Antisemitismus und Literatur

Bettina Röhl im Interview mit Marcel Reich-Ranicki

Warum wollen Sie ein Interview mit mir machen, fragte Marcel Reich-Ranicki im Dezember 2003, als ich ihn anrief. Der Anlass, ihn um ein Gespräch zu bitten, war ein Interview in der „Welt“ vom 13.12.03, in dem er unter anderem über die bis vor kurzem verborgene Mitgliedschaft seines langjährigen engen Freundes Walter Jens in der NSDAP gesprochen hatte.
MRR hatte in diesem Interview das dritte Mal, wie auch schon zuvor in seinem 1999 erschienenen Buch „Mein Leben“ und in dem im Herbst 2003 erschienenen Hörbuch „Ulrike Meinhof“, über seine Begegnung mit der jungen Journalistin Meinhof gesprochen, die nach seiner Rückkunft aus Polen 1958 die erste Person in der Bundesrepublik gewesen sei, die ihn Anfang der sechziger Jahre nach seiner Zeit im Warschauer Getto gefragt und nach dem Interview Tränen in ihren Augen gehabt habe.
„Was wollen Sie von mir wissen“, fragte Reich-Ranicki mich am Telefon wiederholt: „Ich werde Ihnen nichts erzählen können, was Sie interessiert. Über Ihre Eltern weiß ich sonst gar nichts. Für Politik interessiere ich mich nicht. Ich habe in den ganzen Jahren, in denen ich Literaturkritiker bei der FAZ war, von 1973 bis 1989, dort sehr selten den politischen Leitartikel gelesen. Glauben Sie mir, Sie werden enttäuscht sein. Ich kann Ihnen auch über '68 nichts erzählen, falls Sie dies wünschen. Sie werden mir Fragen stellen und ich werde das ganze Interview lang schweigend vor dem Mikrofon sitzen. Aber bitte, wenn Sie unbedingt wollen, kommen Sie, ich kann Sie nicht daran hindern.“

Die sechziger Jahre in Hamburg


Röhl
: Herr Reich-Ranicki, Sie haben in einem kürzlich erschienenen Interview beschrieben, dass Sie Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl in den sechziger Jahren kennen gelernt haben, auf Partys gesehen haben. Wie haben Sie – Sie waren damals Literaturkritiker bei der „Zeit“ – die beiden Chefredakteure und Herausgeber der linken Zeitschrift „Konkret“ erlebt?
MRR: Darüber ist nicht viel zu berichten. Wir haben Ihre Mutter und auch Ihren Vater – nicht immer war der Vater dabei – einige Male gesehen bei Einladungen des damaligen Rundfunk-Redakteurs Peter Coulmas und während des Urlaubs auf Sylt. Einmal waren wir einen Abend lang zusammen, wo Ihr Vater viel erzählt hat. Ich weiß nicht mehr, bei wem das war, ob das in Eurem Haus war oder sonst bei einem gelegentlichen Treffen.
Röhl: In der „Welt“ haben Sie ein eher positives Bild von Klaus Röhl gezeichnet, den Sie ansonsten dafür kritisieren, dass er bei Prof. Ernst Nolte in den neunziger Jahren promoviert hat. Sie sagten dort, Sie nahmen und nehmen Klaus Röhl seine damalige Offenheit und Ehrlichkeit nicht übel, mit der er über seine Jugenderinnerung und seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend erzählt hat und äußerten sich in diesem Zusammenhang über Walter Jens und Siegfried Lenz insofern etwas kritischer, als Sie gesagt haben, es gibt Freunde von Ihnen, die Ihnen nie etwas über ihre Vergangenheit in der Hitlerzeit erzählt haben.
MRR: Das ist richtig. An dem Abend hat Klaus Röhl über seine Erlebnisse in der Hitlerjugend lautstark und ausführlich berichtet und das war für mich aufschlussreich, das war für mich interessant. Zu verübeln gab's da gar nichts, da war er ja noch fast ein Kind und was er da gesungen hat und dass er rummarschiert ist, das war für mich mal ein Blick von der anderen Seite.
Röhl: Und ich habe Sie so verstanden, dass Sie es zumindest gut fanden, dass da jemand überhaupt mal ehrlich war…
MRR: Ja.
Röhl: …denn Ihnen ist ja gelegentlich auch Unehrlichkeit begegnet. Haben Sie in diesem ganzen Streit um Walter Jens' wissentliche oder unwissentliche Mitgliedschaft in der NSDAP Ihre Meinung inzwischen geändert, Ihre kritische Haltung?
MRR: Ich habe gar keine kritische Haltung. Ich habe nur gesagt: Ich habe davon nichts gewusst, dass Jens Mitglied der HJ und Mitglied der NSDAP war. Er hat es niemals im Laufe unserer langjährigen Freundschaft auch nur mit einem Wort erwähnt.
Röhl:Sie haben in den sechziger Jahren als Literaturkritiker bei der „Zeit“ in Hamburg gearbeitet. Das war die berühmte Zeit der Partys und Einladungen im so genannten Medienestablishment. War Ihnen damals bewusst, dass „Konkret“, eine linke, möglicherweise eine kommunistisch gesteuerte und ostfinanzierte Zeitung war? Wie schätzte man „Konkret“ und die Macher, Meinhof und Röhl, ein? Offiziell ging die DDR-Finanzierung von „Konkret“ ja nur bis 1964, was Klaus Röhl 1974 mit seinem Buch „Fünf Finger sind keine Faust“ öffentlich machte.
MRR:Dass es eine linke Zeitschrift war, war selbstverständlich. Dies war ja auf den ersten Blick zu sehen. Es wurde gesagt und als ziemlich sicher angenommen, dass sie von der DDR finanziert wird. Das ist alles. Auch Leute aus der späteren DKP sind ja oft nach Ostberlin gefahren, um Geld zu holen und Geld zu bringen, das wusste man auch. Ich kenne auch eine Person – bis heute kenne ich die -, die das ziemlich regelmäßig gemacht hat. Und dass also „Konkret“ damals von der DDR finanziert wurde, war bekannt.
Röhl: Wenn heute manche sehr überrascht tun, als sei dies eine Sensation, dass diese oder jene Institution kommunistisch unterwandert war, dann scheint mir dies manchmal scheinheilig, denn es kommt mir sehr viel richtiger vor, wie Sie es sagen, dass es ein offenes Geheimnis war.
MRR: Nicht kommunistisch unterwandert. Das ist falsch. Sagen Sie „kommunistisch finanziert“. Es war eine rein kommunistische Institution gewesen, die nach außen hin anders firmiert war. Man machte sich in den Kreisen, in denen wir im Hamburger Medienestablishment damals verkehrten, darüber nicht sehr viele Gedanken. Nun, es war bekannt, ja so ist das, und die Leute halten das für richtig, dass eine solche Zeitschrift erscheint. Fertig.
Röhl: In „Die Jahre, die Ihr kennt“ skizziert der Lyriker Peter Rühmkorf, damals auch „Konkret“-Mitarbeiter, die Partykreise als ein Zusammentreffen von verdeckten Kommunisten auf der einen Seite, und Leuten, die den Kommunismus bekämpften und z. B. einer Organisation angehörten wie dem sagenumwobenen „Kongress der Freiheit der Kultur“, der von der Henry-Ford- Stiftung finanziell unterstützt wurde und von der CIA, so schon damals die Gerüchte, gebustert wurde. Und für den viele europäische Intellektuelle arbeiteten wie etwa Mel Lasky, Francois Bondy, Ignatz Silone und so weiter. Rühmkorf schwärmte davon, wie nun die Fronten bröckelten und Kommunisten wie Ulrike Meinhof und Klaus Röhl etwa mit dem Ehepaar Coulmas zusammenkamen, die in dem Ruf standen, eben diesem „Kongress der Freiheit der Kultur“ nahe zu stehen. Wie muss man sich die Partys damals, zu denen ich als Kind gelegentlich mitgenommen wurde, also vorstellen: Trafen damals Protagonisten beider Lager (des kalten Krieges) aufeinander und waren deshalb die Establishmentpartys so angeregt und lustig?
MRR: Wissen Sie, ich glaube Sie überschätzen sehr mein Interesse an Politik. Ich war daran gar nicht interessiert. Man wusste – es war ein offenes Geheimnis -, was „Konkret“ war. Was der „Kongress für die Freiheit der Kultur“ war, wusste man ungefähr. Ich ging oft zu den Veranstaltungen des „Kongresses für die Freiheit der Kultur“, da am Klosterstern, Nonnenstieg, in Hamburg, und ich habe da verschiedene Leute kennen gelernt, zum Beispiel Gerd von Paczensky, Puttkamer, Uexküll und eben auch Peter Coulmas. Den haben wir da oft gesehen.
Röhl: Zu dem Hintergrund des „Kongresses der Freiheit der Kultur“, wo viele Journalisten aus „Die Zeit“, „NDR“, „Spiegel“ usw. und Schriftsteller sich engagierten und zum Beispiel auch für“Der Monat“ schrieben, dem in Deutschland wohl wichtigsten Organ des Kongresses, äußerte sich Mel Lasky allerdings sowohl in einem persönlichen Gespräch als auch auf einer öffentlichen Veranstaltung im Jahr 2000 in Berlin nur vage zu den Interna des „Kongresses der Freiheit der Kultur“. Wo standen Sie als ehemaliges Mitglied der polnischen KP, nachdem Sie 1958 nach Westdeutschland gekommen waren?
MRR:Der politische Hintergrund – nun ja, es waren da Gerüchte, also man hat gehört, dass da die CIA dahinter stand. Aber wissen Sie, Liebe, das hat mich überhaupt nicht gestört. Die waren ja gegen die Sowjetunion. Und alles was gegen die Sowjetunion war, war ja schon irgendwie akzeptabel in jenen Jahren. Aber mein Interesse ging damals in andere Richtungen: Ich habe mich für das Theater interessiert. In unserer Zeit in Hamburg von 1959-1973 sind wir sehr viel ins Theater gegangen, selten in die Oper. Ich habe mich für Literatur interessiert. Dafür, was in der „Zeit“ gedruckt wurde, was im „Spiegel“ gedruckt wurde. Und die politischen Dinge waren für mich, nachdem ich einmal Schluss gemacht hatte mit der kommunistischen Partei, aus der ich in Polen rausgeschmissen wurde, Ende '49 Anfang '50, nicht mehr interessant. Ich habe damals, als ich wegen politischer Fremdheit rausgeschmissen wurde, doch geglaubt: Die haben recht. Die haben genau gespürt, dass ich politisch dieser Sache fremd bin, und ich habe damals beschlossen, nie wieder in meinem Leben irgendeiner politischen Partei beizutreten, und ich habe bis heute Wort gehalten.
Röhl: Die meisten, die in den damaligen Partykreisen verkehrten, bezeichnen diese Zeit als eine besonders schöne, oft die schönste Zeit ihres Lebens. Haben Sie das auch so erlebt? Haben Sie damals z. B. auch an den oft in Kampen auf Sylt fortgesetzten Partys teilgenommen?
MRR:Es war die Wirtschaftswunderzeit. Hauptkennzeichen war der wirtschaftliche Aufschwung, die Hinwendung zum Konsum, zum Luxus. In den sechziger Jahren waren wir drei oder vier Mal in Kampen auf Sylt. Es war ja nicht so weit von Hamburg entfernt. Seither fahren wir nach Baden-Baden. Ihre Frage, ob diese Zeit schön für mich war, resultiert aus einem Vergleich. Meinen Sie davor oder danach? Ich kann den Vergleich nicht machen. Wir sind erst 1958 aus Polen gekommen. Ich kann also nicht sagen, dass die Zeit in Hamburg bis 1973 schön war. Die war für uns etwas ganz anderes.

Die Zeit als Literaturkritiker in „Die Zeit“


Tosia RR
: Das war verbunden mit unserem Leben. Dass wir uns ein bisschen isoliert fanden und nicht da drin waren.
MRR: Wir fühlten uns ziemlich isoliert. Wie meine Frau eben sagte.
Röhl: Das habe ich in Ihrem Buch schon gelesen, aber ich konnte es mir nicht vorstellen.
Tosia RR: Aber Tatsache war, dass es so war.
MRR: Tatsache ist, dass ich 15 Jahre für „Die Zeit“ geschrieben haben, bei der „Zeit“ fest angestellt war und an keiner einzigen Redaktionskonferenz teilgenommen habe.
Röhl:Unvorstellbar.
MRR: Ja ich durfte nicht. Ich wurde nicht eingeladen. Wenn ich nicht aufgefordert wurde, war es klar, man wollte mich dort nicht sehen. Dass wir in privaten Wohnungen waren, also privat eingeladen wurden, das war sehr selten. Es waren nur zwei, die uns damals eingeladen haben. Das war Peter Coulmas und Helga Hegewisch. Diese beiden Häuser waren die einzigen, in die wir privat eingeladen wurden.
Röhl: Ihr Name war damals schon ein sehr großer. Wie konnte es zu einer solchen Isolierung kommen?
MRR: Ich war der erste Kritiker der „Zeit“, der Hauptkritiker, Literaturkritiker der „Zeit“, in beinahe jeder Nummer waren Beiträge von mir. Auch in einer Rubrik, die „Hüben und Drüben“ hieß.
Tosia RR: Und man muss wissen, dass „Die Zeit“ eine größere Rolle spielte als heute.
MRR: Ich schrieb in jeder Nummer, und ich schrieb die wichtigsten Kommentare in dem Blatt und große Kritiken und ich hatte es sehr gut, ich konnte schreiben, worüber ich will, wie viel ich will, es war alles wunderbar. Aber: auf Distanz.
Röhl:Warum wollte die „Zeit“ Sie nicht auf den Redaktionskonferenzen dabeihaben? Gab es dafür einen Grund?
MRR:Natürlich gab es einen Grund. Aber ich weiß nicht, welcher es war. Ich kann Ihnen sagen, dass zu den Konferenzen der „Zeit“ Mitarbeiter des Feuilleton eingeladen wurden, die weit weg wohnten, die extra nach Hamburg kamen, wie zum Beispiel Francois Bondy aus Zürich und zwei, drei andere, die extra kamen. Die wurden eingeladen an dem und dem Tag zur Konferenz. Und ich wohnte in Hamburg und bin nicht dazu gebeten worden.
Tosia RR: Dabei wissen wir bis heute nicht, ob nicht doch das Jüdische mitgespielt hat.
MRR: Bondy ist auch Jude.
Tosia RR:Das heißt nichts, es ist trotzdem möglich.
MRR: Es gibt etwas im Zusammenhang mit diesem Thema, das mich tief gekränkt hat. Iris Radisch hat, als sie von meinem Buch hörte, von dem Kapitel über meine Rolle in der „Zeit“ an Dieter Zimmer telefoniert, gemailt irgendwie, der gerade in San Francisco war, irgendwo in den USA, und hat ihn um eine Stellungnahme im Namen der „Zeit“ gebeten. Und Dieter Zimmer, mit dem ich in guten, in sehr guten Beziehungen war, und der viele Jahre den Literaturteil der „Zeit“ geleitet hatte, und der unentwegt mit meinen Manuskripten, also mit mir zu tun gehabt hatte, hat etwas gemacht, was ich für eine Schweinerei halte: Er hat die Sache kommentiert, ohne mein Buch oder wenigstens das betreffende Kapitel gelesen zu habe – man hätte ihm diese entscheidenden fünf, sechs Seiten faxen können. Er hat gesagt: Das, was ich da schriebe, sei vollkommener Wahnsinn. Sowas hat es nie in der „Zeit“ gegeben usw. Ich habe in meinem Buch geschrieben, dass ich den Gedanken, dass antisemitische Regungen das Verhältnis zu mir irgendwie bestimmt hätten, weit von mir gewiesen habe. In dem Buch mit der offiziellen Geschichte der „Zeit“ von Karl-Heinz Janssen – da stand drin, warum meine Kandidatur für die Arbeit in der Redaktion abgelehnt wurde von den Redakteuren: Meine Rabulistik wurde befürchtet. Ich habe daraufhin das Institut für Zeitgeschichte in München angerufen und gebeten nachzuforschen, ob mein Eindruck stimmt, dass das Wort Rabulistik während des Dritten Reiches von Goebbels benutzt worden ist, die haben alles im Computer. Das Institut hat mir am nächsten Tag geantwortet: 16 Mal in den Reden, 15 Mal in den Tagebüchern taucht das Wort „rabulistisch“ bei Goebbels auf. So ungefähr. Und meine Frage war dann: In welcher Verbindung? Immer dieselbe: jüdisch – rabulistisch. Jüdisch – marxistisch-rabulistisch. Es war ein antisemitischer Ausdruck. Ich habe das in meinem Buch schon geschrieben. Aber wenn Sie die Leute von der „Zeit“ fragen, dann gibt es ein Problem. Die Leute, die damals da waren, sind heute nicht mehr da. Die Leute, die heute da sind, waren damals alle zu jung. Wer kann Ihnen da antworten? Sie können auch die Leute von der „Zeit“ fragen, warum alle meine Bücher dort seit vielen Jahren nicht rezensiert werden, nicht mit einem Wort erwähnt werden. Weiß ich nicht. So ist es. Es gibt immer einen Grund.

Das Warschauer Getto und die ersten Fragen

Röhl
: In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass es am Anfang, als Sie nach Hamburg kamen, nicht möglich war, nun als Erstes die Leute zu fragen, beispielsweise die Kollegen: Was haben Sie im Krieg gemacht, was waren Sie im Krieg? Waren Sie ein Nazi?
Tosia RR:Das ist bis heute so.
MRR: Entschuldigen Sie bitte, meine Liebe: Habe ich Peter Coulmas gefragt: Was haben Sie im Krieg gemacht? Waren Sie in der deutschen Wehrmacht? Ich weiß es bis heute nicht. Was hat Peter Coulmas während des Krieges gemacht? Er war schon erwachsen.
Röhl: Ich kannte Peter Coulmas seit den sechziger Jahren, seit der Zeit der oben beschriebenen Establishmentpartys in Hamburg, wo ich noch ein Kind war, bis zu seinem Tod im letzten Jahr gut. Er war eine Art Übervater einer ganzen Kinderschar eben dieser Medienleute von damals und war für mich ein wichtiger Geschichtslehrer. Über das, was er in der Nazizeit gemacht hat, habe ich auch nichts von ihm erfahren.
MRR: Fragen Sie weiter.
Röhl: Wenn man in Ihrem Buch das Kapitel über Ihre Zeit im Warschauer Getto gelesen hat, dann kann man eigentlich fast keine Fragen mehr stellen. Tosia RR: Ja.
Röhl: Es ist sehr schwer für einen Interviewer, auf diese Fragen zu kommen, weil man hat wie ich jetzt tausend Fragen, die leichter sind, die andere Themen betreffen. Es fällt auf, dass Sie diese Geschichte, in Anführungsstrichen, diese Lebensgeschichte nicht schon sehr viel früher erzählt haben.
MRR: Ja.
Röhl: …sondern erst in Ihrem Buch 1999 „Mein Leben“, obwohl es eigentlich alle etwas angegangen wäre. Es hätte interessieren müssen. Es ist ja fast gar nicht möglich, Ihre Geschichte zu verstehen, ohne dass man dieses Kapitel kennt, und das hat man doch erst sehr spät kennen gelernt.
MRR: Ja, ich wollte das nicht schreiben. Ich habe das immer weggedrängt.
Röhl: War den Leuten in Hamburg oder Frankfurt in den Redaktionen oder wo auch immer überhaupt bewusst, was passiert war im Warschauer Getto? Und was Sie im Warschauer Getto erlebt hatten, und dass Sie und Ihre Frau als eine der ganz wenigen dieses Getto überlebt haben?
MRR: Natürlich wusste Rudolf Walter Leonhardt, was das Warschauer Getto war – wenn er besoffen war. Er war ehrlich, wenn er besoffen war. Da hat er einmal zu mir gesagt: Eine totale Verständigung zwischen uns wird nie möglich sein, denn Sie waren im Warschauer Getto und ich war Ritterkreuzträger in der Hitlerarmee, vielleicht hat er gesagt, ich war Pilot, Jäger in der Wehrmacht. Kurz und gut: Ihm war sehr bewusst, welche Vergangenheit ich hatte. Aber es hat mich niemand danach gefragt. Niemand, ja. Es muss schon Gründe haben.
Aber ich möchte Sie etwas fragen: Wieso erwarten Sie von Deutschen, dass sie so unbedingt wissen wollten, unter welchen Bedingungen Juden in den von Deutschen geschaffenen Gettos gelebt haben? Offenbar musste eine neue Generation nachwachsen, damit das Interesse für diesen Bereich existiert.
Ich habe Vorträge gehalten, einige Male. Ich bin gebeten worden, über Musik im Warschauer Getto zu berichten. Aber wie ist es dazu gekommen? Das kann ich Ihnen sagen. Ich war längst hier in Frankfurt. Ich war schon sehr lange in Deutschland. Es muss in den siebziger Jahren gewesen sein, als ich vom NDR gebeten wurde, an einer Sendung „Meine Lieblingsmusik“, irgend so eine Serie, teilzunehmen. Da konnte man seine Lieblingsmusik vorstellen und ich sagte dem Redakteur: Wissen Sie, ich werde diejenigen Werke nennen, die ich im Warschauer Getto gehört habe, denn da gab es eine Zeitlang ein Orchester und es gab trotz der Bedingungen, der schrecklichen, Konzerte, und es gab auch Schallplatten, und ich werde diese Musiktitel nennen. Mit der Beschaffung der Schallplatten werden Sie nicht die geringsten Sorgen haben, denn es wird die Rede sein von Mozart, von Beethoven, von Schubert – und da sagte er: Bitte sehr. Und es war ihm völlig gleichgültig. Und dann habe ich in der Sendung von dem Warschauer Getto und dem Orchester, welches wir dort hatten, erzählt, und die Sendung lief, und diese Sendung hatte ein Echo. Und dies hatte unter anderem zur Folge, dass der damalige Direktor, der Intendant des Theaters in Köln, mich zu einem Vortrag über dieses Thema eingeladen hat. Aber dass ich sonst noch zu dem Warschauer Getto befragt worden bin, daran erinnere ich mich nicht…

Ulrike Meinhof-Begegnung

Tosia RR
: Du hast die Geschichte im Funkeck vergessen, als die Ulrike…
MRR: Aber das hatte mit Musik nichts zu tun.
Tosia RR:Aber mit dem Getto.
MRR: Das war zu einem ganz anderen Zeitpunkt. Zum ersten Mal habe ich Ulrike Meinhof gesehen, als sie Anfang der sechziger Jahre ein Interview mit mir machte. Sie war die erste Person in der Bundesrepublik, nachdem wir aus Polen 1958 nach Westdeutschland gekommen waren, die nach meiner Zeit im Warschauer Getto fragte. Wir trafen uns damals im Cafe Funkeck in Hamburg. Am Ende des Interviews, das viel länger dauerte als ursprünglich geplant, hatte Ulrike Meinhof Tränen in den Augen – darüber habe ich in meinem Buch „Mein Leben“ berichtet.
Röhl: Ich habe von Ihrer Begegnung mit Ulrike Meinhof natürlich in Ihrem Buch gelesen und mich eigentlich gefreut, dass meine Mutter die Erste war, die Sie nach dieser Geschichte gefragt hat. Und trotzdem ist für mich in dieser Geschichte bitterer Wermut.
MRR: Nämlich …
Röhl: Kurz nach der Veröffentlichung Ihres Buches im September 1999 schrieb mir Klaus Röhl, und dies deckt sich auch mit meinen nachfolgenden Recherchen, dass dieses Interview mit Ihnen von Ulrike Meinhof aufgrund fremden Auftrages zustande kam. Bis Sommer 1964 waren meine Eltern für die illegale KPD tätig und daher häufig in der DDR. Es stellt sich so dar, dass Röhl/Meinhof einen Hinweis bekommen hatten.
MRR: Von wem?
Röhl: Von der illegalen West-KPD, die in diesen Jahren ihren Sitz in Ostberlin hatte. Die wiederum handelte auf Ersuchen der polnischen KP. Die Anweisung der „Partei“, wie es damals hieß, lautete Sie auszuhorchen.
Tosia RR: Ach?
MRR: Ja, und?
Röhl: Kurz bevor Ulrike Meinhof Sie interviewte, war es zwischen Röhl/Meinhof und der Partei zum Bruch gekommen. Die Zahlungen an „Konkret“ waren eingestellt worden, und die Zeitung musste finanziell über Nacht auf eigene Füße gestellt werden, so dass Ulrike Meinhof quasi halb auf eigene Faust und halb noch als Parteimitglied, das sie persönlich geblieben war – so muss man es wohl sehen -, als Journalistin mit den zuvor erhaltenen Informationen jetzt eine große Story über den in KP-Kreisen als reaktionär betrachteten Reich-Ranicki machen wollte. Ulrike Meinhof wollte irgendetwas aus Ihrer Zeit im Warschauer Getto herausbekommen. Dies war der Grund, weshalb sie Sie damals um das Interview gebeten hat.
MRR: Worüber?
Röhl: Dass Sie im Warschauer Getto irgendwie kollaboriert hätten.
MRR:Ich kann Ihnen nur sagen, mir war es für keinen Augenblick bewusst, dass Ihre Mutter im Gespräch mit mir irgendetwas erkunden wollte.
Röhl: Natürlich nicht. Aber ich bin der Meinung, dass ich bei dieser Gelegenheit Ihnen dies nicht verschweigen darf.
MRR: Sie können es mir gerne erzählen. Sie wissen ja, als ich in den Westen gekommen bin, hat das polnische Innenministerium dem Amt von Markus Wolf den Auftrag gegeben, mich in der Bundesrepublik zu suchen. Das war 1958 und sie haben ihren Agenten in Köln beauftragt, mich zu suchen und der hat geantwortet, ich sei unauffindbar. Verstehen Sie, das war in einer Zeit, wo ich in der „Zeit“, in der „Welt“ veröffentlicht habe, und es wäre nichts einfacher gewesen, als mich zu finden. Sie sehen, so haben die Leute von Markus Wolf damals gearbeitet. Mit anderen Worten, die Stasi versuchte Ihren Vater und Ihre Mutter als Agenten in der Bundesrepublik auszusenden?
Röhl: Es war die damals illegale KPD.
MRR: Die KPD aus Westdeutschland. Na ja, und die waren ja der Stasi verpflichtet, die haben ja der Stasi Material und alles geliefert.
Röhl: Ja. Erschütternd ist für mich, dass Ulrike Meinhof, nachdem sie von Ihnen nicht die gewünschte oder erhoffte Skandalnews erhalten hatte, das Interview nicht veröffentlichte.
MRR: Es regt mich nicht sehr auf. Wissen Sie, meine Liebe: Sie hielten es damals für richtig.

Zwei Wochen später nachgefragt:


Röhl
: Hat das Wissen um die Hintergründe des Interviews, die ich Ihnen erzählt habe, etwas an Ihrer Meinung über Ulrike Meinhof geändert?
MRR: Nein, das hat gar nichts geändert, überhaupt gar nichts. Ich wusste davon nichts und es interessiert mich auch nicht, was irgendwann irgendwo damals über mich da geredet wurde. Meine Beurteilung über das Gespräch mit Ulrike Meinhof ist so, wie es in meinem Buch steht.
Röhl: Welchen Grund könnte die polnische KP gehabt haben, so etwas anzuzetteln?
MRR: Das ist doch ganz normal. Wenn so einer wie ich weggeht in den Westen aus einem kommunistischen Staat, dann versucht man allerlei gegen ihn in die Wege zu setzen und bekannt zu machen.
Röhl: Sie nehmen das Ulrike Meinhof nicht übel?
MRR:Nein, nein. Sie hat mir ja keine anderen Fragen gestellt als solche, die das Getto betrafen, und ich habe da überhaupt keine andere Meinung.

Die Gruppe 47 und die Vorwürfe, sie sei antisemitisch


Röhl
: Im letzten Jahr ist ein Buch erschienen von einem Klaus Briegleb.“Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage 'Wie antisemitisch war die Gruppe 47?'“ Er vertritt darin die These und bemüht sich, diese durch allerlei Zitate und Umstände zu belegen, dass die Gruppe 47 antisemitische Tendenzen gehabt habe. Und dies auch, weil sie den Holocaust als Thema ignorierte, gar ausgrenzte. Diese Kritik an der Gruppe 47, ausgerechnet, die man für völlig unbelastet gehalten hat – Wie stehen Sie zu dieser These?
MRR:Was der Briegleb geschrieben hat, ist weitgehend großer Blödsinn. Er hat keine Ahnung. Er weiß nicht, was er redet. Erstens waren in der Gruppe 47 nicht wenige Juden. Wenn man daran denkt, wie viele Juden es überhaupt damals gab, waren es gar nicht so wenige. Wer waren die Juden in der Gruppe 47? Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss, Erich Fried, Jakov Lind, Hans Mayer, und schließlich ich – da haben Sie schon eine ganze Menge. Es haben die Juden gelegentlich, die nicht gerade der Gruppe angehörten, aber als Gäste da waren, aus ihren Büchern gelesen, zum Beispiel Hans Sahl, also ein deutscher Jude, der in Amerika lebte. Und da war noch ein anderer, Michel Stone, aus England, glaube ich. Die Juden, die auf den Tagungen der Gruppe 47 gelesen haben, sind von der Kritik genauso behandelt worden wie alle anderen. Dass Juden auf irgendeine Weise von der Kritik – der mündlichen, es war ja mündlich – auf irgendeine Weise diskriminiert oder benachteiligt wurden, ist absolut ausgeschlossen, ist unwahr. Das ist das Entscheidende. Ein anderer Punkt: Klaus Briegleb hat gesagt, es würden manche Juden nicht dabei gewesen sein. Natürlich nicht. Natürlich waren Hermann Kesten oder Robert Neumann nicht dabei. Das war eine andere Generation. Genauso wie die Nicht-Juden wie Luise Rinser oder Rudolf Krämer-Badoni auch nicht dabei waren. Die waren zu alt. Also da ist kein Wort wahr. Nun kommt aber eine andere Sache dazu und die ist viel diffiziler: Der eigentliche Kern der Gruppe waren ja Leute, die im Zweiten Weltkrieg Soldaten der Wehrmacht waren und zum Teil in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern gewesen waren. Da waren Leute wie Hans-Werner Richter, wie Alfred Andersch, wie Wolf Dietrich Schnurre, wie Heinrich Böll und viele mehr. Die kamen auch, wie man mir erzählte, in den ersten Jahren der Existenz der Gruppe, Ende der vierziger Jahre, Anfang der fünfziger Jahre, noch in Mänteln der Wehrmacht. Das war damals üblich, wenn man sich keinen neuen Mantel leisten konnte.
Röhl: Wie Helmut Schmidt, von dem es auch heißt, er sei noch im Soldatenmantel zur Universität gekommen.
MRR: Ja, genau. Und Leute, die so geformt, geprägt wurden durch das Kriegserlebnis, durch die Wehrmacht wie Christian Ferber, der Sohn der Ina Seidel, der auch dazugehörte zu dieser Gruppe – für alle diese Leute waren die Juden, ob sie sie gern hatten oder nicht, der Hildesheimer, der Fried, der Jakov Lind, Peter Weiss, natürlich irgendwie fremd, aber ich sehe darin noch nichts Antisemitisches. Die Juden waren Menschen mit einer anderen Vergangenheit: Hildesheimer war im Krieg in Palästina, Fried in England, Peter Weiss in Schweden – und ich kann mir denken, dass diese Gruppe mit ihrer Erfahrung in der deutschen Wehrmacht abends beim Wein eigentlich lieber unter sich war und nicht so gerne wollte, dass da auch noch die Juden dabei sind, bei denen man aufpassen musste, dass man nicht irgendetwas sagt, was sie eventuell kränken könnte. Das ist alles. Darin sehe ich keine Zeichen des Antisemitismus, sondern eine ziemlich normale Sache und wie gesagt, ich habe – und ich bin nun wirklich für Fragen des Antisemitismus empfindlich – in der Gruppe 47 keine Anzeichen des Antisemitismus gemerkt. Günter Grass wollte zu einem bestimmten Zeitpunkt, dass man mich aus der Gruppe rausschmeißt. Es gibt Briefe, gedruckte, an Richter, wo er das begründet, glaube ich, und auch Hildesheimer wollte, dass man mich richtig rausschmeißt, gerade also auch ein Jude wollte dies, weil ihnen meine Art der Kritik missfiel. Andere, wie Siegfried Lenz, haben mich dagegen verteidigt. Und nach langen Überlegungen hat Richter beschlossen, ich soll in der Gruppe bleiben. Ich sei als Kritiker doch nötig in dieser Gruppe. Aber: Warum wollte Grass, dass man mich rausschmeißt? Weil ich Jude bin? Um Gottes Willen, keine Spur davon: Weil ich ungünstig über irgendetwas von ihm geurteilt habe. Mit Antisemitismus hatte das gar nichts zu tun. Und noch ein Punkt. Es ist nie die Frage des Holocaust diskutiert worden. Was soll der Quatsch? Es sind überhaupt keine Fragen diskutiert worden. Es ist auch nicht die Frage der Teilung Deutschlands diskutiert worden, es ist auch nicht die Arbeitslosigkeit diskutiert worden. In der Gruppe sind keinerlei Probleme und Fragen diskutiert worden. Es wurden Texte gelesen. Romankapitel, Gedichte und Novellen und dann wurde darüber geredet. Nur über Texte. Und wer von dem Text abwich, ist von Richter zur Ordnung gerufen worden. Es sollte keine politische Diskussion sein, sondern eine literarische. Wenn Sie wollen, dies ist etwas überspitzt, es wurde diskutiert, ob die Konjunktive richtig waren, und ob die leisen oder die lauten, die hellen oder die dunklen Vokale dominieren.
Röhl: Also auch die Zitate von Paul Celan oder von Ingeborg Bachmann… Sie hat gesagt, laut Briegleb, die Kritik an ihren Gedichten in der Gruppe 47 seien so schlimm gewesen, dass sie sich wie unter Nazis gefühlt hätte…
MRR: Weiß ich nicht. Habe ich nicht von der Bachmann gehört. Bachmann war verliebt in den Celan und der Celan hat dort gelesen und ist durchgefallen. Weil die Gruppe 47 für seine Poesie, die überhaupt nichts mit der damaligen deutschen etwas zu tun hatte, kein Verständnis hatte. Sie hat damals mit ihm geschlafen. Was wollen Sie? Natürlich hat sie ihn verteidigt. Das war auch kein Philosemitismus und kein Antisemitismus, sondern Erotik.
Röhl: Gab es unter den jüdischen Schriftstellern auch eine Solidarität?
MRR:Nein, es gab keine Kontakte. Erich Fried und ich haben uns kennen gelernt. Wir waren auch bei ihm in London, er war auch bei uns. Aber sonst gab es eine solche Gemeinsamkeit nicht. Alle waren verstreut. Das war schon im Krieg so gewesen: Peter Weiss ging es gut in Stockholm im Krieg, Fried hatte in London als Fabrikarbeiter arbeiten müssen, Hildesheimer war in Palästina gewesen und dann war er Dolmetscher beim Nürnberger Prozess. Ich hatte, als wir in Hamburg lebten, überhaupt keine Kontakte zu Juden. Wir haben mal Rolf Liebermann im Theater Guten Tag gesagt oder Ida Ehre. Aber die Juden haben sich auch um mich nicht gekümmert, es gab übrigens nur wenige. Auch in Frankfurt habe ich mich nie um die Juden gekümmert. Ich war nie Mitglied in der jüdischen Gemeinde,
Röhl: Ganz anders als Ignatz Bubis.
MRR: Genau. Ja. Ignatz Bubis
Röhl: Sie und Ignatz Bubis, der 1999 gestorben ist und lange Jahre der Vorsitzende des Zentralrats der Juden war, haben, so unterschiedlich Sie sind, eine Gemeinsamkeit: Sie beide sind nie als Opfer aufgetreten. Oder sehen Sie das anders?
MRR: Nein, ich sehe es gar nicht anders. Es gibt einen Unterschied zwischen Bubis und mir. Einen ganz gewaltigen, von anderen abgesehen. Bubis hielt sich viele Jahre lang für einen Deutschen und ich nie. Ich war kein Deutscher und ich bin kein Deutscher. Und wenn das jemand vermutet oder sagt, weise ich dies weit von mir, und lasse mich auch nicht vereinnahmen. Ich bin kein Deutscher. Deswegen sind mir viele Enttäuschungen erspart geblieben, die Bubis und seine Frau erlebten. Bubis war schon entsetzt, als ihn die arme Petra Roth gefragt hat: Sehen wir uns nächste Woche bei Ihrem Botschafter, das hieß dem Botschafter Israels in Bad Godesberg. Verstehen Sie? Oder wenn eine Ladenverkäuferin ihn fragte: Fahren Sie über die Osterfeiertage in Ihre Heimat, womit gemeint war, nach Israel? Mir werden solche Fragen nicht gestellt. Aber ich habe mich nie als Deutscher gefühlt und niemand kann mir mein Deutschtum bestreiten – das gibt's nicht. Mein Deutschtum besteht nur in meiner tiefen langjährigen, ein Leben währenden Beschäftigung mit der deutschen Literatur. Ich benutze das Wort deutsch für meine Person nur als Adjektiv. Ich bin ein deutscher Literaturkritiker oder wie Sie wollen. So sieht's aus.
Röhl: Sie waren nie in einer jüdischen Gemeinde…
MRR:Nein, in keiner jüdischen Gemeinde, weder vor dem Krieg, während des Krieges oder nach dem Krieg. Ich habe während des Krieges in der jüdischen Gemeinde in Warschau als Übersetzter gearbeitet. Im so genannten Judenrat. Das steht ja auch in dem Buch genau beschrieben, aber ich war nie Mitglied der jüdischen Gemeinde, und das letzte Mal bei einem jüdischen Gottesdienst war ich vor 70 Jahren.
Röhl: Vor 70 Jahren? Das ist wirklich eine Weile her.
MRR: Später in den nächsten 70 Jahren war ich einmal in einer jüdischen Synagoge in Prag als Tourist, denn zu den Sehenswürdigkeiten der Altstadt gehört die Synagoge. Ich gehe zu keinem Gottesdienst. Ich habe ein ganz negatives Verhältnis zu allen Religionen auf Erden.
Röhl: Waren Sie nicht schon als Kind zum Rabbiner auserkoren?
MRR: Ja, mein Großvater hat das gesagt, aber er hat das mehr scherzhaft gemeint. Sie meinen die Gespräche, die er mit mir geführt hat, als ich 10/11 Jahre alt war. Da sagte er: Du wärest geeignet dafür, Rabbiner zu werden. Und um mich zu locken, hat er, was ich für ganz amüsant hielt – es hat mir gefallen – gesagt: Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel man als Rabbiner faulenzen kann.

„Der Müll, die Stadt und der Tod“


Röhl
:Es gab ein Theaterstück, das in Frankfurt 1985 uraufgeführt werden sollte: „Der Müll, die Stadt und der Tod.“….
MRR: Das Fassbinderstück, bei dem Bubis und seine Frau auf der Bühne standen und protestierten.
Röhl: Sie haben dieses Ereignis als Literaturkritiker der FAZ sicherlich miterlebt.
MRR:Ja, ich war an dem Abend da. Ich war bei der Aufführung dabei.
Röhl: Wie ist Ihre Meinung zu diesem Stück? Und wie ist Ihre Meinung zu diesem Streit gewesen und auch, dass sich Bubis und die jüdische Gemeinde dagegen gewehrt haben, dass dieses Stück aufgeführt wird?
MRR:Es war falsch, ein Fehler und eine Dummheit, dass der Intendant des Theaters in Frankfurt, Günther Rühle, mit dem ich viele Jahre in der FAZ zusammengearbeitet habe, dieses Stück aufführen ließ. Und der Haupteinwand von mir gegen dieses Stück lautet: Es ist ein so schlechtes Stück. Es ist miserable Literatur. Es ist hingerotzt und es ist überhaupt nicht der Rede wert. Ich wollte bei dieser Generalprobe, dieser öffentlichen, einmaligen Aufführung des Stückes etwas tun, damit das Stück doch aufgeführt werden kann. Es sind ja die Vertreter der jüdischen Gemeinde auf die Bühne gegangen mit Transparenten und haben dagegen protestiert und es verhindert. Naja, und nachdem die Vorstellung seit Stunden nicht begonnen hatte, ging ich auf die Bühne und habe – leise – mit Bubis verhandelt. Und sagte ihm: Ihr habt bewiesen, dass Ihr die Vorstellung verhindern könnt, Ihr verhindert Sie nun schon zwei Stunden. Es reicht. Es sind hier viele Journalisten, auch Journalisten aus dem Ausland, und alle wollen das sehen, um sich zu überzeugen, was das eigentlich ist. Bitte gebt die Bühne frei. Bubis hat mir eine Antwort gegeben, die jede Diskussion beendet hat. Er hat gesagt: Und wenn wir bis 6 Uhr früh hier stehen, wir gehen nicht von der Bühne, wir bleiben hier. Denn es ist ein Beschluss der Gemeinde, dass wir diese Vorstellung verhindern sollen, also kann ich nichts machen. Ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen, ich bin gebunden an diesen Entschluss. Da bin ich runtergegangen und habe mich wieder ins Publikum gesetzt.
Tosia RR: Und wurde es gespielt?
MRR: Nein.Das heißt, es wurde dann viel später ein einziges Mal gespielt. Ich habe es gesehen. Es ist ein ganz schlechtes Stück, Sie können es sich nicht vorstellen. So ein Mist. Nirgends auf der Erde hat man das Stück aufgeführt. In New York hat man es dann noch einmal versucht, in einem kleinen schäbigen Theater, doch die Aufführung blieb leer – man hat es nach zwei Vorstellungen abgesetzt.
Röhl: Die Geschichte ist historisch interessant…..
MRR: Es war das erste Mal, dass Juden so öffentlich protestierend aufgetreten sind, und es gibt ein Wort von Rühle, das in dem Zusammenhang von großer Bedeutung ist. In einer Funkdiskussion mit Bubis hat er gesagt: Die Schonzeit ist vorbei. Haben Sie kapiert? War ein dolles Wort. Die Schonzeit – (gemeint war: für die Juden) – ist vorbei.
Röhl: Vor knapp 20 Jahren, während dieser Diskussion fiel so etwas?
MRR: Ja genau. Mitten in dieser Zeit, ich glaube, es war in den achtziger Jahren.
Röhl: Nicht umsonst ist Fassbinders Drehbuch „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (bei Suhrkamp) schon 1976 wegen „antisemitischer“ und „linksfaschistischer“ Stellen vom Markt genommen worden. Das Stück handelte vom Häuserkampf in Frankfurt in den siebziger Jahren. Einer der besonders traktierten Grundstücksbesitzer war damals Ignatz Bubis, der ein paar Jahre zum bevorzugten Feind der Frankfurter Gewaltszene geworden war. Deshalb verstehe ich, dass Bubis sich durch das Stück angegriffen fühlte. Er war angegriffen.
MRR: Bubis war das Vorbild für die Figur „Der reiche Jude“. Die einzige Figur im Stück, die keinen Namen hatte. Der reiche Jude. Ein Typ.
Röhl: Ist das Antisemitismus?…
MRR: Ja, natürlich war das ein antisemitisches Stück. Selbstverständlich. Na, was denn sonst? Und Bubis ist von Rühle gebeten worden, das Stück nicht zu verhindern. Der Rühle ist umgekehrt vom damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Wallmann bekniet worden. Der sagte zu Rühle: Machen Sie das doch nicht. Wir sind die Partnerstadt von Tel Aviv. Verzichten Sie doch auf das Stück! „Nein“, sagte Rühle.
Röhl:Und dies ist übrigens auch aus der Sicht von Ignatz Bubis, den ich unter anderem zu diesem Stück 1999 ganz kurz vor seinem Tod ausführlich interviewt habe, ein offener linker Antisemitismus. Man kennt immer den Antisemitismus von rechts…..
MRR:Nein. Nein. Joachim Fest hat damals diesen Fehler gemacht. Er hatte in der FAZ geschrieben: Der linke Fassbinder hat das Stück geschrieben. Nur war Fassbinder nie links in seinem Leben. Er hat mit den Linken nichts im Sinn gehabt. Jeder der rüpelhaft war, wurde für links gehalten.
Röhl: Sie würden Fassbinder …
MRR:Der hatte nichts mit linken Ideen zu tun.
Röhl: Aber auch nicht mit rechten Ideen.
MRR:Nein, überhaupt nicht, Politik hat ihn nicht interessiert.
Röhl: Schätzen Sie Fassbinder eigentlich?
MRR:Ach Gott ja, natürlich. Er hat einige Filme gemacht, die sehr gut waren. Ich habe früher Stücke von ihm gesehen, die mich interessiert haben. Er war mit Sicherheit nicht mein Typ. Das können Sie sich denken. Aber: dass er Talent hatte, ja. Von Fassbinder war ein Stück, da war ich sogar bei der Uraufführung in Bremen. Er hat schon Sinn gehabt für die Bühne. Gar keine Frage. Und seine Filme: Effi Briest ist kein revolutionäres Buch, und er hat aus Effi Briest doch einen recht beachtlichen Film gemacht.
Röhl: Hatten Sie je etwas mit der Szene in Frankfurt um Joschka Fischer und Cohn-Bendit zu tun?
MRR:Wenig, wenig. Sehen Sie, ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ich kenne Daniel Cohn-Bendit: Er hat ein Interview mit mir gemacht Ende der Siebziger für den „Pflasterstrand.“ Das war gar nicht so schlecht. Er hat hier auf dem Sofa gesessen. Ich habe ihn später mal bei der einen oder anderen Gelegenheit gesehen.

Die „Frankfurter Verlobung“


Röhl
: Ich frage dies, weil Sie in Frankfurt vor einem Jahr im Schauspielhaus in dem Theaterstück des inzwischen verstorbenen Kabarettisten Matthias Beltz waren, das ja ebenfalls diese Zeit der siebziger Jahren beschreibt: „Die Frankfurter Verlobung“. Wie man überall lesen konnte, waren Sie von dem Stück begeistert.
MRR: Es hat mir sehr gefallen. Es stand sogar in der „Bildzeitung“, dass ich ein zweites Mal in die Aufführung gegangen bin.
Röhl: Es geht in dem Stück um die linksradikale Vergangenheit von Beltz und Joschka Fischer in den siebziger Jahren. Matthias Beltz tritt in der Person des „Gerhard“, einem Rechtsanwalt mit linksradikaler Vergangenheit quasi selber auf die Bühne, „Bille“ ist eine Weggefährtin, mit der er sich verloben will. „Johannes“ tritt als Sohn von „Bille“ als rebellierendes 68er-Kind auf. „Mascha“, die Freundin des Sohnes, ist TV-Journalistin. Sie will alles über die linksradikale Vergangenheit des „Ministers“ wissen. Hinter der Figur des „Ministers“, der in dem Stück nie auftaucht, aber auf den alle warten, ähnlich wie in „Warten auf Godot“, verbirgt sich unverschlüsselt Außenminister Fischer. „Gerhard“ alias Matthias Beltz erzählt „Mascha“ in einem langen Monolog von einem Molotowcocktailanschlag von 1975, bei dem ein Polizist lebensgefährlich verletzt wurde. Wussten Sie, dass meine Person in dem Stück eben als diese Journalistin Mascha vorkommt?
MRR: Mascha, in diesem Stück?
Röhl: Ja. Ich hatte Beltz vor ein paar Jahren mehrfach und intensiv interviewt und ihm dabei im Scherz erzählt, dass ich ein echtes „Kommunistenkind“ sei, da beide Eltern viele Jahre aus Moskau finanziert worden waren. Daher kam er wohl darauf, mich als Russin, als „Stalins Tochter“, wie es in dem Stück heißt, zu verfremden. Was mochten Sie an dem Stück, dass Sie mit Ihrem Wohlgefallen damals in allen Medien zitiert wurden?
MRR: Es hat mich interessiert, als zeitkritisches Stück, das die Atmosphäre jener Jahre auf der Bühne zeigte. Es war auch sehr gut gespielt, der Schauspieler, der den Beltz spielte, Edgar Selge und seine Frau, Franziska Walser, waren beide sehr gut.
Röhl:Und der Inhalt?
MRR: Liebe, das ist eine Weile her, seit ich das gesehen habe. Mich hat das Stück sehr interessiert, aber ich habe über das Stück selbst nicht geschrieben und ich möchte es jetzt nicht irgendwie analysieren – das ist zu spät.
Röhl: Ist das ein Racheakt von Beltz gewesen?
MRR: Das kann ich nicht beurteilen, ich kenne das Milieu nicht so genau. Ich weiß es nicht. Mich hat das Stück sehr interessiert und die Aufführung auch. Ich habe ein Stück Zeitgeschichte und auch Frankfurter Geschichte in dem Stück gesehen. Schluss.

Martin Walser


Röhl
: Sie selber sind vor zwei Jahren das Vorbild für eine Romanfigur geworden.
MRR: Jetzt wollen Sie über Martin Walser reden. Langweilen Sie mich nicht.
Röhl: Was sagen Sie dazu, dass der Suhrkamp Verlag sich hinter seinen Autoren Walser gestellt hat und das Buch sogar ein Verkaufserfolg wurde?
MRR: Na ja, hören Sie zu! Bei so einer Affäre, das ist natürlich eine dolle Werbung. Der Verlag hat da solche halbherzigen Maßnahmen ergriffen. So gab es keine einzige Anzeige dieses Buches. Der Verlag hat es nicht inseriert, nirgends, kein einziges Mal. Die Ulla Berkewicz hat sich damals zurückgezogen. Sie hat die Entscheidung dem Berg überlassen. Der Günther Berg ist inzwischen rausgeschmissen aus dem Verlag, aber er hat das damals so entschieden. Eine Kritik von Joachim Kaiser in der „Süddeutschen“ hat dabei stark mitgewirkt. Ja, ein Autor rächt sich.
Röhl: Sie sagen Rache, aber war denn Herr Walser wirklich ein literarisches Opfer von Ihnen?
MRR: Nein, ich habe ja manche Bücher von ihm gelobt und gerühmt. Manche habe ich verrissen. Aber er war wütend. Er fand, dass ich sein Unglück sei. Er wollte sich rächen und er hat ausdrücklich erklärt, dass er diese Rache lange vorbereitet hat. Es war ein Racheakt, und ein Racheakt, bei dem eindeutig in dem Roman die Figur ein Jude ist. Es wurden antisemitische Ressentiments bedient von dem Roman: ein Jude, der nicht deutsch sprechen kann, alles, was Sie wollen. Ich fand das Buch infam und niederträchtig und der Walser ist eigentlich nicht mehr salonfähig.

Ehrengast Albert Speer


Röhl
: Sie beschreiben, dass FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest, als Sie Anfang der siebziger Jahre in Frankfurt bei der FAZ als Literaturchef im Feuilleton begannen, Sie zu der Präsentation seines Buches „Hitler. Eine Biographie“ nach Berlin eingeladen hatte und Sie und Ihre Frau dort Albert Speer persönlich begegneten. Und dass dies ein schockierendes Erlebnis natürlich war. Ich empfinde diese Begegnung als eine der ungeheuerlichsten Erlebnisse in dem Buch überhaupt, diese Zusammenführung auf einem Parkett…
MRR: Ja!
Röhl: ….wo Albert Speer nicht als Kriegsgefangener oder als Verbrecher vor Ihnen stand, sondern quasi als eingeladener…
MRR: Als Ehrengast! Was wollen Sie von mir wissen? Es steht alles in meinem Buch!
Röhl: Ja, mir scheint fast zu wenig. Ich finde, dass dieser Punkt keine angemessene, öffentliche Beachtung gefunden hat, wenn ich das sagen darf. Ich habe gelesen, dass Sie ( zu Tosia RR gewandt) sehr erschrocken waren über den für sie überraschenden Gast.
MRR: Ja.
Röhl: Ist das von Joachim Fest eine Art Koketterie gewesen? Wollte er wissen: Wie reagieren die jetzt? Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?
MRR: Ich bin überzeugt, dass Joachim Fest sich überhaupt nicht dessen bewusst war, was er mir damit angetan hat. Und ich bin überzeugt, dass es für Joachim Fest eine Ehre war, dass eine so historische Persönlichkeit wie Albert Speer bei der Präsentation seines Buches zugegen war.
Röhl: Okay, wenn er in Handschellen dort gestanden hätte, in einer Ecke.
MRR (lacht): Ich verstehe Sie.
Tosia RR (lacht)
MRR: Er war ein eleganter Herr ohne Handschellen. Sehr elegant, dezent angezogen, überaus höflich. Eingeladen wurde er von Wolf Jobst Siedler. In dessen Wohnung fand ja die Sache statt. Und der Siedler scharwenzelte um ihn her, um den Ehrengast.
Röhl:Er bekam die Aufmerksamkeit.
MRR: Ja.
Röhl:Er war der Mittelpunkt.
MRR:So war's.
Tosia RR:So war's.
Röhl: Und Sie können dann ja nicht hingehen und ihm eine runterhauen, wenn ich es mal salopp ausdrücken darf. Es gibt einfach kein angemessenes Mittel. Was macht man da in dieser Situation?
MRR: Wissen Sie, die Sache war die, dass ich mir einen Augenblick überlegt habe, wie ich reagieren soll. Und da kam von hinten oder von der Seite Siedler und führte mich hin zu ihm, ganz schnell ging das. Ich war schon da! Ich hatte von ihm fünf, sechs Schritte entfernt gestanden – und nun stand ich direkt vor ihm und er grüßte mich. Er war schon darauf aufmerksam gemacht worden, dass da noch ein Jude übrig geblieben ist und jetzt da ist, den er gleich sehen wird.
Röhl: Er war bestimmt vorher genau informiert worden.
MRR: Bestimmt war er das, das weiß ich. 'türlich! Er war vorbereitet. Er war zu mir auf übertriebene Weise höflich.
Tosia RR: Natürlich!
Röhl: Das sprengt den Rahmen, wenn so einer geladen wird als Ehrengast, dann gibt es keine Handlungsmöglichkeiten mehr.
MRR: Ja. Und denken Sie an die Äußerung von ihm, die ich zitiere! Das Buch war ja aufgebahrt auf einem Pult mit Samt bezogen und er kuckte auf das Buch und dann nach oben und sagte: ER hätte seine Freude dran. Ja, ER, Adolf Hitler.

'68, RAF und Erich Fried


Röhl
:Sie haben beschrieben, dass ihre erste Begegnung mit der 68er-Bewegung 1967 war, als die Gruppe 47 in der Nähe von Erlangen tagte…
MRR:Die sind zu der Tagung gekommen, wo wir uns getroffen hatten und haben sich vor das Haus gestellt und haben gebrüllt: Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger! So ein Blödsinn. Es waren Studenten, die wussten nicht, was sie redeten, und einige Schriftsteller wie Erich Fried und Martin Walser versuchten Reden zu halten und die zu beruhigen. Später, als ich über diese Tagung in der „Zeit“ schrieb, habe ich aus der Sicht dieser Leute den großen „Fehler“ begangen, dass ich nur über die Tagung, nicht aber über diesen Zwischenfall schrieb. Ich hielt ihn nicht für bedeutsam. Fried und Walser und einige andere versuchten die Studenten zu verstehen und sich ihnen anzupassen. Ich halte das für falsch.
Röhl: Zehn Jahre später schrieb Erich Fried ein „Gedicht“ über die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback 1977 durch die RAF. Dieses Gedicht erschien in der FAZ. Erich Fried fasste in diesem Gedicht die klammheimliche Freude der Sympathisanten am Mord an Buback zusammen – war das Literatur?
MRR:Nein, es war ein widerliches Gedicht. Ich entsinne mich noch. Ich hatte Kummer genug wegen dieses Gedichtes. Ichmusste die Zusammenarbeit der FAZ mit Erich Fried jedenfalls zeitweilig unterbrechen.
Röhl:Wegen dieses Gedichtes?
MRR: Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich eine Weisung bekommen. Und ich wollte keine Weisung von den Herausgebern bekommen. Ich habe von mir aus abgebrochen und der Herausgeber Reißmüller hat es mir noch sehr verübelt und gesagt, was solle denn das Wort „einstweilen“ bedeuten. Nun, das sollte nur bedeuten, dass die deutsche Literaturgeschichte keine lebenslänglichen Urteile kennt. Ich hab auch noch gesagt: Die FAZ hat manchem Journalisten seine Vergangenheit großzügig verziehen. Ich meinte Karl Korn, der viele Jahre lang Herausgeber für Kultur war und der im Dritten Reich die schreckliche Jud Süss-Kritik geschrieben hatte und es waren noch andere Nazis in den frühen Jahren in der FAZ. Es war ein widerliches, törichtes, dummes Gedicht. Erich Fried war kein sehr kluger Mensch, aber begabt war er schon. Er hat auch manch gutes Gedicht geschrieben.
Röhl: Wie stehen Sie zu den 68ern?
MRR: Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Ich bin in die BRD 1958 gekommen. Ich habe an keiner einzigen Demonstration teilgenommen, an keiner einzigen politischen Versammlung, Kundgebung und dergleichen. Das habe ich nicht gesucht. Mich haben interessiert: Heinrich Böll, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Friedrich Dürrenmatt, aber nicht die DKP und 68er-Bewegung. Ich habe das, was sich hier in Frankfurt abgespielt hat, aus Hamburg aus großer Distanz gesehen und den Eindruck gehabt, das ist die Freizeitbeschäftigung der Wohlstandskinder gewesen. Die Aufmärsche haben mich an meine Kindheit und Jugend in der Nazizeit erinnert.

Mit freundlicher Genehmigung von Bettina Röhl (www.welt.de)

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