Der Angriff von innen – Vom Amokflug zum Massenmord

Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika, Foto: Stefan Groß

Als am 11. September 2001 vier Passagierflugzeuge zum Massaker eines terroristischen Massenmordes missbraucht wurden, war dies ein Schock für die westliche Welt. Zwei dieser vier Flugzeuge zerstörten die Türme des World Trade Centers in New York. Fast 3000 Menschen verloren damals ihr Leben. 9/11 wurde zum Symbol für den modernen Terror und auch ein Zeichen für die Vulnerabilität der zivilen Luftfahrt. Seit dieser fundamentalen Erschütterung sollten zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen den Flugpassagieren ein neues Vertrauen in die Sicherheit des zivilen Luftverkehrs vermitteln. Am 25. März 2015 schockte der Copilot der Germanwings Flug 4 U 9525 Andreas Lubitz mit seinem Amokflug erneut die ganze Welt. Wieder geschah etwas vollkommen Unfassbares. Die neuen Sicherheitsvorkehrungen bestanden u.a. aus einer schwer zu durchbrechenden Panzertüre zum Cockpit mit einem komplexen Sicherungscode-System, das die Piloten vor feindlichen Angreifern von außen schützen sollte. Nun stellte sich heraus: der Angreifer saß schon innen im Cockpit. Vieles deutet darauf hin, dass Andreas Lubitz diesen Amokflug geplant hat. Es war vermutlich keine Kurzschluss- oder Impulshandlung. Er wartete berechnend auf eine günstige Gelegenheit für sein verbrecherisches Vorhaben. „Gelegenheit macht Diebe“ sagt ein deutsches Sprichwort. Es gibt auch günstige Gelegenheiten für Verbrechen und diese treten dann auch wahrscheinlicher auf. Dies hat schon William Shakespeare in seinen Dramen ebenso beschrieben wie Honoré de Balzac in seinen Romanen. Als der Flugkapitän kurz zur Toilette ging, war die günstige Gelegenheit da: Der Copilot verbarrikadierte die Cockpit-Türe und brachte das Flugzeug in den tödlichen Sinkflug, der das Flugzeug und alle Menschen in ihm an den Felsen zerschellen ließ.

Jetzt nach der zweiten Erschütterung der Luftfahrt im 21. Jahrhundert muss wieder umgedacht und gehandelt werden. Nicht nur die Angreifer von außen, sondern auch die Angreifer von innen stehen jetzt im Visier der Sicherheitsexperten. Ob das Vier-Augen-Prinzip im Cockpit dieses Problem alleine lösen wird, erscheint fraglich. Weitere Fragen müssen beantwortet werden. Die Persönlichkeit des Piloten bekommt eine neue Bedeutung. Haben sich die Gesundheits-Checkups bisher überwiegend auf die körperliche Gesundheit bezogen, so scheinen nun vermehrt psychologische Verlaufsuntersuchungen sinnvoll. Schon lange wird ja die Relevanz von Alkohol, Drogen und psychotropen Medikamenten bei Piloten diskutiert. Nun werden verständlicherweise auch psychische Erkrankungen diskutiert, bei denen Amokflüge drohen können. In den letzten Tagen haben sich bereits zahlreiche Depressionsexperten in den Medien geäußert. Vollkommen zu Recht wiesen sie darauf hin, dass ein depressiver Mensch so etwas nicht tut. Das passt nicht zur Psychodynamik und Psychopathologie der Depression. Psychosen und Persönlichkeitsstörungen kommen da schon eher in Frage. Es erscheint sinnvoll, diese dramatische Neuheit des Amokfluges im Kontext anderer ähnlicher Phänomene zu betrachten. Es geht hier um Formen von Suizid, in denen gezielt, geplant und bewusst der Tod zahlreicher unschuldiger Menschen in die Suizidhandlung mit einbezogen wird. Hier sind die Vergleiche mit Amokläufen und Geisterfahrern sinnvoll. Auch hier finden wir bei der Suizidmotivation das Bedürfnis, andere unschuldige Menschen in den Tod mitzunehmen. Es ist bemerkenswert, dass diese Phänomene erst seit etwa zwei Jahrzehnten vermehrt auftauchen. Das Gemeinsame von Amokläufern, Geisterfahrern und Amokfliegern ist in den meisten Fällen das Vorliegen einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Diese klinische Diagnose wird in der Fachwelt seit 50 Jahren umfassend beschrieben und diskutiert. Es dauerte jedoch lange, bis sie einen adäquaten Platz in den internationalen Diagnoseschemata gefunden hat. Das Klassifikationsschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO erwähnt die Diagnose „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“ nebenbei unter der Ziffer 60.8 „andere spezifische Persönlichkeitsstörungen“. Es enthält keine differenzierte Darstellung dieser Störung. Dies wird sich mit dem neuen psychiatrischen Klassifikationsschema DSM-5 endlich ändern. Hier wird die Narzisstische Persönlichkeitsstörung ausführlich nach signifikanten Diagnosekriterien beschreibt. Dadurch dürfte in Zukunft die wissenschaftlich fundierte Forschung deutlich gefördert werden. Wer aufmerksam die aufsehenerregenden Mordprozesse vor deutschen Gerichten verfolgt, wird bemerkt haben, dass die psychiatrischen Gutachter in letzter Zeit sehr oft die Diagnose einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung bei Straftätern stellten. Otto Kernberg, einer der weltweit führenden Narzissmus-Forscher, vertritt die Auffassung, dass in einer klinischen Population der Forensischen Psychiatrie 90 % aller Straftäter eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung haben. Die Narzissmus-Forscherin Jean M. Twenge von der San Diego State University konnte in einer Kohortenstudie an Studenten im Vergleich über Jahrzehnte nachweisen, dass die Narzisstischen Persönlichkeitsstörungen in Amerika an Häufigkeit deutlich zunehmen. Ihr neues Buch trägt sinnigerweise den Titel „Die narzisstische Epidemie“. Es werden sicherlich noch zahlreiche kriminologische und fachpsychologische Untersuchungen im Umfeld von Andreas Lubitz erforderlich sein, um das Mosaik zu vervollständigen. Offensichtlich gab es ja schon im Verlauf mehrerer Jahre psychische Krisen mit Suizidalität und psychiatrische Vorbehandlungen. Trotz aller „psychologischer Autopsie“ und posthumer Analysen dürften wohl auch offene Fragen bleiben.

Amokflüge sind ja viel seltener als Geisterfahrer auf deutschen Autobahnen oder Amokläufe. Erschreckend und herausfordernd ist jedoch die hohe Zahl der Opfer und die Tatsache, dass es meistens überhaupt keine Überlebenden gibt. Die Gemeinsamkeit der Täter, die sehr oft unschuldige Menschen mit in den Tod reißen, ist meist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung. Der pathologische und zerstörerische Narzissmus ist offensichtlich die Kehrseite des erfolgreichen Narzissmus, der unser Wirtschaftssystem und zahlreiche Bereiche unseres modernen Lebens prägt. Nicht zufällig legte der amerikanische Soziologe Christopher Lasch im Jahre 1980 eine eindrucksvolle Untersuchung „Das Zeitalter des Narzissmus“ vor, die diese Zusammenhänge sehr anschaulich darstellt. Narzisstisch gestörte Täter, die unschuldige Menschen mitnehmen, sind allesamt gescheiterte Narzissten. Ihre Motive und Affekte sind Hass, Neid, Zerstörungswut und Rachebedürfnisse. Die moderne Technik gibt diesen Persönlichkeiten das Werkzeug in die Hand, mit dem sie auf einen Schlag mehr als hundert unschuldige Menschen töten können. Und sie tun es auch und werden es auch in Zukunft tun. Wir alle müssen für diese Phänomene wachsamer werden und uns besser schützen.
Herbert Csef ist Arzt, Psychoanalytiker und Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg

Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.

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