Formen der Zeit oder: Wo liegen die Ränder des Unglücks

„Den 3. September früh drei Uhr stahl ich mich aus dem Karlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Man merkte wohl, daß ich fort wollte. Ich ließ mich aber nicht hindern, denn es war Zeit.“ Als sich Johann Wolfgang von Goethe unter dem Namen Möller im Jahre 1786 aus dem böhmischen Badeort davonschlich, hatte er vor, seinem Leben eine komplett neue Wendung zu geben. Er reiste nach Italien, um Maler zu werden. Das Resultat dieser „Selbstfindung“: Die gedruckte Form seiner „Italienische Reise“.

Eine Art Selbstfindung bzw. „Wiederzusammenfindung“ soll die geplante „Grand Tour“ auch für die drei Petersens werden. Auf einer kulturellen Reise quer durch Europa möchte das Paar, gemeinsam mit ihrem Sohn, der im kommenden Herbst aus der elterlichen Wohnung ausziehen wird, um künstlerische Fotografie zu studieren, ihren 25 miteinander verbrachten Jahren durch Höhen und Tiefen ein „Sahnehäubchen“ aufsetzen. Doch eine wie beiläufig hingeworfene Trennungsabsicht Connies stellt den Sinn der geplanten Reise in Frage. Trotzdem beschließt das Paar, ihr Unterfangen „durchzuziehen“. Den analytisch denkenden, eher nüchternen Biochemiker Douglas, der sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen kann, rüttelt die Aussage seiner Frau, einer ehemaligen Künstlerin und jetzigen Kunstgeschichtlerin, aus seiner Lethargie. „Und so beschloss ich, es auf keinen Fall so weit kommen zu lassen.“ Er wirkt erstmals dem Stillstand seines vermeintlich eingeschlafenen Ehelebens entgegen und sieht die Planung und Durchführung der „Grand Tour“ als wirkungsvolles Element an, um seine Frau wieder für sich zu gewinnen und letztendlich gemeinsam zueinanderfinden. Auf seine „Agenda“ schreibt er sich zudem, das Verhältnis zu seinem Sohn zu verbessern, der ausschließlich eine starke Bindung zu Connie entwickelt hat.

Monet und Rodin im Pariser Louvre, Rembrandt und van Gogh im Amsterdamer Rijksmuseum, die Münchener Pinakothek, über die Alpen nach Venedig, Verona, „Das letzte Abendmahl“ in Mailand, Botticelli in den Florenzer Uffizien, Rom, Pompeji bis nach Neapel, so die fein ausgearbeiteten Stationen, die ausschließlich mit der Bahn bewältigt werden sollen. Dougs nahezu perfektionistisch ausgearbeitete und künstlerisch auf höchstem Niveau angesiedelte Route durch ausgewählte Städte und deren Museen startet zunächst auch pünktlich und erfolgreich. Doch schon bald laufen vorgeplantes Arrangement und Realität diametral auseinander. Das ursprüngliche Trio scheint wie durch die Kräfte einer imaginären Zentrifuge an unterschiedliche Stellen von Raum und Zeit gedrückt zu werden. Was vielversprechend begann, droht in einem Fiasko zu enden…

Erneut lotet David Nicholls wie schon in seinem wunderbaren „Zwei an einem Tag“ aus dem Jahr 2009 menschliche Charaktere in ihrer ganzen Vielfältigkeit aus. Erwartungen und wie sie das Leben manchmal zunichtemacht, sind die Themen seines Romans. Gehalten in der Ich-Form berichtet Protagonist Douglas Petersen dem Leser von dieser alles andere als vorhersehbaren und auch weniger kulturell anregend und entspannenden, sondern eher chaotisch-konfusen (Ehe)-Bildungsreise. Dabei geht der Text des Autors nicht kontinuierlich und chronologisch vor, sondern schweift immer wieder zu den Anfängen, dem Kennenlernen des Paares ab, zu glücklichen, aber auch tragischen Momenten, zu einzelnen Nebenschauplätzen des mittlerweile eng verwobenen Lebens der Familie. Raffiniert gesetzte unterschiedliche Blickwinkel, eingeflochtene Blitzlichter und Meilensteine sowie Abzweigungen hin zu Connies und auch Douglas' Wurzeln, machen das Buch zu einem Lesevergnügen auf ganzer Strecke. Möchte man einen Vergleich anstreben, so kommt das Lesen vielleicht einem Flanieren durch verlassene Gassen und regennasse Promenaden nahe, über die ein Tuch mit einer seltsam reizvollen Melancholie gelegt wurde. Dieses wurde allerdings an vielen Stellen mit humorvollen Fäden und köstlich burlesken Einsprengseln durchbrochen. Durch Andeutungen und Auslassungen schafft David Nicholls zudem ein stetes Treiben durch den Plot sowie eine enge emotionale Bindung des Lesers an den nicht immer unfehlbaren, aber trotzdem sympathischen Ich-Erzähler. Zudem wartet Nicholls mit einer detailreichen, jedoch keineswegs ausufernden Beschreibung von Schauplätzen auf.

Fazit: Ohne Kitsch und Rührseligkeit, sondern mit viel trockenem englischen Humor und jeder Menge Zeilenwitz erzählt David Nicholls mit schlichten, aber unglaublich lebendigen Worten die Geschichte einer kleinen Familie und ihrem drohenden Auseinanderbrechen. „Drei auf Reisen“ offenbart sich als frohes und zugleich trauriges Buch.

David Nicholls
Drei auf Reisen
Aus dem Englischen von Simone Jakob
Titel der Originalausgabe: Us
Kein & Aber Verlag (September 2014)
539 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3036957014
ISBN-13: 978-3036957012
Preis: 22,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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