Deutschland versteht sich heute als eines der wohlhabendsten und demokratischsten Länder Europas. Zugleich ist es das Land, das zwei der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts – den Ersten und den Zweiten Weltkrieg – maßgeblich mitverursacht hat. Acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt sich ein alarmierendes Phänomen: Kinder und Jugendliche radikalisieren sich erneut. Nicht am Rand der Gesellschaft, sondern mitten unter uns – in Schulen, in Vereinen, in Familien.
Sie zünden Flüchtlingsunterkünfte an, sprühen Hakenkreuze auf Wände, filmen sich bei Hassaktionen und sind dabei oft erst 14, 15 oder 16 Jahre alt. Ihre Gesichter wirken unschuldig, doch ihre Taten erinnern an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Die Frage drängt sich auf: Was läuft so falsch, dass Kinder beginnen zu denken und zu handeln wie ihre Großeltern in den 1930er-Jahren?
Dies ist kein Alarmismus, sondern Realität. Spätestens seit der Aufdeckung der rechtsextremen Jugendgruppe „Letzte Verteidigungswelle“ (LVW) im Frühjahr 2024 ist klar: Die neue rechte Szene rekrutiert gezielt Jugendliche und formt sie zu Überzeugungstätern.
Ursachen und Verantwortung: Kinder folgen der ersten ausgestreckten Hand
Radikales Denken entsteht nicht aus dem Nichts. Es ist das Produkt von Propaganda, Vernachlässigung und fehlender Bindung an demokratische Werte. Kein Kind wird als Rassist geboren. Kinder lernen durch Vorbilder, durch Sprache, durch Bilder. Sie übernehmen, was ihnen vorgelebt wird.
Ein 14-Jähriger, der eine Geflüchtetenunterkunft anzündet, handelt nicht aus dem Nichts. Er spiegelt wider, was ihm fehlt: Anerkennung, Sicherheit, Orientierung. Deshalb liegt die Verantwortung nicht allein bei den Jugendlichen, sondern auch bei Familien, Schulen, Politik und Gesellschaft.
Die „Letzte Verteidigungswelle“ – Wenn Hass zum Jugendprojekt wird
Im April 2024 geriet die bis dahin unbekannte Gruppe „Letzte Verteidigungswelle“ ins Visier der Sicherheitsbehörden. Ihre Mitglieder waren zwischen 14 und 18 Jahre alt – Schüler, Auszubildende, junge Erwachsene. Rekrutiert wurden sie über soziale Netzwerke wie Telegram, TikTok und Instagram. Nicht Argumente überzeugten, sondern Emotionen: Wut, Angst, Stolz.
Die Ermittlungen 2024/25 deckten erschreckende Pläne auf: Anschläge auf Asylunterkünfte, linke Zentren und jüdische Einrichtungen. Zwei 15-Jährige filmten sich bei einem Brandanschlagversuch auf eine Geflüchtetenunterkunft – inspiriert von den NSU-Terroristen. Ihre Rechtfertigung: „Wir schützen Deutschland.“
Was sie in Schule, Familie und Gesellschaft nicht fanden, erhielten sie in einer digitalen Parallelwelt: Anerkennung durch Hass.
Eine Szene mit vielen Gesichtern
Die „Letzte Verteidigungswelle“ ist kein Einzelfall. Sie steht für eine wachsende Struktur rechter Jugendsubkulturen in Deutschland:
- „Jung und Stark“ – loser Zusammenschluss radikaler Jugendlicher mit Kampfsport-Trainings.
- „Die Saboteure“ – Kleingruppen in Bayern, spezialisiert auf Angriffe gegen linke Treffpunkte.
- „Abland-Revolution“ – Netzwerk in Sachsen, das sich als „neue nationale Bewegung“ versteht.
- „Deutscher Nachwuchsstürmer“ – bewusst in Anlehnung an die Sprache der Hitlerjugend.
Alle Gruppen nutzen moderne Mittel mit faschistischer Botschaft: Videos mit dramatischer Musik, Erzählungen von „Identität“ und „Verteidigung“, kombiniert mit antisemitischen Codes und Verschwörungstheorien. Für viele Jugendliche wirken diese Inhalte wie „Wahrheiten“ – besonders dann, wenn sie nach Zugehörigkeit suchen.
Verantwortung: Gesellschaft, Politik und digitale Räume
Die Verantwortung liegt nicht allein bei den Jugendlichen. Vielmehr tragen dazu bei:
- Extremistische Influencer und Kanäle, die Hass als Lifestyle inszenieren.
- Rechtspopulistische Politiker, die mit Begriffen wie „Umvolkung“ oder „Remigration“ gezielt Ängste schüren.
- Parteien wie die AfD, die über ihre Jugendorganisation oder Tarnprojekte in Schulen Einfluss auf Jugendliche nehmen.
Es wäre naiv zu glauben, dass diese Jugendlichen „von selbst“ kommen. Sie sind das Produkt einer gezielten Strategie, die auf die Verletzlichkeit junger Menschen setzt – und das Ergebnis einer Gesellschaft, die Verantwortung zu lange abgeschoben hat.
Digitale Parallelwelten und die Macht der Algorithmen
Soziale Medien wirken als Katalysator:
- TikTok: Nach wenigen Klicks auf migrationskritische Inhalte erscheinen radikalere Videos über „Bevölkerungsaustausch“ oder antisemitische Hetze.
- Telegram: Geschlossene Gruppen dienen als Räume für Indoktrination, Gewaltfantasien und Planung.
Jugendliche suchen Zugehörigkeit – und bekommen sie hier in scheinbar klaren Antworten.
Versagen von Elternhaus, Schule, Politik und Gesellschaft
Die Radikalisierung von Kindern ist das Ergebnis struktureller Versäumnisse:
- Familien: Überforderung, Abwesenheit oder Gleichgültigkeit verhindern eine emotionale Bindung und politische Bildung im Elternhaus. Viele Eltern vertreten entweder sehr rechte Ansichten oder befürworten rechte Kräfte und Parteien wie die AfD.
- Schulen: Politische Bildung wird zu oft vernachlässigt. Fast die Hälfte aller Jugendlichen weiß nicht, was das „Dritte Reich“ war. Zehn Prozent der Lehrkräfte sind potenzielle Wählerinnen der AfD. Die rechtsextreme AfD stiftet Schülerinnen an, kritische Lehrkräfte zu denunzieren. Die Regierung unterschätzt die Lage.
- Politik: Projekte zur Prävention sind unterfinanziert, Jugendarbeit wird gekürzt, Symbolpolitik ersetzt nachhaltige Strategien. Auch hier gilt: Die Regierung unterschätzt die Lage.
- Gesellschaft: Gleichgültigkeit, Zynismus und struktureller Rassismus schaffen ein Klima, in dem Jugendliche anfällig für extremistische Erzählungen werden.
Fünf Handlungsfelder gegen Radikalisierung
- Frühe Elternarbeit: Unterstützung und Aufklärung über digitale Gefahren.
- Schulen als Demokratieräume: Politische Bildung verbindlich und praxisnah.
- Regulierung digitaler Plattformen: Algorithmen, die Hass verstärken, müssen gesetzlich begrenzt werden.
- Jugendhilfe und Sozialarbeit stärken: Streetworker als Schlüsselakteure benötigen Ressourcen.
- Gesellschaftliche Haltung: Klare Abgrenzung gegenüber rechter Hetze; Demokratie muss aktiv verteidigt werden.
Schlussfolgerung: Die Kinder sind nicht das Problem – sie sind das Warnsignal
Ein 14-Jähriger, der ein Flüchtlingsheim anzündet, ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem ist eine Gesellschaft, die ihn so weit kommen lässt.
Wir leiden nicht an einem Mangel an Sicherheit, sondern an einem Mangel an Sorge, Verantwortung und Orientierung. Radikalisierte Jugendliche sind ein Symptom einer Gesellschaft, die Geschichte verdrängt und schmerzhafte Fragen scheut.
Wenn wir unsere Kinder schützen wollen, reicht es nicht, über sie zu sprechen. Wir müssen mit ihnen sprechen – und vor allem zuhören, bevor andere es tun, die ihre Wut und Einsamkeit in Hass verwandeln.
Literaturverzeichnis
Amadeu Antonio Stiftung. (2025). Razzia gegen „Letzte Verteidigungswelle“ – Wenn Jugendliche Rechtsterroristen werden. Abgerufen von https://www.amadeu-antonio-stiftung.de
Euronews. (2025, 21. Mai). Festnahmen nach Razzia gegen rechtsextreme Gruppierung „Letzte Verteidigungswelle“. Abgerufen von https://de.euronews.com
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Tagesschau. (2025, Mai). Zwei Jugendliche aus MV vor Bundesgerichtshof – Terrorermittlungen. Abgerufen von https://www.tagesschau.de
ZEIT Online. (2025, Mai). „Letzte Verteidigungswelle“: Extrem jung, extrem schnell radikalisiert. Abgerufen von https://www.zeit.de
