Der Tod der Demokratien oder Niemand betritt zweimal dasselbe KZ (Heraklit)

Sackgasse, Foto: Stefan Groß

Timothy Snyder ist bekannt durch seine peniblen historischen wie philosophischen Werke über den Zweiten Weltkrieg im Osten Europas. In diesem Buch beschreibt er das Ende der Demokratie, wie wir sie in den Staaten der Europäischen Union kennen.

Timothy Snyder:

Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika
C.H.Beck: 23. Oktober 2018
ISBN-10: 9783406725012
24,95 € 376 Seiten

Timothy Snyder beschreibt die Geschichte Russlands vom Zarenreich über die Sowjetunion bis Putins gelenkte Demokratie (aut Diktatur). Dann wagt sich der Autor an Aussagen über die Zukunft der jetzigen demokratischen Staaten. Dies ist schwierig, da die Zukunft nicht bekannt ist. Doch obwohl der Autor erst Anfang 2018 dieses Buch beendet hat, sind die Chancen der freien Welt, frei zu bleiben, bereits heute sehr gering. Der genaue Zeitpunkt des Demokratietodes steht noch nicht fest – dass er kommt, ist sicher.

Betrachten wir einige relevante Einzelheiten, die im Buch aufgeführt sind.

Noch vor etwa zehn Jahren sind sich die Menschen der westlichen Welt sicher, dass Kapitalismus und Demokratie alternativlos sind. Nur wenige verantwortungslose, meist westliche Intellektuelle unterstützen den Totalitarismus. Im 21. Jahrhundert gesellt sich eine neue Form der politisch gewollten Verantwortungslosigkeit hinzu: Die Ungleichheit in der Demokratie wird als normal und wünschenswert angesehen.

Noch 2012 betrachtet Putin die Ermordung von Polens Intelligenzija in Katyn als ein schlimmes genozidales Verbrechen. Dann erkennen im Nachhinein Europäer, Amerikaner und schließlich auch Russen den Untergang der Sowjetunion als historisch unausweichlich an. Es entsteht eine geschichtsvergessene Generation. Die Unausweichlichkeit verwandelt Fakten in Narrative. Narrative sind Geschichten, die bestimmten Absichten folgen und die nicht stimmen. Wer an die historische Unausweichlichkeit glaubt, glaubt an die Alternativlosigkeit der menschlichen Geschichte. Ideen haben keinen Einfluss und spielen deshalb keine Rolle mehr. Wenn alle dasselbe denken und fühlen, dann denkt und fühlt niemand. Die Menschen müssen einem Führer folgen, der im Namen Gottes spricht, denn Krieg ist Glaube im Faschismus. Alle Narrative beginnen in der Mystik und endet in der Politik. Das politische Individuum verschwindet.

Die Bürger stabiler demokratischer Staaten lassen den Glaubenswandel zu, da er für sie – im Gegensatz zum Klimawandel – keine Katastrophe darzustellen scheint. In der Demokratie gilt das Prinzip der Nachfolge: Demokratisch gewählte Regierungen folgen auf demokratisch gewählte Regierungen. In der Ewigkeitsdiktatur (s. Russland), der souveränen Demokratie, wird der (göttliche) Herrscher unsterblich. Wladimir Putin ist die Inkarnation Waldemars des Großen, des Großfürsten von Kiew, der die Rus christianisiert hat. Schon daran erkennt der politische Laie, dass Kiew (die Ukraine) russisch ist und auf immer und ewig russisch bleiben muss, gleich welche Unabhängigkeitswünsche die Ukrainer äußern. Kiew muss von Russland unter Putin, der Inkarnation Waldemars des Großen, befreit werden! Denn der demokratische Diktator Putin ist der Erlöser. Wahlen werden rituell.

Die männliche, traditionsbewusste Gesellschaft Russlands wird von einer westlichen, globalen, neoliberalen Verschwörung heimgesucht: die Schwulenbewegung, die das westliche Denken totalitär beherrscht: Wahlen = Westen = Homosexualität! Unter der Führung Putins wird das wahre Russland mit einigen zuverlässigen Freunden die Welt von dieser gottesschändlichen Denkdiktatur befreien.

Russlands Bestand kann eine Weile durch gefälschte Wahlen gesichert werden, doch besser sind Kriege, die der Verteidigung dienen, obwohl Russland nach den Maßstäben der (westlichen) Logik der eigentliche Aggressor ist. So beginnt in Russland der Zweite Weltkrieg erst 1941, im Jahr, in dem die Sowjetunion von den deutschen Faschisten überrollt wird. 1939 ist Stalin noch ein zuverlässiger und begeisterter Bündnispartner Hitlers. 1940 erfolgt auf Stalins Befehl das genozidale polnische Massaker in Katyn. Seit 1941 (bis heute) sind die Feinde Russlands automatisch Faschisten und die Russen die Guten. 2014 wird ein russisches Gesetz erlassen, welches jeden bestraft, der behauptet, dass die Sowjetunion in Polen einmarschiert sei und zwischen 1939 und 1941 Kriegsverbrechen begangen habe. Daran anschließend steigen die Beliebtheitswerte Stalins – nicht die Putins – auf über 50%.

Putins zuverlässige Freunde und weitere nützliche Idioten: 2015 entscheidet die deutsche Bundeskanzlerin Merkel spontan, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen wird als alle seine Nachbarn zusammen, und mehr als es die deutschen Wähler wollen. Am 8. September 2015 präzisiert Merkel die Zahl auf eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr. Am 28. September 2015 schlägt Putin bei einer Ansprache vor den Vereinten Nationen vor, das faschistische Projekt Eurasien mit der damals noch rechtsstaatlichen EU zu harmonisieren. Russland wird Syrien bombardieren, um Flüchtlinge zu produzieren, die eine Panik unter den Europäern schüren werden. Das wird die rechten Parteien der EU stärken und Europa und Russland ähnlicher machen. Seit dem 29. September 2015 bombardiert Russland Syrien. Russland liefert nicht nur Flüchtlinge, sondern zusätzlich die Vorstellung von ihnen als Terroristen und Vergewaltiger, die möglicherweise und teilweise zutrifft.

Der Rechtsstaat hängt von der Überzeugung ab, dass Bürger die Gesetze auch ohne staatliche Zwang befolgen. Sollte trotzdem Zwang notwendig sein, so erfolgt der Zwang im Rechtsstaat unparteiisch. Unparteilichkeit setzt voraus, dass es die Wahrheit gibt. Russland kennt keine menschliche Wahrheiten. Demokratien werden geschwächt, wenn die Menschen einander nicht vertrauen. In der absoluten Skepsis können Journalisten nicht funktionieren. Wenn Europäer und US-Amerikaner sich gegenseitig misstrauen, werden laut Putins Hoffnung die EU und die USA untergehen.

Die britische Zeitung „Guardian“ akzeptiert die russische Lesart: Im Zentrum der Proteste in der Ukraine stehen Nationalisten und Faschisten. Der Mitherausgeber des Guardian wird bald Pressechef des Vorsitzenden der Labour Party Jeremy Corbyn, besser bekannt für seine Russlandliebe und seinen Judenhass. Der damalige Premierminister David Cameron erkennt in Corbyn und nennt ihn und in seine Labour-Partei eine „Gefahr für die nationale Sicherheit“.

Auch Trump gerät in den Dunstkreis Putins. Aus amerikanischer Perspektive ist der Trump Tower ein protziges Gebäude, aus russischer ein attraktiver Standort für das internationale Verbrechen. Ende der 1990er Jahre ist Trump bankrott. Das einzige Geldhaus, dass ihm noch etwas leiht, ist die Deutsche Bank.

Demokratien sterben, wenn die Menschen nicht mehr daran glauben, dass Wahlen etwas bewirken. Nicht das Abhalten von Wahlen ist wichtig, sondern dass die Wahlen frei und fair sind. Die Bedeutung einer demokratischen Wahl liegt in der Gewissheit auf die nächste Wahl, die regelhaft stattfinden wird. Wenn die Wahlen zu einem wiederholten Bestätigungsritual verkommen, verliert die Demokratie ihre Bedeutung.

Da Russland und seine Zivilgesellschaft nicht stärker werden können, müssen die anderen Staaten geschwächt werden. Die einfachste Art, die anderen zu schwächen, ist, sie Russland ähnlich zu machen.

Zu einem Rechtsstaat gehört, dass die Regierung jede Art von Gewalt unter Kontrolle hat und dazu jederzeit in der Lage ist. Große Teile der deutschen Bevölkerung sind nicht davon überzeugt.

Der real existierende Faschismus in Putins Russland ist ein „Schizofaschismus“:

Wissen ergibt nur Wissen und weiter nichts. Ungewissheit gibt Hoffnung, Glauben, Liebe.
Die Macht ist real, nicht die Tatsachen.
Es gibt keine objektive Berichterstattung (RT).
Es ist nicht einfach, sich Lügen zu widersetzen, für die man bereist getötet hat (Krimkrieg).

 

 

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Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.