Laetitia Colombani – Der Zopf: Eine Geschichte von Verflechtungen

Models, Foto: Stefan Groß

Vor einiger Zeit lief im Fernsehen ein hochinteressanter Beitrag über den lohnenden Handel mit Echthaar. Lohnend insofern, da sich Haarverlängerungen und Echthaarperücken weltweit zunehmender Beliebtheit erfreuen. Unser Haar ist Spiegel und Aushängeschild der Persönlichkeit. Kräftig, voll und glänzend soll es sein. Doch nicht immer hat uns Mutter Natur mit dem Gewünschten ausgestattet. Oft fehlt es an der Menge oder der Länge. Deshalb helfen immer mehr Menschen nach – mit fremdem Haar.

Die künstliche Haarpracht stammt größtenteils aus Indien, gefertigt aus Haaren, die in den Tempeln von Gläubigen geopfert werden. Tirupati ist ein 24-Stunden-Betrieb mit 14.000 Angestellten. Kein anderer Tempel in Indien ist so gut organisiert, keiner so reich. Es kommen mehr Pilger als nach Mekka oder Rom, 50.000 an normalen Tagen, 19 Millionen im Jahr, um dem mächtigsten aller Götter Geld zu bringen oder… Haar. Tonnenweise. Langes, kurzes, schwarzes, graues. Indisches Echthaar.

Haarig geht es auch in Laetitia Colombanis Roman zu. Drei Einzelschicksale verflicht sie auf raffinierte und gekonnte Art und Weise zu einem überaus lesenswerten literarischen Zopf.

Da ist zum einen Smita im indischen Badlapur, deren Tochter Lalita in die Schule kommt, was absolut keine Selbstverständlichkeit ist, wenn man wie sie eine Dalit, eine Unberührbare ist. Doch die junge Frau hat gekämpft und das Unmögliche möglich gemacht. Ihre Tochter soll nicht wie sie, die Exkremente anderer mit bloßen Händen entsorgen und diesen widerlichen Gestank nicht mehr aus der Nase bekommen. „Meine Tochter wird Lesen und Schreiben können, sagt sie sich, und dieser Gedanke macht sie glücklich.“

In einem ganz anderen Szenario bewegt sich Sarah aus Montreal. Die erfolgreiche Anwältin, Mutter zweier Kinder, kämpft nicht mit den Widrigkeiten ihrer indischen „Schwester“. Die knapp Vierzigjährige, in der modernen westlichen Welt gern als Powerfrau bezeichnet, hat eine undurchlässige, aber fragile Mauer zwischen beruflichem und ihrem Privatleben errichtet, die allerdings durch einen persönlichen Schicksalsschlag einzustürzen droht.

Als Dritte im Bunde setzt die französischen Autorin die bücherverschlingende Giulia aus Palermo. Hier lebt sie als Tochter eines Familienunternehmens in vierter Generation, das den sizilianischen Brauch der Cascatura pflegt: Haare, die ausfallen oder abgeschnitten werden, zu sammeln, um später Toupets oder Perücken daraus zu fertigen. Aber das Geschäft stagniert. Als dann noch ihr Vater und Firmeneigner einen schweren Unfall hat, scheint das Verhängnis seinen Lauf zu nehmen.

Entstanden ist ein absolut lesenswertes kleines Kompendium, in dem Colombani nicht nur die drei Einzelschicksale beobachtet und kommentiert, sondern mit literarischen Stilmitteln, einer schönen Sprache – übrigens sehr gut von Claudia Marquardt ins Deutsche übertragen – und exzellenter Beobachtungsgabe, behutsam und sanft in den Lauf der Dinge eingreift, um ihm eine andere Richtung zu geben. Raffiniert gelingt es ihr, die finsteren und die lichtesten Momente des Lebens ganz nah zusammenzurücken, ohne zu emotionsduselig daherzukommen. „Es sind feine Schwingungen, kaum wahrnehmbar, aber doch vorhanden.“

Die französische Autorin beherrscht die große Kunst, weder zu dramatisieren, noch zu banalisieren und legt dabei eine unglaubliche Finesse an den Tag. Kraftvoll und feinfühlig zeichnet sie die doch so unterschiedlichen Einzelschicksale dieser drei Frauen und verwebt sie letztendlich auf raffinierte Art und Weise miteinander. Ausgrenzung, Krankheit und schmerzhafte Erfahrungen machen Smita, Giulia und Sarah am Ende nur noch stärker, als sie es sowieso schon waren. Die Worte von Mark Twain können daher als bezeichnender Schlusssatz stehen: „Sie wussten nicht, dass es unmöglich war, also haben sie es getan.“

 

Laetitia Colombani

Der Zopf

Originaltitel: La Tresse
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt

  1. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (22. März 2018)
    285 Seiten, Gebunden
    ISBN-10: 3103973519
    ISBN-13: 978-3103973518
    Preis: 20,00 EURO

 

 

 

 

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.