Marcus Tullius Cicero – Philosophie als Trost

Buch, Altes buch, Inkunabeln, Quelle: makamuki0, Pixabay. Freie kommerzielle Nutzung, Kein Bildnachweis nötig.

Rom war nicht Athen. Und Cicero ist weder ein Platon noch ein Utopist, noch ein metaphysischer Konstrukteur. Ihm fehlte das Vertrauen in die Ideen, das griechische Denken in Archetypen, das vom Ideenhimmel hinab die Welt entflammte und sie erwärmte. Was Cicero jedoch hatte, war römischer Instinkt – für das Maß. „Summum ius, summa iniuria“ – das strengste Recht ist höchste Ungerechtigkeit. Es ist dieser Satz, in dem sich Ciceros Ethik verdichtet: als Warnung vor der Entartung des Guten, als Plädoyer für das rechte Maß, für das „decorum“ – jenes schwer übersetzbare Gefühl des Stimmigen.

Ciceros Denken war von Anfang an ethisch-politisch. Er fragt nicht wie ein Theologe nach dem Ursprung des Guten, sondern wie ein Staatsmann: Wie kann das Gute überleben in der Welt der Gewalt? Seine Antwort: Nur, wenn es sich verkleidet – als Pflicht, als Würde, als Vernunft. Nicht Pathos ist seine Moral, sondern Haltung, ein römisches Evangelium der Verantwortung blieb sein Credo. Seine Ehtik siedelte nicht im Himmel, vielmehr orientierte sie sich am Menschen in seiner Schwachheit und Irrtumsanfälligkeit. Seine Moralvorschriften kreisten nicht im Nirgendwo, sondern waren am und für den Menschen, praxisnah, vom Leben in seinen Irrungen und Wirrungen abgeschaut.

In „De Officiis“ (Von den Pflichten oder Vom pflichtgemäßen Handeln) aus dem Jahr 44 v. Christus schreibt er an seinen Sohn Marcus – ein Text, der in preußischen Gymnasien, in den Schulen der Jesuiten, in der Renaissance Europas gelesen wurde wie ein säkulares Evangelium. Es ist eine Philosophie der Tat, aber nicht der Gewalt. Eine Philosophie der Ordnung, aber nicht des Zwangs. Er wollte, dass man tut, was man sagen kann – und sagt, was man tun darf. Es ist die Ethik eines Mannes, der mitten im politischen Morast das innere Licht nicht verliert.

Sprachmächtiger Prophet ohne Vision?

Man hat Cicero oft vorgeworfen, kein originärer Denker zu sein. Das stimmt – und ist zugleich falsch. Er ist kein Systemarchitekt, kein Philosophieingenieur. Aber er ist ein Schöpfer in Sprache. Die lateinische Philosophie existiert durch ihn. Begriffe wie „officium“, „virtus“, „Res publica“, natura – sie wurden bei ihm nicht bloß geschrieben, sondern geboren.

Er hat nicht die Ideen erfunden, aber er hat sie in den Mund des Bürgers gelegt. In diesem Sinne ist er der wahre Demokratisierer des Geistes – nicht durch Volksaufstände, sondern durch Volksverständlichkeit. Wie Montaigne später und Karl Jaspers viel später, dachte Cicero nicht, um zu glänzen, sondern um zu leben. Seine Philosophie war kein Elfenbeinturm, sondern ein Marktplatz. Seine Reden waren keine Zier, sondern Rüstung.

Zwischen Skepsis und Stoizismus: Die sittliche Ironie

In einer Welt, die zerfällt, kann man Fanatiker werden – oder Ironiker. Cicero entscheidet sich für Letzteres. Seine Philosophie, besonders in „Tusculanae disputationes“, atmet einen skeptischen Stoizismus – eine Haltung, die nicht in Enthusiasmus ausbricht, sondern sich am Schmerz reibt. Der Tod seiner Tochter Tullia markiert einen Wendepunkt. Plötzlich steht nicht mehr die Republik im Zentrum, sondern das Selbst. Was ist ein Mensch, der trauert, und dennoch spricht? Der leidet – und dennoch denkt?

Hier beginnt Ciceros wahres philosophisches Werk: im Schatten des Grabes, nicht im Licht des Forums. Die Philosophie wird Trost, nicht Theorie. Kein Heilmittel, sondern eine begleitende Stimme. Wie bei Boethius später – dem letzten Römer –, wird das Denken zum inneren Gespräch in der äußersten Einsamkeit. Cicero fragt sich: Wenn alles vergeht – Ruhm, Macht, Republik –, was bleibt? Seine Antwort ist leise: die Würde.

Cicero als europäisches Urbild

Man kann die europäische Geistesgeschichte als einen langen Dialog mit Cicero lesen. Die Kirchenväter – Ambrosius, Augustinus – hören in ihm den Ethiker. Die Renaissance erkennt in ihm den Humanisten. Die Aufklärung sieht in ihm den Staatsbürger. Selbst Thomas Jefferson zitiert ihn, wenn er über Freiheit spricht. Kein Autor wurde in der westlichen Welt so oft abgeschrieben, kopiert, studiert wie Cicero – zwischen dem 1. und 18. Jahrhundert.

Und warum? Weil er den Menschen nicht überforderte. Seine Philosophie ist keine Himmelstreppe, sondern ein Weg durch das Leben – steinig, aber gangbar. Er verlangt nicht das Unmögliche, sondern das Nötige. Er ist kein Prophet des Heils, sondern ein Begleiter durch den Sturm. Wenn man Platon als Utopie der Vernunft bezeichnen kann, dann ist Cicero die Melancholie der Vernunft.

Sein Denken ist moderat, und darin liegt seine Größe. In einer Welt der Extreme ist Maß die radikalste Tugend. In einem Zeitalter der Gewalt ist Sprache Widerstand. In einer Republik, die stirbt, ist Haltung Rebellion.

Der letzte Römer, der erste Humanist

Am 7. Dezember 43 v. Chr. wird Marcus Tullius Cicero auf der Flucht nahe seiner Villa am Golf von Gaeta bei Formiae auf Geheiß des Antonius von Centurio Herennius und dem Militärtribunen Gaius Popilius Laenas getötet. Er stirbt wie ein Rebell, geschmäht wie ein Tyrann – und doch geliebt von jenen, die später kamen. Die Humanisten der Renaissance lasen ihn mit Tränen. Erasmus, Thomas Morus, Petrarca – sie sahen in ihm kein Vorbild der Macht, sondern der Menschlichkeit, denn Cicero war mehr als ein Politiker und mehr als ein Philosoph: Er war ein Mensch inmitten der Geschichte, der mit Worten ein Gegengewicht suchte zur Wucht der Ereignisse.

Er war der erste Humanist im römischen Gewand – weil er das Individuum ernst nahm. Nicht das große Ganze, nicht die Ewigkeit, sondern das Eine: die Entscheidung des Einzelnen für das Gute, auch wenn niemand es sieht. Er war ein Freund der Ordnung, aber kein Diener der Macht. Ein Liebender der Republik, aber kein Verklärer des Staates. Ein Bürger, der dachte – und ein Denker, der fühlte.

Wer Cicero heute liest – nicht als Pflichtstoff, sondern als Gesprächspartner –, begegnet einem Menschen, der sich zwischen den Zeiten bewegt. Er war ein Konservativer, der wusste, dass das Alte vergeht. Ein Skeptiker, der dennoch glaubte. Ein Rhetor, der die Wahrheit suchte. Ein Philosoph, der nicht fragte: „Was ist das Gute?“ – sondern: „Wie kann ich heute gut handeln?“

Vielleicht ist es das, was ihn überleben lässt. In ihm versöhnt sich das Denken mit dem Zweifel, der Glaube mit der Unsicherheit, die Ordnung mit der Freiheit. Und wer sich heute in der Kakophonie der Ideologien verliert, kann in Ciceros Werk eine stille Stimme hören: nicht die der Lösungen, sondern die der Haltung.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2263 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".