Fußball ist im Ruhrgebiet mehr als Religion

Kirche, Foto: Stefan Groß

Die Nachricht klingt ein wenig nach der Silvesternacht 2015 in Köln. Beim Bundesligaspiel von Borussia Dortmund gegen RB Leipzig kam es zu Ausschreitungen, bei denen Anhänger des BVB Jagd auf Leipziger machten.
Auch Frauen, Kinder und Familien wurden attackiert, es war ein Spießrutenlauf. In der für ihre Fankultur gelobten Südkurve wurden Plakate mit Sprüchen von hunderten BVB-Fans hochgehalten, die geschmacklos und beleidigend waren, bisweilen gar justiziabel.

Fußball als Religion

Wenn Religion zu maßlos gelebt wird, ist es gefährlich. Der Kohlenpott bleibt, was Religion angeht, Diaspora. Katholiken und evangelische Christen gehen nicht zum Gottesdienst in die Kirche, sondern ins Stadion. „Beim letzten Abendmahle“ oder „Fest soll mein Taufbund stehen“ kennt zwischen Oberhausen und Unna wohl kaum jemand. Liturgie hält man dort wohl für eine Gelenk-, Schisma für eine Darmerkrankung. Null Ahnung von Religion.
S04 und BVB-Fans hassen sich beinahe so sehr, wie zu Zeiten des 30jährigen Krieges Katholiken und die Anhänger Luthers – zugegeben, ein wenig übertrieben, aber Sätze wie „Tod und Hass dem S04“ sind beliebte Graffitis und Aufkleber, die durchaus den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, wären sie politisch motiviert. Nun ist RB Leipzig vor beiden Teams. Da kanalisiert sich hier die Antipathie.
Die Aussage von Dortmunds Manager Michael Zorc, wonach die Vorkommnisse vom Wochenende nicht „akzeptabel sind“, als Leipzig-Fans in Dortmund wie Freiwild behandelt wurden, erscheinen halbherzig und schlapp.

Tiefliegende Probleme des Ruhrgebietes

Jahrzehntelang, also bis in die 1950er Jahre, war das Ruhrgebiet die wohlhabendste deutsche Region, seither entwickelte sich das Revier zunehmend zu einer Problemzone. Fußball hat hier Stellvertreterfunktion, ausbleibende Erfolge zu kompensieren und Minderwertigkeitskomplexe glattzubügeln.
Die beiden großen Teams im Pott geben ihren Anhängern Orientierung, bieten Siege und Halt für viele, die es im wahren Leben eher nicht so weit gebracht hatten.
Bei den meisten anderen Bundesligavereinen gibt es auch Ultras, teilweise eine Hooligan-Szene. Aber nirgendwo wird Fußball, die schönste Nebensache, so ernst genommen, wie zwischen Bundesstraße 1 und Autobahn 2.

Und nun Leipzig

Zugegeben. Hoffenheim, Wolfsburg und Leverkusen sind mir nicht besonders sympathisch. Es freut mich allerdings, dass Ostdeutschland nach vielen Jahren endlich wieder einen Bundesligisten hat – und zwar einen, der auch noch oben mitspielen kann.
Den Hass, der kürzlich den Leipzigern und vor 8 Jahren auch den Hoffenheimern gerade in Dortmund entgegenschlug, kann nur verstehen, wer die permanente Strukturschwäche des Ruhrgebiets aus nächster Nähe kennt. Was 1990 Bitterfeld und Halle waren, sind heute Bochum, Duisburg und Umgebung: Orte von einer kafkaesken Tristesse.
Allein Blau-Weiß und Schwarz-Gelb bringen Farbe und sind das Antidepressivum der Region. RB Leipzig steht für zweierlei: erstens den Sieg des Kapitalismus auch auf diesem Feld, was Ohnmachtsreflexe gerade in dieser politisch tiefroten, kulturell schwarz-gelb-blau-weißen, aber eigentlich total grauen Gegend auslöst.
Die Profis dieser Vereine leben meist nicht in Gelsenkirchen oder Dortmund, sondern in Düsseldorf und Herdecke, also möglichst weit entfernt von den Kiezen der Fans. Seit Jahren verdrängt man dort, dass höhere Gehälter gezahlt werden müssen als anderenorts, um Spieler zu halten, ergänzt durch Ausstiegsklauseln, damit die Kicker der vorgeblich wahren Liebe möglichst nicht noch schneller den Rücken kehren in Richtung Madrid oder München.
So leistete ich mir mal den Scherz, zu sagen, dass Borussia Dortmund durchaus 2018 durchaus die Champions-League gewinnen könnte, allerdings in roten Trikots und mit Heimspielen in der Allianz Arena. Hummels, Lewandowski sowie Götze verprellten ihre wahre Liebe. Marco Reus und Aubameyang scheinen auch nicht wirklich Lust auf den Verein zu haben, dessen Fans so treu sind. Die beiden Letztgenannten sind die Garanten des Erfolges, gerade erst sprachen sie von Wechselwünschen, was die Fans tief trifft. Vor diesem Hintergrund muss man die Ausschreitungen sehen.

Fazit

Fußball ist im Kohlenpott mehr, es ist der eigentliche Kult der Gegenwart. Und gerade Menschen, denen es nicht gut geht, bedürfen der Spiritualität und vieler schöner Erzählungen, die RB Leipzig im Hochfrequenz-Tempo dekonstruiert hatte, was eine tiefe Kränkung für die Gläubigen der postmodernen Religion darstellt.

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