Joseph Beuys zum 100. Wie metaphysisch war er wirklich?

Foto: Stefan Groß

Die Kunstwelt hat ihn gefeiert und gehypt. Keinem deutschen Künstler der Nachkriegszeit wurde ein größeres mediales Echo zuteil. Und Beuys blieb zu Lebzeiten und weit über seinen Tod hinaus eine Ikone, einer, der neue Maßstäbe des künstlerischen Schaffens setzte, permanent provozierte und doch nur die heile Welt wollte. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Für die einen war er ein Scharlatan, ein überspitzender Provokateur, der sich in der Inszenierung suchte und fand, der die Kunst für seine egomanen Selbstzwecke instrumentalisierte, ein Überschätzer zugleich, der mit den Möglichkeiten der Kunst kokettierte – und doch nichts anderes als Banalitäten hervorbrachte. Einer, der fast symptomatisch immer das Gegenteil von dem tat, was man erwartete. Der Kunstkritiker Otto Heinrich Stachelhaus brachte es bereits 1996 auf den Punkt: „Er tat in Wahrheit immer das Andere, immer das was scheinbar abwegig war – 100 Tage auf der documenta reden, sich in Filz einwickeln, stundenlang auf einem Fleck stehen, mit einem Kojoten zusammenleben, Leuten die Füße waschen, Gelatine von der Wand nehmen, den Wald fegen, dem toten Hasen die Bilder erklären, eine Partei der Tiere gründen und das Messer verbinden, als er sich in den Finger geschnitten hatte.“

Im Geist des Widerspruchs

Für die anderen ist der vor hundert Jahren in Krefeld geborene legendäre Professor der Düsseldorfer Kunstakademie, der auf der „documenta 7“ 1982 mit seinen 7000 Eichen ein gigantisches Landschaftskunstwerk initiierte und sich damit wegweisend als Klimaschützer der ersten Stunde par excellence entwarf, eine Art Heiliger, ein Hirte, ein Schamane und Alchimist – ein Magier, der verzaubert. Beuys wird für seine Anhänger zur Symbolfigur, zur Inkarnation von Anarchie, zum Schmerzensmann, zum Kämpfer gegen die Spießer-Nachkriegsidylle, die sich unkritisch in ihren dekadenten Sofaecken sozial befriedet. Beuys, der entgegen der Moderne samt ihrem Rationalismus, in Metaphern und Symbolen arbeitet, wollte mehr. Er kämpfte gegen das Establishment in Politik, Gesellschaft und Kultur, gegen die glatt polierten Oberflächen des Banalen, gegen den Ungeist der Zweckoptimierung, gegen die Einseitigkeit des Rationalen, der er das Emotionale, das Animistische, das Magische und Ätherhafte entgegenstellte. Er kratzte förmlich an den bürgerlichen Fassaden, riss den bröckelnden Putz hinter den barocken Kulissen hinunter, stieg in die Brunnenstuben der Ohnmacht und entzündete dort für die Entrechteten und Geknechteten die Kerzen. Er legte sie offen, die Ambivalenzen dieser Welt, die Ängste, ihre Perversionen und schuf den Raum für das Verdrängte, für das Unheilige, für die Tiefendimension und den Weltinnenraum, jenseits von Zweckoptimierung und kapitalistischer Ausbeutung. Ja, Beuys war Mystiker zum einen und doch zutiefst leidenschaftlich pragmatisch andererseits. Nichts anders als die Welt zu verändern, war seine Vision. Doch diese kraftvolle Revolte suchte er nicht aus dem Gegebenen, dem Sinnlichen, der Materie heraus, sondern aus dem Geisthaften, dem Kosmos, mittels einer metaphysischen Ordnung. Um nichts weniger ging es dem Kaufmannssohn, der die katholische Volkschule in Kleve besuchte, der Cello spielte und zuerst mit Edward Munch, William Turner und Auguste Rodin majestätische Vorbilder entdeckte, die er dann mit seinem generellen Abschied vom Prinzipiellen, dem traditionellen Kunstbegriff, opfern und seine Idee der sozialen Plastik oder Skulptur entgegenstellen wird. Die soziale Plastik bedeutete für den Künstler eine Veränderung der Gesellschaft nicht aus dem Geist des in Blut getünchten, mit Opfern besiegelten Klassenkampfes, der in der wilden Revolution seine Hände beschmutzt, sondern eine Revolution aus der Kunst selbst heraus strebte er an.

Gesellschaftsordnung wie Plastik zu formen

Der Konsumgesellschaft der 60-er und 70-er Jahre stellte der zeitweise teuerste Künstler der Welt, teurer als die damaligen Pop-Art-Ikonen Robert Rauschenberg oder Andy Warhol, seine Vision einer sozialen Gesellschaft samt sozialer Plastik gegenüber. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ hieß das provokative Projekt. In jedem Individuum steckt das kreative Potential, künstlerisch tätig, kreativ und transformativ zu sein. Für Beuys galt es als „umfassende schöpferische Umgestaltung“ des Lebens „eine Gesellschaftsordnung wie eine Plastik“ zu formen. Und tatsächlich wollte er den „neuen“ Menschen, der sich progressiv zur Gesellschaft hin verhält, der selbst Kristallpunkt der sozialen Frage ist, personalisierte Skulptur quasi, die die Welt verändert. Und Kunst derart performativ verstanden, überschreitet ihr traditionelles Sujet als materiell zu fassendes Artefakt und kulminiert in „Fluxus“, Enviroment und Happening. Es ist nicht mehr das Kunstwerk als statische Bezugsgröße, als vielleicht postmodern variable Form der freien Sinnauslegung, auf das alles ankommt, sondern es ist wie bei der Fluxus-Bewegung die schöpferische Idee, die alles überragt und allem Sinnlichen Sinn verleiht.

Die Wunden heilen

Joseph Beuys wusste, dass sich die am Materialismus erkrankte westliche Welt nicht selbst zu transformieren weiß. Und dementsprechend harsch und radikal fiel seine Kritik am Kapitalismus dann eben auch aus. Der neoliberalen Optimierungsmaschinerie, die wie ein Gewehrfeuer brausend, knatternd und unerbärmlich nur ein Weiter und Immerfort kennt, stellte er ein Ideal vom Menschen gegenüber, der durch sein kreatives Handeln zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt und dadurch plastisierend auf die Gesellschaft einwirken könne. Dem maschinellen Raubtierkapitalismus mit seiner perfiden Ratio und der ihm inhärenten Mentalität einer ihm wesenseigenen Ausbeutung setzte er seine Vision von Brüderlichkeit entgegen, einen wahrhaften, keineswegs doktrinär-diktatorisch eingefärbten Sozialismus. Und genau für seine sozialen Zukunftsvisionen interessierte Beuys immer wieder die Natur und die Tierwelt. Idealtypisch für die neue Vision wurde der Wärmecharakter des Bienenstocks als Metapher, um zu zeigen, wie sich die Eigeninteressen dem Gesamtwohl unterordnen. Der Bienenstock wie die legendäre „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ auf der „documenta 6“ 1977 in Kassel, die Stoffe Filz und Fett, werden für ihn zu Existentialen, aus denen seine Kunst erstrahlt. Und immer lautete sein Credo: Das Eigene zurückstellen und sich dem Ganzen befördernd unterordnen. Dieser Programmatik lag zweifelsohne ein humaner Impuls zugrunde, der Bienenstock glich einer Art sozialer „Wärmeskulptur“.

Es sind immer wieder die armen, dürftigen, traurigen Materialien gewesen, die verfemten und verleugneten, die der Glitzerwelt der Metropolen nicht entsprechen, weil sie Dürftigkeit als Gewand tragen, die der Kunstprofessor zum Sprechen und Leuchten bringen will. Und so wird es eine Arte Povera, um die der ebenso medial-scheue wie Blitzlichtgewitter atmende Schüler von Rudolph Steiner von Ewald Mataré, Joseph Beuys, kreist. Dass er sich von seinen hehren Idealen auch nicht von einem SPD-Minister aus der Umlaufbahn werfen ließ, musste der damalige Johannes Rau erfahren. Der spätere Bundespräsident hatte Beuys 1972 entlassen, weil dieser, gemäß seinem Credo, jeder sei ein Künstler, zu viele Studenten in seine Kunstakademiekurse zuließ und die Akademie in Düsseldorf mit spektakulären Aktionen besetzte. Doch seine Schüler skandierten: „1000 Raus ersetzen noch keinen Beuys.“

Der grüne Beuys und die Metaphysik

Erde, Natur, die Verbundenheit mit der Scholle – dafür steht der grüne Beuys, der weit früher als Jutta Ditfurth, Petra Kelly, Thomas Ebermann, Rainer Trampert, Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit die Ideen der Grünen realisierte. So sehr Beuys grün denkt und handelt, sein Naturbegriff verdankt sich völlig anderen Fundierung, eben einer metaphysischen Fundierung. Beuys plädiert für ein ganzheitliches Weltbild, spielt mit animistischen Denkansätzen, wo alles – wie bei der Signaturenlehre der Alchemisten – belebt wird, wo alles Spur oder Zeichen eines allumfassenden Geistes ist. Die Welt bestehe gar aus verstreuten göttlichen Funken, die zu einem Urlicht gehören. Und Beuys, der Provokateur, glaubt, dass die Kunst sowohl die Welt in ihrer Zerrissenheit darstellt, diese aber zugleich wieder auf höherer Ebene versöhnt. Mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner sucht er die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten jenseits der physischen Welt. Er will mit seiner metaphysischen Kunsttheorie nicht Materialbrocken zu skurrilen oder provozierenden Collagen zusammenfügen, sondern in höhere Welten ausgreifen. Ihm geht es um das Ganze und Große, um das Mysterium von Leben und Tod, um die Verwandlung, das Wechselspiel. Doch wie bei Steiner sollten Himmel und Erde nicht unvermittelt nebeneinander stehen, Metaphysik und blanke Physik galt es zu verbinden, dass „Rein-Geistige“ mit dem Alltäglichen zu konfrontieren. Beuys, der 1986 nach einer seltenen Entzündung des Lungengewebes, einer interstitiellen Pneumonie, an Herzversagen starb, wollte das Heilige in die Städte hinabholen und auf die Märkte tragen. Wie der Romantiker Novalis und der Philosoph Schelling spricht er vom Weltgeist, vom Gehirn als einer „materiellen Unterlage des Denkens“, das an höhere geistige Prozesse angeschlossen ist. Und dieses Angeschlossen-Sein an den Ursprung ermöglicht dem Geist zu empfangen und zu geben, passiv und aktiv zu sein. Als höchste Form des Inspiriertseins ist das Denken an den kreativen Strom der Evolution angeschlossen – und wie es in der „Lembruck-Rede“ heißt, selbst Skulptur.

Der Versöhner

Wie für seinen Lehrmeister Steiner und dessen Anthroposophie führt Freiheit immer über spirituelle Erkenntnis, bedarf der Kräfte der Inspiration, Intuition und Meditation. Doch hieran sieht Beuys seine Welt erkrankt, zeichnet sein Unbehagen an der Kultur, die unter dem Einfluss des Rationalismus und Materialismus den Bezug zum Geistigen verloren habe. Und genau hier sucht er die Wunden zu heilen, die die Welt geschlagen hat. Steiner einerseits, Platon andererseits. Beuys will das rein Rationale durch das Geistige brechen, will mit seiner Kunst neben der Provokation eine Sensibilisierung erreichen. Er selbst versteht sich als „göttlicher Plastiker.“ Kunst und Anthroposophie versteht er als Heilmittel, als Arzneien, die auch in ihrer Dürftigkeit als Filz, Fett, Lehm einerseits und aus edlen Materialien wie Honig, Gold, Kupfer und Basalt, die Welt in ihrer Fülle, als Ausgießung des Weltgeistes, darstellen. Der Künstler, und darin sieht sich Beuys, stiftet qua Inspiration und Intuition Hoffnung, bleibt als spiritueller an die Evolution angeschlossen, spiegelt diese ewigen Evolutionsvorgänge in der Natur, in seinem Denken und der sozialen Skulptur wieder und erweist sich so als plastisch-schöpferischer Gestalter. Wie die Natur ihren ewig-schöpferischen Prozess vollzieht, gestaltet Beuys die ewigen Muster in seiner plastischen Theorie nach. Materialien wie Fett variiertet er spielerisch zwischen den Polen des Amorphen und Geformten und lässt sie so zu Spiegelbildern des Kosmisch-Metaphysischen werden. Und wenn er buchstäblich in seiner Kunst das Unschöne, Hässliche, Alter, Tod, Schwäche und Verfall zeigt, so ist das ausdrücklich die andere Seite des Kosmos, die aufzuzeigen, zu benennen er als die heilende Funktion der Kunst verseht. Und so erwächst das vom Leben oft Verdrängte zum Ort des spirituellen Anstoßes, zur Selbstversicherung und erweist sich letztendlich als der Hort der Spiritualität, der Kosmisches und Endliches miteinander versöhnt. Und für diese generelle Versöhnung steht letztendlich auch Joseph Beuys.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".