zweifel am „Establishment“ wieder der Intellektuelle im ursprünglichen Sinne gefragt. Wie auch eine Philosophie mit Bezug zum Alltäglichen. (Zum Bespiel die sogenannte „therapeutische“ Philosophie, die sich nicht nur in östlichen, sondern auch westlichen Traditionen finden lässt.)

Auch wenn jemand wie Precht nicht die kopernikanische Wende des Denkens herbeigrübeln wird, es wahrscheinlich auch gar nicht beabsichtigt, kommt es mehr denn je auf die vielzitierte Marx’sche (und Engel’sche) These an, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie tatsächlich zu verändern.
Sie wiederum lediglich verändern zu wollen, ist, wie die Geschichte bezeugt, auch nicht die Lösung. Vielmehr kommt es auf ein Gleichgewicht von Theorie und Praxis an. Gegenwärtig kippt die Waagschale jedoch zur Seite der Theorie.

Wie Cassirer deshalb in Gedanken an Schweitzer sagte, wir bräuchten wieder Philosophie mit „Schwielen an den Händen“, so brauchen wir auch Intellektuelle mit Schwielen, mehr noch Narben an den Händen. Intellektuelle, die wieder der Sprache ihrer Mitmenschen sprechen. Denn, wie Schweitzer sagte, „[a]lles Tiefe ist zugleich ein Einfaches und läßt sich als solches wiedergeben, wenn nur die Beziehung auf die ganze Wirklichkeit gewahrt ist.“

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