Der Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ von Ursula Krechel. Parallelen zur Causa Frauke Brosius-Gersdorf

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 Die frisch preisgekrönte Georg-Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel hat es nicht wissen oder ahnen können. Am Tag ihrer Preisankündigung am 15. Juli 2025 tobte gerade im realen Leben ein Skandal, der viele Parallelen zu ihrem erst kürzlich erschienenen Roman hat. Zufall, Fügung, Koinzidenz oder Synchronizität? Offensichtlich hat die Schriftstellerin intuitiv etwas vorweggenommen, etwas, das quasi schon in der Luft lag. Jedenfalls hat sie mit ihrem neuen Roman einen bedeutsamen Nerv getroffen.

Parallelen von Roman und realer politischer Affäre 

Im Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ von Ursula Krechel, der im Januar 2025 im Verlag Klett-Cotta erschienen ist, werden vier Frauenschicksale gezeigt, die zum Opfer von Gewalt wurden: eine wurde ermordet (Agrippina, die Mutter von Kaiser Nero), eine wurde Opfer eines Messerangriffs (die Justizministerin), eine wurde entlassen (Eva Patarak) und eine verblutete fast und musste operiert werden (Lateinlehrerin Silke Aschauer). Der Roman spielt in NRW in der Stadt Essen in der Gegenwart. Das Duett Agrippina/Nero erscheint als „historische Klammer“, die thematisch vielschichtig im Roman verwoben ist. Für die folgenden Überlegungen interessiert die Justizministerin des Romans. Welche Parallelen bestehen aktuell zu Frauke Brosig-Gersdorf?

In beiden Fällen wird eine Top-Juristin Opfer eines Anschlags – im Roman ist es ein Messerangriff, bei Frauke Brosius-Gersdorf sind es öffentliche Diffamierung, eine symbolische „mediale Hinrichtung“, Hass-Mails und Morddrohungen. Wodurch kam sie ins Rampenlicht? Die SPD nominierte sie als Kandidatin für ein Richteramt beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Kontroversen in den Medien und bei den Parteien des Deutschen Bundestages wechselten sich ab. Frauke Brosius-Gersdorf ist seit dem Jahr 2021 Professorin für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verfassungs- und Sozialrecht an der Universität Potsdam und hat eine tadellose juristische und wissenschaftliche Karriere hinter sich. Warum plötzlich so viel Gegenwind und so viel Aggression? Hier liegt eine weitere Parallele zwischen Roman und dem realen Fall. Bei beiden geht es um „strukturelle Gewalt“. Beide sind Karrierefrauen und haben sich in die Sphäre politischer Macht gewagt. Beide wurden Gewaltopfer.

In der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland kam es bei der Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht wiederholt vor, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat zurückgezogen wurde, weil es Proteste oder Widerstände anderer Parteien gab. Die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf hatte sich im Vorfeld akzentuiert zu den Themen Schwangerschaftsabbruch, Impfpflicht und AfD-Verbot geäußert, in denen viel politischer Zündstoff liegt. Die Widerstände bei Unionsabgeordneten gegen die SPD-Kandidatin sind deshalb nicht überraschend. Das Besondere im Fall von Frauke Brosius-Gersdorf liegt in der Vehemenz und der Aggressivität, wie die Kontroversen in der Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Selbst in der konservativen FAZ wurde im Beitrag von Patrick Bahners von einem „Angriff aus dem Hinterhalt“ gesprochen.  Bundeskanzler Friedrich Merz charakterisierte die Debatte als „unsachlich, beleidigend und herabwürdigend“, wohl wissend, dass ein Großteil der Kritik an der Kandidatin aus seiner Partei CDU kam.

Die Justizministerin im Roman von Ursula Krechel wurde zumindest körperlich durch eine Notoperation gerettet. Das Schicksal von Frauke Brosius-Gersdorf ist noch offen. Ob sie noch Verfassungsrichterin werden wird „steht in den Sternen“.

Ursula Krechel sieht den Rechtsstaat in Gefahr 

In mehreren Interviews betonte Ursula Krechel, dass Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine für sie der entscheidende „Impulsgeber“ für ihren Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ war. Die barbarischen Kriegsverbrechen und die Brutalität des Krieges erschütterten sie. Sie sah die Demokratie und den Rechtsstaat in den westeuropäischen Ländern in Gefahr. Diese globale und kollektive Herausforderung transportierte sie in ihrem Roman in die Gegenwart der Stadt Essen und zeigte dort drei weibliche Opfer von Gewalt. Dies ist ihr hervorragend gelungen.

Die Sorge um den Rechtsstaat treibt auch die Justizministerin im Roman um. Deshalb plädiert sie im Wahlkampf für mehr Vertrauen in den Rechtsstaat. Im Roman ist auf Seite 258 zu lesen: „Wenn die Ministerin Vorträge hielt, war ihr Lieblingsthema: Das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.“ Um die Zukunft und Sicherheit des Rechtsstaats geht es aktuell auch im Fall Frauke Brosius-Gersdorf und in der umstrittenen Richterwahl. Es ist wohl ein Gütekriterium der Demokratie, dass um diese Grundwerte der Verfassung und des Rechtsstaates leidenschaftlich gerungen wird.

Literatur

Bahners, Patrick, Fall Brosius-Gersdorf. Ein Angriff aus dem Hinterhalt. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juli 2025

Huld, Sebastian, Eine Frau muss sich wehren. Die verlorene Ehre der Frauke Brosius-Gersdorf. Ntv-online vom 16. Juli 2025

Krechel, Ursula, Sehr geehrte Frau Ministerin. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2025

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email: herbert.csef@gmx.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.