Deutscher Reporterpreis 2023 für „Unter Heiden“

Deutscher Reporterpreis 2023 (Foto: reporter-forum.de)

Den Preis für den besten Essay gewann Tobias Haberl für seinen ironisch vorgetragenen Kirchenbesuch. Beste Investigation für einen Bericht über den Tod von Flüchtlingen vor der italienischen Küste. Beste Reportage für ein im Taifun gesunkenes Schiff auf dem Weg nach China. SZ und Die Zeit sind die großen Gewinner des Deutschen Reporterpreises 2023. Von Johannes Schütz.

Wolle er nicht zu Hause hocken, so setze er sich am Abend des Dienstags in eine Kiche, das bekannte Tobias Haberl in seinem Essay für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Immerhin gelangte er dabei zur Erleuchtung: „Diesen Text traue ich mich nur zu schreiben, weil ihn sowieso niemand liest“:

„Dass sich außer ein paar Zurückgebliebenen kein Mensch dafür interessiert. Dass man reflexhaft an fummelnde Priester denkt, und zwar ausschließlich. Dass sich viele darauf geeinigt haben, dass die Kirche böse ist, total von gestern, und unsere Welt eine bessere wäre, wenn man diese absurde Erfindung verlogener weißer Männer endlich abschaffen könnte“
(Tobias Haber: „Unter Heiden“, SZ Magazin, 31. 3. 2023)

Der österreichische Politiker Ewald Stadler verfolgte Autoren scharf für Blasphemie, im Vergleich schon wegen banaler Harmlosigkeiten, etwa den ehemaligen katholischen Priester Adolf Holl für „Gedanken zum Tag“, da dieser, fragend, bloß ein Zitat nannte, das jetzt den Text von Tobias Haberl auf ein höheres Niveau bringen könnte.  Dabei muss Holls „Jesus in schlechter Gesellschaft“ wohl als tiefgründiger bewertet werden, als Haberls „Unter Heiden“, wohl ein Beispiel für eine zeitgenössische Literaturform, die als Neoécriture bezeichnet werden kann.

Die Jury des Deutschen Reporterpreises zeichnete Haberl für seinen Text nicht für die beste Scharlatanerie des Jahres aus, sondern mit dem Preis für den besten Essay. Mit der Begründung: Haberl schreibe
in einer so klugen Weise und sprachlich auf höchstem Niveau, dass er dieses Jahr mit Unter Heiden den Reporter:innen-Preis in der Kategorie Essay erhält. Haberls Essay ist eine gelungene Mischung aus Reflexion und Selbstbefragung, zu einem Thema, über das selten geschrieben wird“.

Hinzufügen sollte man allerdings, dass die Nominierungen in der Kategorie Essay an das Gemälde von  Pieter Bruegels d. Ä. erinnerten: Fünf Blinde von einem Betrunkenen geführt.

Beste Investigation

Die Süddeutsche Zeitung gewann den Preis für die Beste Investigation. Lena Kampf, Kristiana Ludwig und Simon Sales Prado für „Das verlorene Boot“.

Es ist ein Bericht über Flüchtlinge, die mit einem Schiff von der Türkei nach Europa kommen wollten. Das Boot ging vor der italienischen Küste unter, 94 Menschen starben, 30 werden vermisst. Der Beitrag ist weitgehend eine Reportage, von der Küste in Kalabrien. Zwar wird auch die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit gestellt, doch wird diese nur sehr fragmentarisch und subjektiviert analysiert.

Der Text startet mit der Beschreibung des Badestrandes:
„Noch sind die Parkplätze in Steccato di Cutro leer, die Eisdielen mit Brettern verbarrikadiert. Mitte März ist es noch kühl in Kalabrien, ganz im Süden Italiens. Nicht mehr lange, dann werden Urlauberinnen und Urlauber hier die kleine Freiheit suchen, mit Sonnencreme und Luftmatratze“.
(Lena Kampf, Kristiana Ludwig und Simon Sales Prado: „Das verlorene Boot“, Süddeutsche Zeitung, 02.06.2023)

Hauptfigur des Berichts ist dann Assad Almulqi, der als dreizehnjähriger mit seiner Familie aus Damaskus floh, jetzt ist er 22 Jahre alt, wollte mit seinem kleinen Bruder zu Verwandten, die bereits in Deutschland aufgenommen wurden. Die weiteren Ereignisse waren tragisch und wurden von den Autoren der SZ mit einem kurzen Blick eingeleitet, im Stil der schnellen Montage eines Videoclips:

„Auf einem Video sieht man Assad Almulqi, der weinend auf dem Boden hockt und den Sarg seines Bruders umarmt. Sultan, gestorben zwei Tage vor seinem siebten Geburtstag. Warum hat ihn niemand gerettet?“

Die politische Verantwortlichkeit wird dann insbesondere der deutschen Kanzlerin Angela Merkel zugeordnet:
„hängt auch mit der unheilvollen Wirkung eines Deals zusammen, den die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU im Jahr 2016 für die EU mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aushandelte“.

Die italienische Ministerpräsidentin Meloni musste wenigstens weinen, was in der zeitgenössischen Kunstform der Neoécriture, die offenbar einen Kult trivialer Empfindsamkeit zelebriert, jedenfalls positive Gefühle auslösen soll:
„Ministerpräsidentin Georgia Meloni hatte knapp drei Wochen nach dem Schiffbruch die Überlebenden nach Rom eingeladen (…) Assad Almulqi erzählte ihr von seinem kleinen Bruder, wie er erfror. Meloni, erinnern sich Zeugen, kamen die Tränen“.

Merkel ist demnach die Schuldige. Ob diese Analyse hält, das müsste im Detail erörtert werden, immerhin wurde gerade Kanzlerin Merkel für ihre humane Flüchtlingspolitik schwer in die Kritik genommen.

Begründung der Jury für die „Beste Investigation“:
„Simon Sales Prado, Lena Kampf und Kristiana Ludwig zeigen in ihrer ergreifenden Recherche Das verlorene Boot in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, wie eine Politik, die auf Abschreckung setzt, Menschen ertrinken lässt. Der Text ist eine Geschichte zu einem der relevantesten Themen dieser Zeit, über das immer weniger berichtet wird. Die Autor:innen setzen nicht auf platte Effekte, sondern beschreiben den Vorgang bis ins Detail“.

„Platte Effekte“ nannte es die Jury. Eine Investigation, die es ja sein soll,  zu einem so ernsten Thema müsste tatsächlich darauf verzichten. Auch auf Sonnencreme und Luftmatratze, Tränen und oberflächliche Schuldzuweisungen. Als Investigation ist „Das verlorene Boot“ jedenfalls eine Kategorienverfehlung. Als Reportage aber zu banal. Die Jury sollte erklären, weshalb Investigation im Stil eines Trivialromans geschrieben werden muss. Selbst bei Reportagen darf die Orientierung an Heftchenromanen wohl in Frage gestellt werden.

Beste Reportage

Moritz Aisslinger gewann den Preis für die beste Reportage für Die Zeit mit „Dem Sturm ausgeliefert“.

„Sag nichts der Mama aber unser Engine Control Raum hat sich soeben mit Wasser gefüllt und Motor ist jetzt ausgefallen. In der Neubauwohnung in Uerdingen nimmt Jens Orda sein Handy, liest. Er ist Anfang 30, die Nachricht hat ihm sein jüngerer Bruder Lukas geschickt. Jens Orda tippt sofort eine Antwort. Ist sowas schlimm?“
(Moritz Aisslinger, „Dem Sturm ausgeliefert“, Die Zeit, 10.11.2022)

Der deutsche Leser versteht wohl nicht sofort die Bedeutung, wenn ein Schiff leck wird und mit Wasser sich füllt. „Ist sowas schlimm“, das wollen die Leser endlich erfahren.

„Stunden später hat Jens Orda nichts mehr von seinem kleinen Bruder gehört. Er schreibt ihm: Sag mal was… werd schon ganz nervös“.

Tatsächlich geriet das Schiff in einen Taifun auf dem Weg durch das chinesische Meer. Lukas Orda war als Tierarzt dabei, sollte 5867 Kühe von Neuseeland nach China bringen. Lukas Orda ist seither verschollen.

Die Jury begründet den Preis für die beste Reportage:
„Ein Frachter auf dem Weg nach China. Ein Taifun. Eine verzweifelte Crew. Mit seiner Reportage Dem Sturm ausgeliefert nimmt Moritz Aisslinger in der ZEIT seine Leser:innen mit in eine unbekannte Welt, in der alle paar Tage ein größeres Schiff verloren geht. Einem solchen Fall geht Aisslinger nach und wir erleben hautnah, wie der Kapitän der Gulf Livestock 1 seinen Frachter mit 43 Mann und 5.867 Kühen an Bord über den Pazifik und in die Katastrophe steuert“.

Beste Kulturreportage

Für die beste Kulturreportage ausgezeichnet wurde Maja Beckers, die mit „Abgehoben“ für Zeit Online gewann.

Es ist ein Bericht von der größten Privatjet-Messe Europas, die European Business Aviation Convention and Exhibition in Genf.  Gleich zu Beginn der Reportage erzählt die Autorin von einem Mann, der für ein Unternehmen arbeitet, bei dem man Privatjets chartern kann:
„der Mann erzählt gerne von den Herausforderungen seiner Branche, die irgendwie banal und gleichzeitig komplett surreal klingen“.
(Maja Beckers, „Abgehoben“, Zeit Online, 29.05.2023)

Bei ihrer Kulturreportage wird Maja Beckers auch mit einer Demonstration konfrontiert, die gegen Privatjets aus Gründen des Klimaschutzes protestieren. Dutzende Aktivisten stürmten den Platz. Deshalb muss Maja Beckers mit weiteren Besuchern noch warten:
„Wir stehen nun vor der Messehalle. Einige zünden sich Zigaretten an. Der  Sicherheitsmann sagt, es soll bitte nur hinter der gelben Linie geraucht werden, aber dafür ist der Ärger jetzt zu groß“.

In der Folge sinniert Maja Beckers über die Bedeutung von Privatjets als Statussymbol:
Wie eng der Privatjet mit den Vorstellungen von Macht und Erfolg verwachsen ist (und mit der Behauptung, Leistung zu bringen: Wer privat einschwebt, ist Leistungsträger, wer mit dem Zug zu einem Geschäftstermin kommt, ist wohl nicht ganz bei der Sache)“.

Begründung der Jury für die Beste Kulturreportage:
„Man erfährt viel und darf sich gleichzeitig amüsieren. Die Jury überzeugte, dass der Text nicht nur ein Phänomen des Kapitalismus beschreibt, sondern in der Analyse auch in die Tiefen einer Welt vorstößt, die uns allen erstrebenswert vorkommt, aber am Ende vielleicht ärmer ist als unsere eigene, kleine mittelmäßige Erdverbundenheit“.

Gala in Berlin

Der deutsche Reporterpreis 2023 wurde am 4. Dezember in Berlin überreicht. Durch die Gala führte die Moderatorin  Jenny Kallenbrunnen. Die Stimmung wurde geprägt von „Brillanz“, laut den Organisatoren des Reporterpreises:
„Eng saßen die Gäste beieinander, bewegt von der Wucht der Recherchen, der Handwerkskunst und der sprachlichen Zartheit der prämierten Arbeiten“.
(www.reporter-forum.de/reporterinnen-preis/reporterinnen-preis-2023)

Nebenkategorien

In weiteren Kategorien wurden ausgezeichnet:

Ein dritter Beitrag über ertrinkende Menschen als
Beste Lokalreportage: Niklas Liebetrau, „Da treibt wer im Wasser!“, Berliner Zeitung am Wochenende

Bestes Interview: Elisa von Hof, „Liebe ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe“, Der Spiegel

Beste Sportreportage: Andreas Bock, „Energiewende“, 11FREUNDE – Magazin für Fußballkultur

Datenjournalismus: Miriam Lenz, Nina Bender, Max Donheiser, Chiara Swenson, Pia Siber, Jonathan Sachse, Mohamed Anwar und Valentin Zick , „Wie ernst die Lage in den Frauenhäusern ist“, Correctiv

Multimedia: Julius Tröger, Paul Blickle, Robert Gast, Nicolás Pablo Grone, Andreas Loos, Axel Rudolph und Benja Zehr, „Unser Müll im All“, Zeit Online

Bester Podcast:  Stefan Eberlein, „Davon haben wir keine Kenntnis – Khaled el Masri, die CIA und der deutsche Rechtsstaat“, WDR

Beste Wissenschaftsreportage: Andreas Große Halbuer, „Das Ding in meinem Kopf“, Focus Magazin

Beste freie Reportage: Angela Köckritz, „Ist das gut für die Seele?“, Die Zeit

 Links:

Zu den Nominierungen des deutschen Reporterpreises in der Kategorie Essay
Wird empfindlicher Erlebnisaufsatz gesucht oder reflektierte Sachlichkeit?
Tabula Rasa, 5. 11. 2023
Der deutsche Reporterpreis wird am 4. Dezember im Rahmen einer Gala in Berlin überreicht. Auch für Essay. Die Nominierungen wurden bereits präsentiert. Wie schon in den vergangenen Jahren dominierte Befindlichkeitsliteratur.
www.tabularasamagazin.de/johannes-schuetz-zu-den-nominierungen-des-deutschen-reporterpreises-in-der-kategorie-essay

Sensengasse. Ehrengrab
Über Leben und Sterben der Autorin Brigitte Schwaiger in Wien

Tabula Rasa, 23. 2. 2020
Die Autorin Brigitte Schwaiger scheiterte an den Bedingungen in Österreich. In einer berüchtigten psychiatrischen Anstalt in Wien. Neuroleptika beschädigten die Fähigkeit des Schreibens. Ein Sachwalter soll jetzt das Werk der Schriftstellerin verwerten. ​www.tabularasamagazin.de/sensengasse-ehrengrab-ueber-leben-und-sterben-der-autorin-brigitte-schwaiger-in-wien

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Über Johannes Schütz 100 Artikel
Johannes Schütz ist Medienwissenschafter und Publizist. Veröffentlichungen u. a. Tabula Rasa Magazin, The European, Huffington Post, FAZ, Der Standard (Album), Die Presse (Spectrum), Medienfachzeitschrift Extradienst. Projektleiter bei der Konzeption des Community TV Wien, das seit 2005 auf Sendung ist. Projektleiter für ein Twin-City-TV Wien-Bratislava in Kooperation mit dem Institut für Journalistik der Universität Bratislava. War Lehrbeauftragter an der Universitat Wien (Forschungsgebiete: Bibliographie, Recherchetechniken, Medienkompetenz, Community-TV). Schreibt jetzt insbesondere über die Verletzung von Grundrechten. Homepage: www.journalist.tel