Die Lebensthemen Richard von Weizsäckers: Am 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer, besucht Richard von Weizsäcker einen Abendmahl-Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche. Unzählige Menschen aus beiden Teilen der Stadt schieben sich in die Bänke, hocken und stehen in den Gängen. Am Ende der Andacht bittet Landesbischof Martin Kruse den Bundespräsidenten um ein Grußwort.
Wer sich dem Politiker und Menschen Richard von Weizsäcker nähern will, sollte mit dieser kurzen Rede beginnen: „Wie lange haben wir in Berlin gehofft, gemeinsam aus Ost und West einen Gottesdienst feiern zu können … Niemand sollte sich und anderen erlauben, Triumphgefühle aufkommen zu lassen … Wir brauchen Zeit, um unsere Gefühle und Gedanken zu ordnen. Für uns im Westen gilt es, bereit zu sein, mit offenen Herzen und Türen, aber nicht mit unserer Tür drüben ins Haus zu fallen … Unsere Westmark kann helfen, aber sie darf niemand an die Wand drücken …“
Weizsäcker wollte einen anderen Weg zur Einheit der Deutschen
Weizsäcker wollte einen anderen Weg zur Einheit der Deutschen. Er fürchtete, dass die beiden Teile Deutschland nicht zusammenwachsen, sondern zusammenwuchern würden. Innehalten, die Ostdeutschen mit ihren Lebensläufen respektieren, ihnen nichts überstülpen – so äußerte sich Weizsäcker in den Monaten nach dem Mauerfall immer wieder. Helmut Kohl machte es anders, er drängte nach vorn, fasste den Mantel der Geschichte und verband das Ziel der deutschen Einheit mit den Interessen der Großmächte und unserer Nachbarn. Das war Realpolitik – aber ein wenig von Weizsäckers Nachdenklichkeit hätte dem gesamten Prozess vielleicht doch gutgetan und viele der bis heute spürbaren Spannungen und Missverständnisse zwischen Ost und West wären mit geringerer Intensität ausgetragen worden.
Die Überwindung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas war das erste große Lebensthema Weizsäckers.
Die Überwindung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas war das erste große Lebensthema Weizsäckers. Wie wenige andere hat er vor und nach der europäischen Revolution von 1989/90 selbst dazu beitragen können. In gewisser Weise hat er sich immer als gesamtdeutscher Politiker verstanden. In seiner Antrittsrede als Präsident am 1. Juli 1984, in einer Zeit, in der sich die meisten Westdeutschen mit der Teilung dauerhaft abgefunden hatten, wandte er sich explizit an alle Deutschen. Schon in den siebziger und achtziger Jahren sah Weizsäcker die Aufgabe der Deutschlandpolitik nicht in erster Linie in der staatlichen Wiedervereinigung, sondern im Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Er sagte wiederholt: „Die deutsche Frage ist so lange offen, wie das Brandenburger Tor geschlossen ist“. Die Freiheit der Deutschen war für ihn der Kern der Einheitsdebatte. Am 9. September 1982 erklärte er im Bundestag: „Die Teilung ist also, geschichtlich gesehen, mehr als eine Momentaufnahme. Aber wer sie zum Dauerzustand erklärt, hat die geschichtliche Wahrheit wahrscheinlich nicht auf seiner Seite. Die Mitte des Kontinents taugt auf die Dauer für ein Großreich ebenso wenig wie für eine Grenze.“
Weizsäcker war davon überzeugt, dass Erinnerung das eigene Volk nicht belastet, sondern befreit
Das zweite große Lebensthema Weizsäckers war die geschichtliche Einordnung von NS-Diktatur, Holocaust und Weltkrieg. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen hat ihn im In- und Ausland zu einer großen politischen und moralischen Autorität werden lassen. Den Schlüssel dazu bildete Weizsäckers Ansprache am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag, in dem er das Kriegsende vierzig Jahre zuvor als „Tag der Befreiung“ schilderte. Niemals vorher und nachher hat ein Bundespräsident in einer einzigen Rede solche Wirkung entfacht. In ihr verarbeitete er die persönlichen Erfahrungen als Frontsoldat der Wehrmacht, als Verteidiger des Vaters bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen ebenso wie sein Wissen um die weltweit gestellten Fragen nach der Einsichts- und Demokratiefähigkeit der Deutschen, die ihm als Kirchentagspräsident, Abgeordnetem und Regierendem Bürgermeister von Berlin immer wieder begegnet waren. Später bei seinen historischen Staatsbesuchen vor allem in
Israel, Polen, Frankreich, der Sowjetunion, den Niederlanden, aber genauso in Norwegen, Griechenland, Dänemark oder Luxemburg war diese Rede der Eisbrecher. Weizsäcker war davon überzeugt, dass Erinnerung das eigene Volk nicht belastet, sondern befreit.
Warnte vor den Auswüchsen des Parteienstaates
Neben diesen „Lebensthemen“ haben Weizsäcker auch die Themen Demokratie und Parteienstaat, die „Bewahrung der Schöpfung“ und immer wieder die Außen- und Sicherheitspolitik begleitet. Er warnte vor den Auswüchsen des Parteienstaates, erkannte früh die Gefahren des Klimawandels (etwa als er 1988 in Mali die Ausbreitung der Wüsten beklagte) und erinnerte immer wieder an den Harmel-Bericht der NATO von 1967, der Sicherheit als ein Zusammenwirken aus Verteidigungs- und Entspannungsbereitschaft definierte. Der Erfolg seiner Präsidentschaft lag darin, dass er sich der Grenzen der Wirkung dieses Amtes bewusst war, sich deshalb auf wenige, aber klug durchdachte Botschaften konzentrierte. Er wollte Konsens und Zusammenhalt stiften, aber scheute sich nicht vor unbequemen Wahrheiten. Als ich ihm einmal eine Rede für einen Parteitag der CDU geschrieben hatte und ihm voller Stolz über die schönen, Beifall heischenden „Sound Bites“ übergab, tadelte er mich: „Applaus in den eigenen Reihen zu erhalten, ist die leichteste Aufgabe für einen Politiker. Das ist nicht meine Welt. Ich will die Zuhörer zum Nachdenken bringen.“
Dr. Friedbert Pflüger, 1981–1989 Redenschreiber, Büroleiter und Pressesprecher
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Bildquelle: Bundespräsidialamt, Der Bundespräsident