Die Angst der Kommunisten vor dem Volk – Der dritte Band der Erinnerungen von Egon Krenz

Egon Krenz: Verlust und Erwartung. Erinnerungen, Verlag Edition Ost, Berlin 2025, ISBN 978-3-360-02817-4.
Egon Krenz: Verlust und Erwartung. Erinnerungen, Verlag Edition Ost, Berlin 2025, ISBN 978-3-360-02817-4.

Der Leser ist enttäuscht und verbittert: Im dritten Band endlich der Lebenserinnerungen eines SED-Spitzenfunktionärs hätte er sich Aufklärung erhofft über das Scheitern des Sozialismus und die von der Staatspartei seit 1949 begangenen Verbrechen, geliefert aber bekommt er eine Rechtfertigungsschrift voller Ausreden, Beschönigungen und Weglassungen!

In 39 Kurzkapiteln wird hier der Untergang des SED-Staates vor fast 36 Jahren nacherzählt. Der Autor, der hiervon berichtet, ist im Herbst 1989, nachdem er seinen Vorgänger Erich Honecker am 18. Oktober stürzen konnte, mit 52 Jahren der mächtigste Mann im Staat. Aber auch er kann die Entwicklung nicht aufhalten, die längst in eine andere Richtung läuft, als von ihm erhofft. Er will „die Partei und unser gesellschaftliches System“ reformieren, aber die „sozialistischen Grundlagen“ nicht aufgeben. Dafür ist es aber jetzt zu spät, denn das viel beschworene Volk, in dessen Auftrag die DDR-Regierung angeblich handelt, will das alles nicht mehr, es will die Freiheiten, die die Demokratie bietet. Gegen die Ausreisewünsche der DDR-Flüchtlinge in Ungarn, Prag und Warschau empfiehlt er den SED-Funktionären Verstärkung der „politisch-ideologischen Arbeit“. Für das Jahr 1990, wo der XII. SED-Parteitag ansteht, schlägt er eine „gründliche Volksaussprache“ vor.

Was Egon Krenz in diesen turbulenten Wochen vor dem 9. November 1989 unternimmt, ist der bei solchen Begleitumständen zum Scheitern verurteilte Versuch, die Machtpositionen der SED-Nomenklatur zu erhalten und zugleich die Reformwünsche der aufbegehrenden Bevölkerung zu befriedigen. Während die Leipziger Demonstranten jeden Montagabend auf ihrem Marsch durch die Innenstadt rufen „Wir sind das Volk!“, weist er den Vorschlag des Akademiepräsidenten Manfred Wekwerth, das „Machtmonopol unserer Partei zu brechen“, empört zurück und bezeichnet es als „politischen Selbstmord“. Die Quittung dafür bekommt er bei der Bundestagswahl am 2.Dezember 1990, wo die SED-Nachfolgepartei PDS, aus der er inzwischen, am 21. Januar 1990, ausgeschlossen wurde, nur noch 2,4 Prozent bekommt.

Bei seinen Anstrengungen, den 1989 untergehenden Staat zu verteidigen, um von seinen Genossen nicht der Feigheit vor dem westdeutschen „Klassenfeind“ bezichtigt zu werden, versteigt sich Egon Krenz zu unglaublichen Behauptungen wie „Die Gewaltlosigkeit gehörte zum humanistischen Erbe der DDR“. Gab es denn nicht Hunderte von Mauertoten und erschossenen Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze, um nur ein Beispiel zu nennen? Mit Kopfschütteln nimmt man zur Kenntnis, dass der Staatsratsvorsitzende auf Abruf tatsächlich geglaubt hat, dass die Bevölkerung der DDR-Regierung „ihr Vertrauen entzog“, weil „wir als Führung unsere Glaubwürdigkeit verloren hatten“? Wann in den vier DDR-Jahrzehnten 1949/89 sollte denn das gewesen sein, dass „das Volk“ Vertrauen zu einer Regierung gehabt hätte, die von der russischen Besatzungsmacht eingesetzt war? Hat er denn noch nie vom Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 gegen die „Arbeiterregierung“ gehört? Weiß er nichts von der Massenflucht von DDR-Bürgern nach Westberlin bis zum Mauerbau am 13. August 1961. Kennt er das am 11. Dezember 1957 einstimmig von der „Volkskammer“ beschlossene „Strafrechtsergänzungsgesetz“ nicht, wo alle Freiheiten, die eine Demokratie auszeichnen, als „staatsfeindliche“ Akte unter Strafe gestellt wurden?

Es ist wahrlich kein Vergnügen, diese 344 Seiten Bekenntnisse und Einsichten eines gescheiterten Politikers lesen zu müssen! Wen interessiert denn heute noch, wen er in der Sauna, im Politbüro oder bei Gartenfesten getroffen hat? Echte Gegner, die ihm widersprochen und sein schiefes Weltbild zurechtgerückt hätten, waren nicht darunter, zumal er ohnehin nicht belehrbar gewesen wäre! Leider ist er auch zu nüchterner Bestandsaufnahme des Geschehenen mit anschließender Analyse nicht fähig. Das mag seine Erklärung darin finden, dass der Marxismus-Leninismus, der ihm während des Studiums 1964/67 an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau eingetrichtert wurde, ihm nun den gnadenlosen Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Dort wurde ihm beigebracht, dass in absehbarer Zeit auch der westdeutsche Kapitalismus von einer sozialistischen Umwälzung verdrängt werden würde. Und dann kam es genau umgekehrt: Egon Krenz will nicht sehen, dass im Herbst 1989 zwischen Rostock und Sonneberg eine Revolution ausgebrochen ist, die zum Einsturz der Mauer führte. Für ihn, den Marxisten, ist dieses unbegreifliche Geschehen das Werk der „Konterrevolution“!

Also klammert er sich daran, dass auch DDR-Oppositionelle wie die Malerin Bärbel Bohley und DDR-Schriftsteller wie Christa Wolf mit ihrem Aufruf „Für unser Land“ (26. November 1989) eine eigenständige DDR nach dem Niedergang des Sozialismus erhalten wissen wollten. Man fragt sich nur, wie das hätte funktionieren sollen: Zwei deutsche Staaten, von denen der eine, der reichere, den anderen, der nun den „wahren Sozialismus“ aufbaut, finanziert?

Eine „Fehlerdiskussion“, wie sie auch 1953 nach dem Aufstand vom 17. Juni vom Politbüro verweigert wurde. findet in diesem Buch nicht statt. Die einzige Kritik, die sich der Autor erlaubt, ist der Satz „Als Kollektiv haben wir versagt.“ Und das ist beschämend wenig, wenn man die gewaltigen Schäden bedenkt, die der SED-Staat in 40 Jahren angerichtet hat. Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte trägt dieses Buch herzlich wenig bei, weil es dem Autor nicht gelingt, sein ideologisch eingegrenztes Geschichtsbild zu überwinden!

Egon Krenz „Verlust und Erwartung. Erinnerungen“, dritter Band, 352 Seiten, 26.00 Euro, Verlag Edition 0st, Berlin 2025

Über Jörg Bernhard Bilke 278 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.