Der ethnisch-kulturelle Volksbegriff: Neues Urteil zu den Grenzen seines verfassungskonformen Gebrauchs

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Der Debatte um die Verfassungsfeindlichkeit oder gar Verfassungswidrigkeit der AfD erweist sich die Verwendung des „ethnisch-kulturellen“ Volksbegriffs immer häufiger als der letztlich entscheidende Knackpunkt. Das zeigt sich auch im jüngsten Bericht des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (2024). Vor diesem Hintergrund verdient eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 9. Oktober 2025 zu Positionen des Politikwissenschaftlers Martin Wagener Aufmerksamkeit, die er in seinem Buch „Kulturkampf um das Volk“ (2021/2024) vertreten hat.

Wagener ist Professor im Geschäftsbereich des Bundesnachrichtendienstes (BND) an der Hochschule des Bundes. Das Gericht wies eine Klage Wageners gegen eine ihn ergangene Disziplinarverfügung ab. Er „habe zwar nicht die Verfassungstreuepflicht verletzt, mit dem propagierten >ethnisch-kulturellen< Volksbegriff aber gegen seine beamtenrechtliche Pflicht zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten Verstoßen“.

Wagener unterscheidet zwischen dem deutschen Volk im ethnisch-kulturellen Sinn und dem deutschen Staatsvolk: „Zum ersten gehören die Deutschen qua Geschichte und Abstammung, zum zweiten über die erlangte Staatsbürgerschaft“, so der Verfasser. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf den rechtlich entscheidenden Punkt: Den Ausführungen Wagener „kann nicht die Forderung nach einer rechtlichen Ungleichbehandlung von Staatsbürgern entnommen werden“. Gleichwohl unterscheidet Wagener die Volksbegriffe nicht ohne Grund. Er fordert ausdrücklich „nicht, eine homogene Gesellschaft zu schaffen, sondern die Dominanz der deutschen Kulturnation innerhalb des deutschen Staates zu erhalten“.

All dies verstößt nicht gegen die Verfassungstreuepflicht der Beamten. Und das gilt in gleicher Weise für die vom Gericht als „Herabwürdigung von deutschen Staatsangehörigen“ mit ausländischen Wurzeln gewertete Ausführungen Wageners zu prominenten Fußballspielern (Özil, Güdogan, Can) mit türkischen Wurzeln, die er als „Türken mit einem deutschen Pass“ bezeichnete. Dies könne ein Dienstvergehen begründen, ist aber weder nach Auffassung des beklagten BND noch des BVerwG verfassungsfeindlich. Die Bewertung als Dienstvergehen im Hinblick auf die auch als „Wohlverhaltenspflicht“ bezeichnete Dienstpflicht hängt nicht zuletzt mit der besonderen beruflichen Stellung Wageners zusammen.

Eine andere Einschätzung wäre auch erstaunlich gewesen. Die Unterscheidung zwischen Nationalität und Staatsangehörigkeit ist historisch und politisch geläufig. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder das vielschichtige System des Minderheitenschutzes oder des Volksgruppenrechts beruhen auf dieser Differenzierung. Man denke nur an einen Vielvölkerstaat wie die Habsburgermonarchie, an Schotten in Großbritannien, Walonen und Flamen in Belgien, Katalanen und Basken in Spanien oder die Schweiz, an Sorben in Brandenburg und Sachsen und Dänen in Schleswig-Holstein.

Wie sich politische Loyalitäten und Identitäten jeweils ausbilden, ist nur in der konkreten historischen oder politischen Situation sinnvoll zu beschreiben. Zur Deutung ist viel im begrifflichen Angebot: von der ethnisch-kulturell bestimmten Kulturnation über die auf den Staat und seine Ordnung bezogene Willensnation, bis zum Nationalitätenstaat oder der multiethnischen Staatengemeinschaft. Vom Einzelnen her gedacht ist die „Wir-Identität“ – besser noch im Plural – stets Teil einer „Ich-Identität“; frei nach Richard David Precht: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele“.

Objektivierbar ist dies nicht, und das scheint ein entscheidender Punkt zu sein. Einfach gesagt: Kann der „Türke mit deutschem Pass“ Deutscher im ethnisch-kulturellen Sinn werden? Der BND hielt Wagener in der mündlichen Verhandlung vor, er verweigere ethnisch nicht deutschen Staatsangehörigen eine „vollständige Integrationsperspektive“. Das wies der Politikwissenschaftler entschieden zurück. Vollständige Integration sei selbstverständlich immer möglich, sagte er unter Verweis auf die Hugenotten. Den Begriff des Ethnos sieht er nicht als reinen Abstammungsbegriff an.

Dies alles sind gerade mit Blick auf die AfD keine intellektuellen Glasperlenspiele. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet am Ende, ob eine Partei drei Prinzipien respektiert: die Demokratie, den Rechtsstaat und die Menschenwürde. Die Verfassungsschutzämter sehen in der Art und Weise, wie die AfD den ethnisch-kulturellen Volksbegriff verwendet, vor allem einen Verstoß gegen eines dieser Prinzipien: die Menschenwürde. Dies scheint der alles entscheidend Punkt zu sein und weniger die etwaige Missachtung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips, also der Schutz der Institutionen und Verfahren des freiheitlichen Verfassungsstaates.

Es ist aus verständlichen Gründen politisch umstritten, jedoch unter Gesichtspunkten der Verfassungstreue unproblematisch zu fordern, dass Ausländer ohne Aufenthaltstitel abgeschoben, die Staatsangehörigkeit wieder enger an das Abstammungsprinzip gebunden und die Migration stark gedrosselt wird, um die „geschichtlich gewachsene nationale Identität“ wahren zu wollen, wie die AfD in der „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“ vom 18. Januar 2021 schreibt. Sie trägt die Unterschrift aller damals maßgeblichen AfD-Politiker, auch die Björn Höckes. Die AfD bekenne sich, heißt es dort „zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. […] Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht“.

Doch wie glaubwürdig ist das? Zumindest nach Meinung des Nordrhein-Westfälischen Oberverwaltungsgerichts in Münster jedenfalls nicht hinreichend, wie es in einer vielzitierten Entscheidung zur Beobachtung der Bundes- AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch den Bundesverfassungsschutz vom 13. Mai 2024 ausführte. Sinngemäß argumentierte es, die Erklärung als solche und einige Interpretationen stellten „für sich genommen keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar“. Zweifel an deren Verbindlichkeit begründete es unter anderem mit von Höcke gebrauchten Begriffen wie „Umvolkung“, „Volksaustausch“ oder drohendem „Volkstod“.

Gerichte haben sich nun schon häufiger mit dem politischen Gebrauch des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs und dessen verfassungsrechtlichen Grenzen beschäftigt. Die Bedeutung des jüngsten Verfahrens ergibt sich daraus, dass das BVerwG über ein Werk zu beraten hatte, in dem das Thema politikwissenschaftlich besonders umfassend und differenziert ausbuchstabiert worden ist. Für den etwas schlichten politischen Vorhalt, die AfD verwende einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff, lassen die diversen Entscheidungen immer weniger Spielraum. Es kommt schon auf die Art und Weise an.

Der Beitrag ist zuerst am 25. Oktober 2025 in der Thüringischen Landeszeitung erschienen: https://tinyurl.com/ms7w8hr6

 

Über Karl-Eckhard Hahn 29 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker und Publizist; Leitender Ministerialrat a.D. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. X: @KE_Hahn.